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Nr. 533 38.Jahrgang

Beilage des Vorwärts

Der Fortgang des Reigen"-Prozesses

Dr. Brunner als Zeuge.

In der Berhandlung fand zunächst die weitere Vernehmung der Reugin, Frau Gertrud Gerfen- Leitgabel, statt. Den Anfang der Bernehmung hatten wir bereits im Abendblait veröffentlicht. Frau Leitgabel erklärte, daß auch die dezenteste und fünstlerisch voll endeiste Darstellung des Schauspielers den Schmutz und die Ge­meinheit, die in dem Inhalt des Stückes selbst liege, abzumildern und zu entfräftigen nicht geeignet sei. Es werden zehn Frauen, verheiratete und unverheiratete, gezeigt, die sich auf das schamloseste prostituieren und sich Männern hingeben, die sie nicht einmal dem Namen nach fennen. Nach jedem Aft wendet sich der Mann mit einer zynischen Brutalität von dem Weibe, das sich ihm hingegeben hat, ab und stößt es von sich. Die Jugend muß durch dieses Stüd schweren moralischen Schaden erleiden, da sie innerlich noch nicht genügend gefestigt fei, um zu erkennen, daß das Gezeigte nicht das Leben" sei, sondern Abgründe des Lebens. In dem ganzen Stück wird die Proffitution ganz anders dargestellt, als sie in Wirklichkeit ist. Junge Menschen müssen den Eindrud gewinnen, daß die Prostitu­tion wirklich nichts besonders Schlechtes ist. Wenn dies in der heutigen Zeit, wo unser Bost nur durch eine fittliche Feftigung wieder ge­funden kann, geschieht, so muß jeder normal empfindende Mensch, der diese zu Schau gebrachte grundlose Gemeinheit und unbeschreibliche Brutalität sieht, startes Merger­nis an dem Stück nehmen.

Auf eine Frage des Verteidigers, Rechtsanwalts Wolfgang Heine , erklärt die Zeugin, fie habe das Stüd am Sonntag zum ersten Male gesehen. Es sei ihr bekannt, daß der Professor Brunner hinter der ganzen Bewegung stehe.

Die Zeugen Arnold und Kapellmeister Selmar Meyro wih sagen für das Stück günstig aus. Zeuge Meyrowik meint: Was die Musik anbetreffe, so fönne man mit demselben Recht fagen, daß irgendein Stüd aus der Kulladschen Klavierschule auch unzüchtig wirfe.

Freitag, 11. November 1921

persönliche Angriffe gegen Rechtsanwalt Heine. R.- Anw. Heine: Die Invettiven gegen mich seien Ihnen ge schenkt. Ich werde mich noch an anderer Stelle mit dem Herrn Professor Brunner deswegen aus. einandersehen. Auf weitere Fragen des R.- Anw. Heine erklärt Zeuge Brunner, daß er der Organisation des Kampfes gegen den Reigen" völlig fernstehe. Der eigentliche Imperator dieses Kampfes sei der Schriftsteller Schlaikjer. Professor Brunner legt fodann in längeren Ausführungen dar, daß er nicht der Ur­heber der Anzeige gegen die jezigen Angeklagten gewesen sei. Von der Lebiusschen Protestversammlung habe er zwar Kenntnis ge habt, aber sich weder billigend noch mißbilligend über diese Bera fammlung ausgedrückt. Er sei auch durchaus nicht ein enragierter Antisemit, als welchen man ihn darstellen möchte und verabscheue alle Standalszenen.

Zeuge Friedländer , Inspizient des Theaters, bestätigt auf Vorhalt des R.- Anw. Heine, daß seitens der Direktion die ftriftefte Anweisung ergangen fei, die Borstellung unter allen Umständen fo Der Zeuge, Repetitor Förstemann, betundet, daß er an dezent wie nur irgend möglich zu gestalten. Zeuge Kein del weist fänglich auch gegen das Stück gewesen sei, dann aber im Laufe der auf das nochdrücklichste darauf hin, daß in allen Vorstellungen Aufführung zu der Ueberzeugung gekommen sei, daß hier seitens der Regie auf Wahrung der höchsten Dezenz Gewicht gelegt fiefe psychologische Momente wurde. Der Verteidiger, Justizrat Dr. Rosenberg betont: Es handle sich in Wirtlichkeit gar nicht um einen Kampf gegen den " Reigen", sondern gegen die Juden. Man habe den Reigen" nur benutzt, um in dieser Form eine

antisemitische Uffion

ms Wert zu sehen. Der Zeuge Friedländer erklärt hierzu: Bei dem Standal am 22. Februar feien Rufe faut geworden wie Sau­jude"," Bande", Gefindel", Judenbirektor"," Die Juden müßte man rausschmeißen" usw. usw. Nach dem 23. Februar sei Direktor Gladet mit anonymen Schmähbriefen, Pamphleten des befannten Knüppel- Kunze usw. überschüttet worden, die sämtlich antisemitischen Inhalt hatten. Nirgend in diesen Schmäh'chriften und offenen Bost­farten sei von Gefährdung der Jugend oder dergleichen die Rede, sondern nur von Judenhaß.

hineinspielen. Nachdem er dies erkannt habe, habe er nicht mehr die Empfindung gehabt, etwas Unzüchtiges zu fehen. Auch zwei junge, unverheiratete Damen, welche sich auf seine Veranlassung das Stüd angesehen hatten, hätten ihm erklärt, daß sie den Rei gen" nicht für anstößig hielten.

Die eine Dame erklärte wörtlich: Ich war erschüttert." Die Zweite: Schmutz und Gemeinheit ist da nicht drin." Ein Herr dagegen äußerte: Wenn ich gewußt hätte, daß da weiter nichts drin ist, hätte ich die 40 M. gespart und mit dem Gelde das felbe wie auf der Bühne gemacht."

Der Bantinspektor Klaus vom Polizeipräsidium hat von disem die Eintrittskarten bekommen und an dem Stück ergernis genom men. Der Zeuge Mechanifer Westerling befundet unter leiser Heiterkeit des Auditoriums, daß er an dem Stüd nicht nur keinen Anstoß genommen, sondern im Gegenteil es sogar sehr lang meilig gefunden habe. Die Ehefrau des Zeugen hat ebenfalls das Stück fehr langweilig gefunden, muß jedoch auf die 15jährigen Tochter oder ihrer jüngeren Schwester die Reigen- Auf­Frage des Staatsanwalts von Bradle zugeben, daß sie mit einer führung nicht besuchen würde. Der

Reuge Landgerichtsrat Jenne vom Landgericht I hat einer Sacho. Hirsch: Frau Reugin, Sie haben gesagt, daß die Eindruck gehabt, daß die gesamte Aufmachung des Stückes eine Aufführung des Reigen" am 21. Februar beigewohnt. Er hat den Jugend Schaden an ihrem Seelenleben nehmen würde. Halten Sie arobunzüchtice fei. Er wohne mit Prof. Brunner in es für möglich, daß gerade jemand mit seinen Kindern hingeht, Lichterfelde nicht weit voneinander und arbeite mit ihm zu um sie zu stählen in dem Kampf gegen Unfittlichkeit und Schmuk. sammen auf allen möglichen Gebieten. Prof. Brunner hobe nicht Reugin: Das fann ich mir nicht denken, dazu gibt es doch andere den Versuch gemacht, ihn zu einer Agitation gegen das Stück zu Mittel. Das Stüd muß in dem jugendlichen Menschen schlum- oeminnen. Er habe freiwillig von sich aus fich zur Verfügung ge Berwaltungsdirektor der Boltsbühne marnden Leidenschaften wecken. Auf eine Anfrage des Sachverstellt. Auker der Darstellung habe er auch die Musik mit ihrer hat den Eindrud gehabt, daß er einer fünstlerischen Borstellung bei ftändigen Dr. Osborne, ob es nicht möglich sei, daß, weil fämtliche füklichen Melodie und ausgeprägter Sinnlichkeit als ein raffiniertes gewohnt habe; die Borstellung sei so distret gewesen, daß sie eigent Szenen mit einer gewissen Ernüchterung enden, dies nicht auch auf Mittel empfunden, um in der Vorstellung die Ruhörer mit den lich beinahe dem Werte nicht ganz gerecht wurde. die Jugend moralisch abschreckend wirken könne, erwidert die Zeugin: nicht sichtbaren Dingen zu verbinden. Auf Befragen der Bertei- Direktor Felir Holländer vom Deutschen Theater, als Zeuge Ich habe das Gefühl der Ernüchterung in dem Süd stets nur auf biger erklärt der Zeuoe: Er gehöre dem Deutsch - völkischen und Sachverständiger vernommen, befundet: Das Stüd Reigen" Seiten des Mannes feststellen können. Ein junger Mensch muß dabei zu der Ansicht kommen, daß es üblich ist, der Mann genießt deutschnationalen Bartei für den Reichstag gewesen. Schuk und Trukbund an und fei Kandidat der habe in feiner Weise irgendwie sein Echamgefühl verletzt. Der und gibt dann derjenigen, die sich ihm hingegeben hat, einen Fuß­ Reigen" fei seinerzeit von Direktor Mar Reinhard angenommen Der Zeuge Landgerichtsrat Jenne erflärt noch nach einigen tritt. Er muß den Eindruck bekommen, daß es erlaubt sei, sich jeder Fragen des Dr. Alfred Kerr , daß er die schädliche Auswirkung des worden; das Stück ist dann aber auf Grund der zwischen dem Konzern der Reinhardbühnen und dem Kleinen Schauspielhaus be­Sachverst. Dr. Ludwig Fulda : Sie haben gefagt, daß gezeigt" Reigens" hauptsächlich darin erblicke, daß stehenden Interessengemeinschaft dem letzteren überlassen worden. Der ,, Reigen" ist absolut ein sehr großes Kunstwert, das er immer als solches anertennen werde. Die Darstellung sei auch durchaus dezent. Sachverst. Ludwig Fulda , vereidigter Sach verständiger für dramatische Literatur an den drei Landgerichten, habe auf der Genera probe den überraschenden Eindrud gehabt. mie dieses Werk in absolut einwandfreier Weise auf der Bühne verförpert werden konnte. Irgendwelche Bedenken fittlicher Art würden durch das, was dargestellt werden konnte, nicht entstehen.

Fran, auch der verheirateten, zu nähern.

wird. daß der Mann die Frou, nachdem er sich ihr genähert hat, fortstößt. Muk da nicht auch gerade ein junges Mädchen erfen­nen, daß ein Mann, der nur aus finnlicher Luft ein Mädchen be­gehrt, nochdem er sein Ziel erreicht hat. sich von ihr abwendet? Ein junges Mädchen kann das doch nicht für anreizend halten, sondern muß es für widerlich halten? 3eugin: Das ist richtig. Es ist aber ein großer Unterschied. Wenn

ein Jungfrauenverein mit fiftlich gefestigtem Charakter das Stüd sehen würde, so würde das Stück auf diese jungen Mäd­chen diefelbe Wirkung ausüben, die es auf mich gemacht hat. Wenn danegen Großstadtmädchen, die durch mangelnde Erziehung und flechten Umgang ein gewisses schwankendes Seelenleben haben und sich durch Verführungen leicht beeinflussen lassen, etwas Der artires fehen, fo glaube ich nicht, daß eine abschreckende Wirkung in die Erscheinung tritt.

Auf eine Anfrage des Sachverständigen Holländer erklärt die Zeugin: Es ist mir bekannt, daß z. B. Shakespeare den Geschlechtsatt auf die Bühne gebracht hat. Ebenso andere Künstler. Aber in diesen Fällen handelt es fich doch stets um wirkliche echte Liebe und nicht nur um das rohe, brutale Treiben des Mannes. Mir ist auch die bildliche Darstellung befannt, z. B. Leda mit dem Schwan" u. a. Hierbei handelt es sich doch aber stets um eine rein fünstlerisch dezente Wiedergabe jenes Morgenges, welche mit der brutal- finnlichen Wiedergabe im Reinen" in feiner Weise identisch ist. Angefl. Direktor Slade f: Ich stehe hier mit grollendem Empfinden, wenn ich höre, daß die Beugin monatelang den Kampf gegen den Reigen" geführt hat, ohne ihn gesehen zu haben und erst gewartet hat, bis sie in der gerichtlichen Aufführung das Stück fennenlernen fonnte.

51]

Fräulein.

Ron Paul Enderling.

das Stück gerade in der heutigen Zeit des fifflichen Verfalls gegeben worden sei, in einer Zeit, in der die Nerven der Men­fchen durch Krieg und Revolution schon genug aufgepeitscht seien und die Gefahr der völligen fittlichen Verwahrlosung vorliege. Auf verschiedene Fragen der Sachverständigen Holländer und Ro­biti chef schränkt der Zeuge seine Ansicht bezüglich der Unzüchtig­keit der Musik dahin ein, daß er die Musik an sich nicht unzüchtig finde, sondern lediglich die Einschaltung der Musit an einer Stelle, wo die Sinne auf das äußerste erregt sind und jeder empfindet, dak während der Musik der Geschlechtsaft hinter dem Vorhang vor fich geht.. Hierauf wird

503900

stelo do the

Profeffor Dr. Brunner als 3euge vernommen. Er befundet, daß er an der Organisation des Theater­standals am 22. Februar in feiner Weise beteiligt fet. Ebenso sei es nicht richtig, daß er die Vorstellung am Sonntag vor zeitig verlassen habe, da er sich etwas Derartiges" nicht mit ansehen fönne. Er habe den Eindruck, daß man ihn zu Falle bringen wolle. Es sei völlig unrichtig, wenn die Verteidigung hier behaupte, daß er der Organisator des aanzen Kampfes gegen den Reigen" fei. Im Gegenteil, er halte sich fern von jeglichen tätlichen Versehen in den Theatern und Kinos. Auf eine Frage des Rechtsanwalts Heine, ob er als Beamter des Bolizeipräsidiums sich nicht für verpflichtet gehalten habe, seiner Behörde dienstliche Anzeige zu erstatten, als er von seinem Sohne hörte, daß im Theater Skandalizenen pro­voziert werden sollten, erklärt Zeuge in höchster Erregung, daß er fich zu einer derartigen Denunziation auf Grund von Mitteilungen innerhalb seiner Familie niemals hergegeben hätte und richtet dabei verschiedene rein

glaublich aussahen. Dann sprach der Direktor, und sie sangen Das Integer vitae".

Ein feiner, falter Regen setzte ein.

" Sieh nur. Fräulein weint auch," sagte Tante Tine. " Ja, wahrhaftig. Wer hätte das gedacht?" Dann lauschten sie wieder andächtig dem Gesang.

Nun wurde der Sarg in die Tiefe gesenkt, und die Erd­schollen follerten herunter. Die Feier war aus.

Die Herren spannten die Schirme auf, traten zu der Fa­milie und sprachen einige Worte und gingen gann quer über die große Allee hinüber zur Elektrischen.

Groß- Berlin

Einführung der neuen Stadtverordneten. Die am 16. Oftober d. I. neugewählten Stadtverordneten wur den heute, Donnerstag, den 10. November, feierlich in ihr Ehrenamt eingeführt. Bollzählig hatten sie sich im Sizungsfaale eingefunden. Um 26 Uhr nahm Oberbürgermeister Bös von seinem Platz am Magistratstische aus das Wort zu folgender Ansprache:

Hochgeehrte Damen und Herren!

Die ersten Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung des neuen Berlin haben am 20. Juni 1920 stattgefunden. Sie wurden infolge Einspruchs durch Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom 16. Juni 1921, also ungefähr ein Jahr später, für ungültig erklärt. Die Wahlen vom 16. Oftober haben Sie, meine Damen und Herren, durch das Bertrauen der Bürgerschaft in diesen schönen, durch die geschichte

3erfette Fahnen.

Tante Tine fochte Kaffee für sich, Fräulein und Eva. Ein­mal im Jahre lud Tante Tine Besuch zu sich ein. Und da die Berwandten unter allerlei Vorwänden abfagten, hatte sie dies= mal Fräulein und Eva geladen. Frau Görfe hatte Fräulein fehr zugeredet. Es ist doch eine nette Abwechslung für Sie..."

Aus dem Schlafzimmer hörte man eifriges Hacken und Hämmern, wie aus einem Bergwert. Da hieb Tante Tine Stücke von ihrem heiligen Zuckerhut ab, den kein anderer be­rühren durfte. Fräulein hatte sich angeboten, ihr zu helfen, aber sie hatte nur einen entrüsteten Blid geerntet.

Fräulein lachte nicht über den Kaffee und den Zuder. Bum ersten Male lachte sie nicht darüber.

Da waren sie alle: der kleine Direktor mit dem Napoleons­topf und den flugen, scharfen Augen, der baumlange Geo­graphielehrer. der Religionslehrer mit der fröhlich funkelnden Nafe, dann Lämmergeier ", der zerstreut und maßlos verlegen ouf seinen einwärts gestellten Füßen hin und her trampelte und den Zeigefinger um den Hals freisen ließ; und Professor Mastow, der Mathematiker, der gedankenvoll vor sich hinsah, ais dächte er noch immer über den Fermatschen Sah nach, und sich die Hände wusch. Gardner stand gerade. Er stand ge­missermaßen stramm vor dem lieben Gott Gehen wir nachher zu Rodenader?" fragte Mastow Frau Görte überblickte ängstlich die Zahl der Gäfte. harmlos. Gardner runzelte die Stirn und verwies ihm das Unziem- Blöglich fagte fie mit einem Rud: Fräulein, Sie fahren wohl liche seiner Frage. Mastow ging achfelzudend ein paar Schritte am besten nach Hause. Wir bringen die Kinder dann schon gewesen, war fein Licht mehr auf sie gefallen. Und sie brauchte

feitwärts. Na also," sagte er.

.

Und das Testament soll erst im Oktober geöffnet wer­den," flüsterte Julius Görfe.

Weißt du's genau?"

" Ja, Ich war schon beim Notar Dolldorf. Er wollte mich nicht Einblick nehmen lassen. Er sagt. es sei ungefeßlich." Im Oktober?" fragte Frau Görfe noch einmal.

"

" Am zweiundzwanzigsten," sagte Görke leise.

Der Sarg schwankte heran. Der Konsistorialrat begann zu sprechen. Die Tanten weinten laut und andauernd. Aber Tante Berta hatte das mit dem Testament doch gehört, und sie flüsterte es Tinen zu. Die war schlecht auf den Verstorbenen zu sprechen. Im Grunde verzieh sie ihm auch heute noch nicht die Sache mit der Dame ohne Unterleib. Ein Sonderling ist er immer gewesen," hauchte sie.

Und nach einer Viertelstunde wußte es faft die ganze Trauerversammlung, daß der Oberlehrer ein Testament ge macht und daß es am zweiundzwanzigsten Oktober eröffnet werden follte.

Der Konsistorialrat war ein großer, stämmiger Mann. Er sprach kräftig und ernst von den treuen Statthaltern".

Die Schüler schielten zu ihren Lehrern hinüber und fon­statierten mit Befriedigung, daß die Philister" wieder un­

Julius Görke sagte:" Ich glaube, eine Tasse heißer Kaffee wird notwendig sein, wenn wir feine Erkältung bekommen wollen." Und er lud die Tanten ein, in die nahe Konditorei mitzukommen.

"

Gewiß, gewiß."

Tante Tinchen hielt Fräulein noch einmal feft. Die war die einzige, die das mit dem Testament vielleicht noch nicht wußte." Denken Sie, im Oktober soll es erst geöffnet werden."

Am wievielten?" fragte Fräulein gedankenlos. " Am zweiundzwanzigsten." Und sie folgte eifrig Görkes, die schon in die Glasveranda der Konditorei traten.

Wie sonderbar, dachte Fräulein; am zweiundzwanzigsten, wo mein Geburtstag ist

Als alle ihren Blicken entschwunden waren, machte fie nochmals Kehrt und ging zu dem verlassenen Grabe zurück. Die Kränze lagen umher, die schwarzen Schleifen im nassen Sand. Die blanken Goldbuchstaben und die bunten Blumen starrten grell in das Grau des Regentages.

"

,, Ade!" sagte sie leise, als wolle sie den Schlafenden nicht stören. Du bist immer gut gewesen. Gott wird auch gut zu dir fein Der Regen rieselte dicht und talt und pridelte auf dem Gesicht. Fräulein betete still.

fie

Die Totengräber famen wieder. Fräulein ging. Sie ging langfam, trotz des Regens, der allmählich durchnäßte.

Bon nun an war sie hier allein. Nun erst war sie allein...

Sie lehnte sich in die Sofaecke zurück, in die sie gedrängt worden war, und sah Eva zu, die mit einer riesigen Puppe. aus Tante Tines fernen Kinderjahren spielte. Sie war müde. Sie war jegt immer müde. Seit den wenigen Tagen, da Ingenieur Franzius da­das sosie brauchte das so. Wie hatte sie gelacht im dunklen Rind geworden. Nun war er fort, und von Lothar hörte fie Ratskeller! Der stille, einsame Mann war vergnügt wie ein nichts. Würde sie je wieder so lachen können?

Lothar kämpfte mit beiden Fäusten für sich und sie. Er arbeitete Tage und Nächte für sich und fie. Sie wußte es nun. Aber wie schlimm war es doch, daß sie nicht bei ihm sein konnte.

einmal aus dem wohltätigen Gleichschritt herausgekommen Das Leben lag mit jedem Tage schwerer auf ihr. Seit sie war, tam sie nicht mehr hinein.

Wie schön war das Leben... Wie schmerzvoll war das Leben...

Nun lag der Oberlehrer unter der Erde, und rings um fich hörte sie kein Wort der Liebe für den einen alten Mann. Görfes zerbrachen sich nur die Köpfe, was mit seinen Möbeln geschehen solle. Julius Görfe war dafür, sie Thea zu geben; aber Thea sah darin nur eine Tücke des Vaters, der sich um neue Möbel für die Aussteuer drücken wolle. Die schönen alten Möbel standen frierend in den einsam gewordenen Zimmern wie in Furcht vor dem Ausgestoßenwerden. Wäre nicht noch das Warten auf das Testament gewesen, man hätte sie schon längst hinausgetragen. Und ihr Herr lag draußen auf dem Friedhof, verlassen, wie er in seinem ganzen Leben gewesen war. ( Forts. folgt.)