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Nr. Jahrgang

Heilage öes vorwärts

Dienstag, 18. Oktober 1921

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GroMer!m Die Gier nach Gelü. Der Mord an dem Kaufmann Rudolf Engel - mann, der am 23. September v. I. oerübt worden war, bildet den Gegenstand einer Verhandlung, welche gestern unter Vorsitz des Landgerichtsdirektors W a l d m a n n vor dem Schwurgericht des Landgerichts I begann. Die von Staatsanwaltschaftsrat Grau ver- tretene Anklage lautet auf Mord bzw. Anstiftung und richtet sich gegen die Frau Emma Haufe, geb. Brömm, und die Frau Rofolie Schulz, geb. Hohle. Als dritter Täter kommt ein gewisser Walter Liesegang in Frage, der sich angeblich bei der Fremdenlegion befindet. In dem Hause Linienstr. 73 betrieb seit längerer Zeit der 71jährige Kaufmann Rudolf Engelmann ein sogenantez Inkasso- geschäft, d. h. er kauftefaule" Forderungen auf und trieb diese ein. Nebenbei machte er auch Darlehnsgeschäste. Er hatte trotz seines Alters noch einmal geheiratet, seine Frau lebte von ihm getrennt mit dem Eheman der jetzigen Angeklagten Schulz zusammen. Diese wiederum hatte, ohne von ihrem Ehemann geschieden zu sein, sich mit einem Schlächter Paul Schulz verheiratet, der vor dieser Ehe Liebhaber der Frau Engelmann gewesen war. Die Schulz betrieb seit längerer Zeit einen Privatmittagstisch, in welchem sehr Zweifel- Haft« Leute verkehrten, u. a. auch die Angeklagt« Haufe, welche der gewerbsmäßigen Unzucht nachging. In dieser Speisewirtschaft, so bekundet die Haufe in ihrer heutigen Vernehmung, entstand der Plan, sich auf irgendeine Weise in den Besitz von Geld zu setzen. Die Schulz habe wiederholt gesagt, man soll dochirgendeinen reichen Juden vor den Kopf schlagen". In der Weißenburger Straße wohne ein jüdischer Geslügelhöndler, der viel Geld im Hause habe. Aus diesem Plane sei aber nichts geworden. Die Schulz habe nun, fo bekundet die Angeklagte weiter, zuerst den Gedanken gehabt, den alten Engelmann, dessen Lebensgewohnheiten sie genau kannte, ums Leben zu bringen und zu berauben. Am 23. September wurde der Plan tatsächlich auch zur Ausführung gebracht. Nachdem Liesegang dm Engelmann mit einem Hammer erschlagen, habe er dem Toten die Schlüssel aus der Tasche genommen. Man habe jedoch nur 600 M. gefunden, die die Haufe mit Liesegang geteilt habe. In der Unterhaltung mit der Mitangeklagten Schulz habe diese ihr Erstaunen geäußert, daß nur 600 M. gefunden seien. Engelmann habe 60 000 Mark in dem Schreibtisch versteckt und sie hätten nur nictzt genügend gesucht. Es sei, so habe die Schulz erklärt, demStrolch", der schon viele Menschen unglücklich gemacht und sie um ihr Geld betrogen habe, ganz recht, daß er von der Welt weggekommen sei. Von Rechtsanwalt Dr. Frey wird darauf hingewiesen, daß/die Tat durch die Angeklagte Haufe selbst herausgekommen ist, und zwar babe sie in angetrunkenem Zustande einem Manne alles eingestanden. Die Angeklagte erklärt hierzu, daß sie darüber nicht sprechen wolle, da ihr diese Sache zuschenant" fei. Nachdem die beiden Angeklagten vernommen worden, stellt Rechtsanwalt Dr. Frey einen Antrag auf Vertagung, weil wegen Liesegcmg noch ein Auslieferungsverfahren schwebt, also die Möglich- keit besteht, daß auch er noch abgeurteilt werden könne. Das Gericht letzte den Beschluß über eine eventuelle Vertagung bis nach Ver- nehmung des Kriminalkommissars Tegtmeyer und des Ehe- mannes Haufe aus. Der Sachverständige, Medizinalrat Dr. Stoermer�, welcher die Obduktion der Leiche des Engslmann vorgenommen hatte, be- . kündete in feinem Gutachten, daß die an der Leiche festgestellten Verletzungen außerordentlich schwerer Art waren und die Anwen- dvng einer besonders brutalen Gewalt erkennen ließen. Der jetzige ffbemann der Angeklagten H n u l- belastete die Angeklagte Schulz schwer. Diese habe ihn und seine Frau, denen sie mehrmals NaKrunasmittel oeborgt hatte, auf Ennelmann hingewiesen, bei dem viel Geld ni holen sei. Lie'egana habe Lust qebabt. die Sache zu machen. Er. der Zeuge, babe jede Beteiligung rundweg abgelehnt, >-? sei übrigens bei den Gesprächen nichts Hwn einer Mordabsicht, sondern nur von einem Raube gesprochen woWen. Nach geschehener Tat habe seine Frau ihn weinend umhalst und gesagt:Ich bin un- schuldig!", während Lieseganq ihm zugerufen habe:Er ist tot!" Die Sitzung dauert mit der Vernehmung der zahlreichen Zeugen noch fort. Wir werden das Urteil mitteilen. Der Sturm auf öas Vor dem Schwurgericht des Landgerichts I begann unter dem Vorsitz des Landgerichtsdirektors Schmidt-Blanke ein Prozeß wegen Landfriedensbruch und schweren Hausfriedensbruch. An-

geklagt sind der als Rädelsführer angesehene Arbeiter Fritz Achtel» stätter, der Arbeiterrat der Obdachlosen gewesen ist, der Arbeiter Gregor W y r i s ch, der Arbeiter Willi R a d t k e, der Arbeiter Richard G i e r p e n s k i, der Schuhmachergeselle Karl Kreis, der Arbeiter Kurt Werner und der Arbeiter Karl Alles. Es handelt sich um folgende Vorfälle: Im Asyl für Obdachlose war die Ordnung eingeführt worden, daß die Asylisten, die die ihnen gesetzte fünftägige Frist zur Besorgung eines Unterkommens über- schritten, gruppenweise polizeilich verwarnt wurden. Unter den Asylisten herrschte in den Tagen um den 20. September eine gereizte Stimmung: man klagte über das Essen und hatte auch sonst noch verschiedene Beschwerden, namentlich wurde behauptet, daß im Asyl verschiedentlich Mißhandlungen seitens der Aufsichtsbeamten mit Gummiknütteln vorgekommen sein sollen. Diese Mißstimmung unter den Asylisten soll durch Achtelstätter geschürt worden sein. Es kam denn auch schon am 20. Sevtember, als zehn Personen verwarnt werden sollten, zu einem Wlderstandsakt. Am folgenden Tage ver- breitete sich wieder das Gerücht, daß Asylisten durch Aufseher ver- prügelt werden sollten. Es wurde die Parole ausgegeben, sich zu einer Versammlung nach Weihensee zu begeben, an der dann zahl- reiche Obdachlose zusammen mit Erwerbslosen teilnahmen. Achtel- stätter soll hier eine Rede gehalten und u. a. gesagt haben:Es müssen die Aufseheer verprügelt werden, ebenso wie sie verprügell haben." Nach der Versammlung formierte sich ein Demonstrations- zug von ca. 230 Personen, der nach dem Lustgarten gehen sollte, sich unterwegs ständig vergrößerte und dann nach dem Asyl zog. Es kam dann im Asyl zu schweren Gewalttätigkeiten gegen verschiedene Angestellte, von denen einer ins Krankenhaus überführt werden mußte. Erst den zur Hilfe herbeigerufenen Polizeimannschaften ge- lang es, die Ruhe wiederherzustellen. Die Angeklagten bestreiten überwiegend ihre Schuld. Nach dem Gutachten des Medizinalrats Dr. Störmer ist Achtelstätter ein von hohem Selbstgefühl erfüllter, verschwommenen Ideen nach- jagender, sich selbst gern in den Vordergrund drängender Mensch, auf den ß öl StrGB. nicht zutrifft: der Angeklagte G i e r p e n s k i ist minderwertig. Die Beweisaufnahme wird Dienstag fortgesetzt. Versuchtes Attentat auf einen Vorortzug. In der Nacht vom Freitag zum Sonnabend(14./1S. d. Mts.) wurden, nach 12 Uhr nachts acht Eisenbahnschwellen zu einem Stapel auf die Personenzuggleise der Strecke Wustermark-Dallgow- Döberitz quer über die Schienen gelegt. Als gegen 11 Uhr abends der letzte Zug die Gleise befuhr, war das Hindernis noch nicht vor- handen, erst der Führer eines Güterzuges, der mit seinem Zuge das Nebengleise befuhr, bemerkte den Stapel und meldete das Hindernis der nächsten Station, welche die Beseitigung desselben veranlaßte. Trotz der sofort aufgenommenen Nachforschungen fehlt von den Tätern bisher jede Spur. Zur Ermittlung der Täter hat daher die Eisenbahndirektion Berlin eine Belohnung, unter Aus- schluß des Rechtsweges, in Höhe von S000 M. ausgesetzt, die solchen Personen zufällt, die Angaben über die Täter machen können, so daß deren gerichtliche Bestrafung erfolgen kann. Mitteilungen über die Täter, die auf Wunsch vertraulich behandelt werden, nimmt die Eisenbahndirektion Berlin , Schöneberger Ufer 1 4, oder Kriminal­kommissar Dr. Riemann, Polizeipräsidium Berlin, entgegen. Im Anschluß hieran wird mitgeteilt, daß am Sonntagabend gegen WVj Uhr der Vorortzug 446 zwischen den Stationen Karow und Blankenburg mehrmals beschossen wurde, doch ist keiner der Passagiere verletzt worden. Der Täter konnte nicht ermittelt werden. Da die Aufklärung derartiger nichtswürdiger Anschläge an und für sich schwer ist, so tut auch die Bevölkerung gut, den Behörden bei der Ermittlung der Täter nach Kräften behilflich.zu �sein.

Bildung und Wissen dem Volk: Mit dem heutigen Tag haben die Vorlesungen der Sozialisti- scheu Bildungsichule sowohl wie der Volkshöchschule Groß-Berlin, an der gleichfalls eine Anzahl sozialistischer Dozenten tätig sind, bc- gönnen. Die Vorlesungsverzeichnisse zu der ersteren sind im Bureau des Bezirksbildungsausschusses der SPD. , Berlin SW. 68. Linden- straße 3, zu haben, die der letzteren in der Geschäftsstelle Berlin NW. 7, Georgenstr. 34/36. Die Angehörigen, Wähler und Freunde unserer Partei einschließlich der Frauen und Jugendlichen werden gebeten, möglichst diese beiden Volksbildungsinstitute Groß-Berlins in Anspruch zu nehmen, die in weitestgehender Weise allen Bil- dungsbestrebungen gerecht werden. Es werden Kurse über Politik, Volkswirtschaft, Soziales, Kulturgeschichte, Geschichte, Naturwissen- schaften, Kultur, Kunst. Literatur usw. abgehalten. Zn der Sozialistischen Bildungsichule beginnen am Dienstag, den 18. Oktober, folgende Vorlesungen: 1.Geschichte und Philo- sophie, im Zusammenhang mit der kulturellen Entwicklung der Völker"(Dr. B. Engelhardt), von 78� Uhr abends, im Saal der

Juristischen Sprechstunde, Lindenstr. 3. 6 Vorträge. Hörgebühr 6 M. 2.(S. Kreis, Friedrichshain .)Entwicklungsgeschichte des Sozialismus bis zu den Utopisten"(Sekretär Albert Horlitz), in r. Schulaula der Gcmeindeschule Litauer Str., von 7-8)4 Uhr abends. 6 Vortrüge. Hörgebühr 6 M. 3.(7. Kreis Chariotten- burg.)Einführung in Verfassung und Verwaltung von Reich, Staat und Kommune"(Bürgermeister Hirsch), im Sitzungssaal des Charlottenburger Rathauses, Berliner Str. Hörgebllhr ö M. 4.(13. Kreis Tempelhof .)Entwicklungsgeschichte des Sozialismus" (Dr. Max Schütte), von 18% Uhr abends in der Gemeindeschule Friedrich-Wilhelm-, Ecke Wcrderstr. 6 Borträge. Hörgebühr 6 M. S.(16. Kreis Köpenick .)Verfassung in Reich, Staat und Kom- mune"(S. Katzenstein), von 78)4 Uhr abends in der Dorotheen- schuleIn der Freiheit". 6 Vorträge. Hörgebühr 6 M. 6.(18. Kreis Weißensee .)Grundlagen der Wirtschaftsgeschichte" (Dr. Bendiner), von 7 8'A Uhr abends im Physiksaal des Real- gymnasiums, Weißensee , Wölckpromenade. 6 Vorträge. Hörgebühr 6 M. Dauer der Ruhesrisi auf Friedhöfen. Der Ausschuß für das Bestattungswesen teilt mit: Bis �um Erlaß der endgültigen allge- meinen Friedhofsordnung beträgt die Dauer der Ruhefrist für alle erdbestatteten Leichen von Erwachsenen und Kindern über 6 Jahre 2S Jahre und kür Kinder unter 6 Jahren IS Jahre, für sämtliche Aschereste 20 Jahre. Für die Vergebung der Beisetzungsplätze sind fortan diese Zeiten maßgebend. Die neuen Gaspceise. Die Gemeindebehörden haben laut Be- schluß der Stadtverordnetenversammlung vom 13. Oktober 1921 den Gaspreis für das Versorgungsgebiet sämtlicher Gemeindegaswerke, also der ehemaligen Berliner , Charlottenburger, Neuköllner, Lichten- berger, Spandauer , Köpenicker , Tegeler , Wittenauer, Friedrichs- Hagener, Hermsdorfer und Heiligenseer Gaswerke mit Wirkung von der Standaufnahme im Oktober ab einheitlich aus 1,7S M. für dos Kubikmeter festgesetzt. Nora" in der Lankwiher Gemeindchalle. Die Kunst- und Bildungsgemeinde Berlin-Lankwitz unter Leitung des Herrn Ewe berief soeben zur Eröffnung des' Wintersemesters die Getreuen in die Lankwitzer Gemeindchalle. Es war ein voller Erfolg. Verant- wortlich für die Ausführung zeichnete Herr Rudolf Werner. Man muß anerkennen, daß die Regie in bewährten strengen fzänden lag. Schauspielerisch wurde gutes und sehr gutes geleistet. Die über- ragende Säule des Abends war Herr Georg John vom Lessing- theater. Er gab einen Günther, der sich würdig an die besten Leistungen reiht, die bisher inNora" gezeigt wurden. Besonders gefiel der zweite Akt, in dem auch Jutta G r u n e r t durch die Ge- staltungskraft Johns so weit hingerissen wurde, daß eine glaub- würdige Nora erschien. Während sie im ersten Akt noch spröde spielte, steigerte sie chre Leistung nach dem zweiten Akt zu einer respektablen Höhe. Robert Helmer, der Advokat, lag bei seinem Namensvetter Fritz H e l m e r in guten Händen. Dr. C. Tyndall Sab den Rückenmarkschwindsüchtigen Dr. Ranke schmerzlich, er- hütternd. Eveline S a l m o hätte man lieber als Frau Linden ge- sehen, denn sie zeigte in der kurzen Szene des zweiten Aktes als Marianne viel Können. Wirklich schade, daß sie nur diese Neben- rolle spielte. Bravo , ihr Lankwitzer!Glück auf zur neuen Tat" und laßt euch das gute Werk nicht durch reaktionäre Schikane ver- drießen. Ein Riesenbrand brach am Sonntagmittag um Ii 12 Uhr in der Dachpappenfabrik von Bischer u. Hoffmann in Eberswalde aus, zu dessen Bekämpfung 12 Wehren hinzugezogen werden mußten. Das Feuer war bis Montag abend noch nicht gelöscht. Durch die starke Rauchentwicklung haben Mehrere Feuerwehrleute gelitten. Der Schaden, der ca. zwei Millionen Mark beträgt, ist durch Versichs- rung gedeckt. Wcihnachtsausstellung der Berliner Gewerkschastskommifsion. Schon vor dem Kriege wurden Weihnachtsausstellungen im Ge- werkschaftshaus veranstaltet Der Gedanke wird jetzt wieder auf- genommen. Demgemäß wird die Ausstellung vom 11. bis 24. De- zember ihre Pforten öffnen. Ausstellungsräume sind die Säle 1 bis 3 des Gewerkschaftshauses. In erster Linie ist an Wissenschaft- liche, sozialistische und schöngeistige Bücher für Erwachsene sowie an gute Literatur für die heranwachsende Generation gedacht. Jugendschriften und Spielwaren für die Kleinen sollen nicht fehlen. Künstlerischer Wandschmuck und gute Tonwaren ergänzen die Aus- stellung. Die drei sozialistischen ' Verlage bringen der Ausstellung großes Interesse entgegen und haben sich bereit erklärt, das Büchermaterial zu liefern. Die Ausstellung ist nicht nur gedacht, der Arbeiterschaft gutes Material preiswert zukommen zu lassen, sondern soll darüber hinaus kulturell erzieherisch wirken. Der Aus- schuß der Berliner Gewerkschaftskommission hat dem Plan seine Zustimmung gegeben.

80s

5räu!ein.

Von Paul Enderling . Es mußte doch gleich Zeit zur Abfahrt sein. Sie hotte ja schon eine Ewigkeit diese Fahrpläne geleien. Aber als sie nach der Uhr sah, bemerkte sie, daß sie erst drei Minuten hier auf und ab gegangen war. In den Wartesaal zu gehen, wagte sie nicht. Sie sah nur einen Augenblick scheu durch die Glasscheibe. Es wer ziemlich leer. Nur in der Mitte an der künstlichen Palme saß van Steen Kohlenkausmann van Steen aus der Roeper- gaste mit einem Geschäftsfreund. Nein, hinein konnte sie nicht. Mit einem Male war die Halle belebt: von den Treppen, die von den Bahnsteigen herabführten, eilten Menschen, die in die Stadt zurückkamen. Draußen hörte man Wagen und Autos heranfahren, Peitschenknallen und das Heulen von AutoHupen. Reisende drängten in die Halle. Dienstmänner kamen mit Koffern auf den Schultern. Und jetzt jetzt wurde auch der Schalter geössnet Langsam ging Thea darauf zu. Aber merkwürdig: Jetzt. wo sie so weit war, den letzten, den allerletzten Schritt zu tun, schien ihr die Kraft zu versagen. Es war nur gut. daß sich die Abreisenden sammelten und sie vor sk!>'v-'ugten. Sie wankte und schwankte. Aber einmal eingekeilt in die Reihe der Wartenden, fand sie keinen Ausweg mehr. Warum bin ich jetzt so voll Angst? fragte sie sich selber: ich brauche nur das Geld hinzulegen und das Billett nach Berlin zu verlangen. Der Beamte wird nicht einmal mein Gesicht sehen Was ist denn nur mit mir? Sie zählte ab: Sechs standen vor ihr jetzt nur noch fünf. Da gab es einen ungebührlichen Aufenthalt. Am'chei- nend war eine größere Banknote zu wechseln oder em Schein auszufüllen. Der Schalterbeamte brauchte erregte Worte: der Reisende, ein kleiner, schwarzer Herr mit einem Kneifer, war außer sich und schrie in stark polnischem Akzent überdiese Wirrtschaft". Die anderen schalten über den Aufenthalt:Der Zug wird uns vor der Nase wegfahren!" Nun war der kleine, schwarze Herr weggedrängt. Er suchte kreischend den Bahnhofvorstandzurr Beschwerrde". Zwei standen noch vor Thea,

Da faßte jemand Theas Arm.Sind Sie es wirklich?" Fräulein Thea?" Thea sah erschrocken auf. Fräulein stand vor ihr. Fräulein war eben mit dem Nachtzug von Neufahrwasser gekommen und durch den Auftritt am Schalter aufmerksam geworden. Ein Blick auf Theas bleiches, durchstürmtes Ge- ficht lehrte sie alles: Thea wollte fort. Sie blickte auf den Schalter. Es gab keine Zeit zu ver- lieren.Einen Augenblick, Fräulein Thea." Und sie führte Thea, die viel zu müde, viel zu müde zum Widerstande war. aus der Reihe.Sie können doch unmöglich mit dem Nacht- zug fahren." Sie mußte irgendeinen Grund sagen. Sie sprach wie zu einem Kind, das die Kristallvase haben möchte und nicht haben darf.Das geht doch nicht. Das ist doch nichts für Sie. Sie kommen ja kaput in Berlin an." Woher wissen Sie, daß ich nach Berlin will?" fragte Thea mißtrauisch. Ja, wo wollten Sie sonst hin? Warum suchten Sie wohl sonst heute im Kursbuch den Nachtzug?" Und Sie wo kommen Sie her?" Von Neufahrwasser." Ja, ja, ich weiß--" Berstört sah Thea um sich Sie war wieder in dem Seitengang bei den gelben Fahrplänen. Sie spürte, wie Fräulein sie führte, und war halb zufrieden damit, nicht länger den eigenen Willen durchsetzen zu müssen, halb empörte sie sich dagegen, daß ihr Plan nun durchkreuzt wurde. Nock) einmal raffte sie sich auf.Ich werde gar kein Billett mehr bekommen... kein Billett mehr... Ich kann doch nicht ohne Billett fabren..." Fräulein hielt ihren Arm fest.Sie können ja morgen am Tage fahren. Das eilt ja gar nicht. Sie fahren mittags und find abends da. das ist doch viel bequemer." Nur Zeit gewinnen, dachte Fräulein: das ist alles. Morgen tut sie es doch nicht. Die Helligkeit des Tages verjagt alle diese Nacht- gesvenster. Sie kannte Theas flatternde Seele bester als jeder andere. Wenn ich sie jetzt loslasse, geht sie zugrunde..- Wie konnte man sie nur fortlassen?... Sie kennt ja nichts von der Welt... Sie'darf aber nicht untergehen... Und Fräulein empfand wiederum ein tiefes mütterliches Gefühl der Verantwortung für das junge Mädchen. Am Uebsten hätte, sie sie in die Arme genommen und geküßt. Wie schwach sie war,.wie Haltlos und Hllflosl___,;

Als sie auf die Bahnhofsuhr sahen, waren nur noch wenige Minuten bis zur Abfahrt des Schnellzugs. In diesem Augenblick entzog sich Thea ihr.Ich muß fort, Fräulein," sagte sie, sie fest anblickend.Ich will mich nicht lächerlich machen, jetzt, wo ich alles hinter mir aufgegeben habe." Das hatte Fräulein am meisten gefürchtet. Gegen dieses Argument war nicht mit Gründen anzukämpfen. Sie änderte ihre Taktik. Sie durfte sie ja nicht fortlasten: ihr Lebtag hätte die Schuld sie gedrückt... Ich weiß, wohin Sie wollen," sagte sie schnell und rang sich doch jedes Wort ab.Ich weiß, zu wem Sie wollen. Aber tun Sie es nicht, um Ihrer Selbstachtung willen! Er er liebt Sie nicht," vollendete sie leise, und ihr Gesicht stand in Glut. Woher wissen Sie das?" Fräulein senkte den Kopf. Lothar hatte nie von seiner Liebe zu ihr gesprochen. Aber sie dachte an seinen Händedruck beim Abschied und an seine halbverschleierten Worte:Wir sehen uns wieder, wenn ich etwas bin. Vergessen Sie mich nicht!" Und sie sagte fest:Ich weiß es." Thea stützte sich schwer gegen die Wand. Sie fühlte sich müde zum Umsinken.Ich habe es mir gedacht," sagte sie tonlos,aber kann ich denn noch zurück?" Warum nicht?" Onkel Otto weiß alles." O. er ist gut. Er schweigt." Und wenn sie, die anderen, schon wissen?" Fräulein blickte sie groß an.Dann nehme ich alles auf mich." Aber wie nur?" Das wird sich schon irgendwie finden." Nun waren sie auf dem dunklen Babnhofsplatz, über dem ein paar elektrische Monde schwebten. Da erst begriff Thea, was Fräulein gesagt hatte.Sie wollten das für mich tun? für mich? Verzeihen Sie!" Ich habe doch nichts zu verzeihen, Fräulein Thea." Sie haben mir viel zu verzeihen. Viel mehr, als Sie glauben." Fräulein weckte einen Kutscher, der auf seinem Sitz ein» geschlafen war. Er sah verwundert auf die beiden Domen. Wohin, Madamchen?" Nach der. TobiasgajseZ4- _'.:...../ K°rtsi si-lgt�.