Nr. 539 ♦ ZS.Iahrgaag
Heilage öes vorwärts
Dienstag, 75. November 7921
Raubtiere in öer Großstaüt. Dressurkünste.— Wie sie leben und arbeite».
Man weiß aus dem Berliner Zoo, daß er seinen Pfleglingen lediglich drei Pflichten auferlegt: das Fressen, das Schlafen und das Sichbeguckenlaffen. Sie führen, fo will es dem Besucher scheinen, hinter ihren Gefängnisgittern ein beschauliches Dasein. Man freut sich, wenn sie nur erhalten bleiben und möchte sie sozusagen am liebsten für die Ewigkeit konservieren. Welch ein Leben von Mühen und Arbeit— und noch dazu meist widerwillig geleisteter Arbeit— führen dagegen die Tiere, die zurzeit in der Hagenbeck-Schau in der Potsdamer Straße Abend für Abend in der Manege ihre engelernten Kunststücke einem schaulustigen Publikum zeigen. 3a öer Manege. Unter Peitschenknall und Pistolenschüssen eilen Löwen in die umgitterte Manege und noch einigen Wendungen besteigt jeder der Herrschaften seinen kleinen, hölzernen, mit Farben buntbemalten Thron. Wie sie mit Zähnen fletschen, ein heiseres Brüllen ausstoßen und jede Bewegung ihres Meisters verfolgen, der, mit Peitsche und Revolver bewehrt, sie mit harten Augen im Schach hält. Im Bogen schleichen sie, geduckt und gar nicht königlich, um den Dompteur, der sie mit Blicken verfolgt, auf ihre Plätze. Ganz lang- sam und wohlüberlegt sind alle Bewegungen des Dompteurs. Wäre er heftig oder gar tölpelhaft, würde der Bann seiner Herrschaft ge- brachen sein. Zum Schlüsse zwingt er seine Untertanen, sich ge- meinfam niederzulegen, wobei sie alle die Blicke auf ihn gerichtet haben, und dieses Bild, das die großen Tiere im Staube vor einem aufrechtftehenden Menschen zeigt, der als Zeichen seine? Herrsch- gemalt die Peitsche in der Faust hält, mutet an wie ein Symbol diktatorischer Gewalt, die jeden Augenblick um ihren Be- stand besorgt sein muß. In ähnlicher Weise produzieren sich die Tiger, die einen noch weit gefährlicheren Eindruck machen, weil ihre Gewandtheit, Ihre Geschmeidigkeit, mit der sie um ihren Bändiger herumschleichen, viel augenfälliger ist als die der Löwen , die im Vergleich zu ihren buntfleckigen Kollegen sich etwas tolpatschig ausnehmen. Auch die Eisbären sind nicht so harmlos, wie viele der Besucher wohl annehmen. Sie werden als besonders h i n t e r l i st i g be- zeichnet. Dann gibt es da noch kaukasische Bären, Lippenbären, Kamele, Elefanten, australische� Wasserdüffel, Lames, Bergziegen und Pferds, eine reichhallige Menagerie. hinter öer Zeltwanö find die Käfigwagen, die eine Länge von Z bis S Metern haben und in denen immer drei bis vier Tiere einquartiert sind. Da liegen sie in dem kalten Raum dicht aneinander geschmiegt im Stroh. Die Wagen können völlig geschlossen werden, so daß die Tiere einigermaßen vor der Kälte geschützt sind. Anfänglich gehen sie nicht willig in das Gefängnis, aber bald gewöhnen sie sich daran. Eigenartig mag die Tatsache scheinen, daß die in der Gefangen- schaft geborenen Raubtiere wilder und schwerer zu zähmen sind, als die in der Freiheit aufgewachsenen. Es ist gerade so, als ob die Natur die hervorragendste Eigenschaft dieser Tiere bewahren möchte. Bon den hier vereinigten Tieren ist eine ganze Anzahl in der Gefangenschaft groß geworden und in einem Wagen spielen kleine sechs Monate alte Löwen , die immerhin die Größe eines ansehnlichen Hundes haben. Die Aufzucht der Raubtiere ist sehr schwierig. Es kommt sehr oft vor, daß die Mutter ihre eigenen Hungen frißt. Vier junge Tiger, die% Lahre alt waren, töteten vor inniger Zeit einen ihrer Brüder und begannen ihn aufzufressen. Es kommt auch fönst noch vor, daß die Tiere übereinander her- 'allen und sich zerfleischen. Eine Legende erzählt, daß man diese Tiere durch Grausamkeiten dressiere. So wird gesagt, daß man Bären auf heißen Platten das Tanzen lehre, daß man durch Feuer die Tiger und Löwen bändige. Nichts wäre verkehrter als solch ein Borgehen. Ganz im Gegenteil muß G e- walt fast völlig vermieden werden, da die Tiere außerordenllich schreckhaft. sind. So erschreckte sich ein Tiger im Laufgang(der Gang, der die Manege vom Käfig trennt) und war weder durch Gewalt oder irgendwelche Lockmittel zu bewegen, diesen Gang zu passieren. Er muhte an einen zoologischen Garten als Schautier abgegeben werden. Beim Beginn der Löwendressur geht der Dompteur mit einem tragbaren Holzgitter gegen die
Löwen vor, die meistens dagegen anspringen, bis sie das vergeb- liche ihres Bemühens einsehen. Es gibt auch solche, die von vorn- herein versuchen, in den Rücken des Bändigers zu gelangen. Es gehört also viel Geistesgegenwart, Gewandheit und Kraft dazu, mit diesen Tieren zu arbeiten. Wenn man sie zur Gruppen- b i l d u n g auf irgendeinen Platz haben will, legt man Lecker- bissen an den betreffenden Stellen nieder. Sie gewöhnen sich bald so sehr daran, diese Plätze aufzusuchen, daß man ihnen diese Leckerbissen vorenthalten kann. Bei Löwen und Tigern nimmt man Fleisch, die Bären ziehen Brot, Honig und Zucker vor. Während des Krieges war die Ernährung der Tiere infolge des Fleischmangels sehr schwierig und viele von ihnen sind daher eingegangen. Uebrigens sind sie gar nicht so gefräßig, wie man es sich wohl vorstellt. Ein ausgewachsener Lowe begnügt sich täglich mit etwa 15 Pfund Fleisch. Die Dompteure begannen ihre Laufbahn meist als Tierwärter. Sie müssen die Charaktereigenschaften ihrer Schutzbefohlenen sehr genau kennen und vor allem ein hohes Maß von Willenskraft und Selbstbeherrschung besitzen. Ein Dompteur oersicherte, daß er nie und in keinem Augenblick ein Gefühl der Angst vor den Tieren habe, sondern sich völlig als ihr Herr fühle, und er streichelte dabei die Bestien, die an den Gittern ihres Käfigs schnupperten, so daß man ihm sehr wohl Glauben schenken darf. Es ist aber auch vor- gekommen, daß Löwen im Alter von IS und 17 Lehren, die im allgemeinen als gutmütig galten, plötzlich eine unerklärliche Wildheit zeigten und dann auf den Dompteur losgingen. Bor Schüssen und Peitschenknall haben diese Tiere eine merkwürdige Angst. wo kommen üie Tiere her! Während die Löwen und Tiger meist schon in der G e- fangenschaft geboren wurden, sind die Eisbären als junge Babys gefangen worden. Mit diesem Geschäft geben sich insbesondere die Fischer des nördlichen Norwegen ab, die, nach- dem sie die Alten verjagt, das Junge mit einem Netz sangen. Das Jagdgebiet liegt meist in Spitzbergen , auch L s l a n d und Grönland kommen in Frage. Elefanten werden aus Indien und Sumatra bezogen. Der Preis für' einen„kleinen" Elefanten bewegt sich so um ',4 Million Mark herum. Der Kaukasus lieferte die braunen Bären und Afrika die Kamele, die Wasserbüffel aber haben in Australien das Licht der Welt erblickt. Aus allen Teilen der Erde hat man sie geholt und nun reisen sie in kleinen Käfigen von einem Ort zum anderen. Ueberall ist die Menge bereit zu schauen und Beifall zu klatschen, denn sie sind auch in den Riesen- städten Europas keine Alltäglichkeit.
Um öen Staötverorönetenvorsteber. ' Zur Wahl des Stadtverordnetenvorstehers hat i die Zeitungskorrespondenz eines deutschvolksparteilichen Stadtver- ordneten die Mitteilung oerbreitet, die bürgerlichen Fraktionen hätten l„sich darüber geeinigt, dem Ergebnis der Stadwerordnetenwahl bei | der Besetzung des Vorsteherpostens Rechnung zu tragen, und ein- ! mütig als ihren Kandidaten den Stadtverordneten Reichswirtschafts- minister a. D. Dr. Scholz benannt".„Die bürgerliche Mehrheit Groß-Berlins würde", behauptet diese Korrespondenz,„es nicht ver- stehen, wenn wiederum an die Spitze des Stadtparlaments auch unter den veränderten Verhältnissen ein Sozialist gestellt werden würde." Die Berechtigung des parlamentarischen Grundsatzes, daß der �Posten des ersten Vorstehers f elb sto erstä n d lich �mit einem Vertreter der stärksten Fraktion zu be- setzen i st, wird auch durch das Ergebnis der Stadtverordneten- wähl nicht widerlegt. Die Wahl hat zwar den bürgerlichen Frak- tionen zusammen ein paar Mandate mehr gebracht als den drei linksstehenden Fraktionen zusammen, aber zugleich hat die Verschie- bung innerhalb der Linken die sozialdemokratische Frak- t i o n zur st ä r k st e n der ganzen Stadtverordnetenversammlung ge-
macht, so daß jetzt der erste Dorsteher aus ihren Reihen entnommen werden muß. Wir finden, daß die Größe und Macht der bürger» lichen Mehrheit im Rathaus denn doch überschätzt wird. Diese Einsicht ist wenigstens den Demokraten bereits ge- kommen. Im„Berliner Tageblatt" führt der demokratische Stadtverordnete Dr. Paul Michaelis aus, daß die nicht. sozialistische Mehrheit bei der Winzigkeit ihres Uebergewichtes keine selbständige Kommunalpolitik werde treiben können. Er hält eine Verständigung der bürgerlichen Demokratie mit der sozialistischen Demokratie für wünschenswert und sagt, daß die Vorsteherwahl die erste Probe auf diese Verständigung bedeuten werde. Gegenüber der Kandidatur des Deusschvolksparteilers Dr. Scholz erklärt die„F r e i h e i t" nochmals, daß„gar kein Anlaß be- steht, von dem Gewohnheitsrecht der stärksten Frak- t i o n abzuweichen". 74 009 Erwerbslose in Oerlin. Ein Beschluß der Froklionsführer im Berliner Sladlparlament. Gelegentlich einer Besprechung der Fraktionsoorsitzen- den der Berliner Stadtverordnetenversammlung beim Ueberbürgermeister B ö ß meldete sich eine Abordnung der Neuköllner Erwerbslosen, um den N o t st a n d vorzutragen, in dem sich die immer noch zahlreichen Erwerbslosen Berlins befinden. Sie beziffern sich zurzeit auf etwa 7 4 ONO. Im Anschluß hieran wurde beschlossen: Die Vorstände sämtlicher Fraktionen richten durch den Herrn Oberbürgermeister an den Herrn Reichsarbeitsminister die Bitte. sofort alle Vlittel zur Behebung der augenblick- lich dringendsten Rot der Erwerbslosen anzuwenden. Die Angelegenheit ist so dringend, daß wir diesen Weg wählen, weil ein Aufschub bis zur nächsten Stadtverordnetenversammlung unübersehbare Folgen nach sich ziehen müßte. koch. Dr. Weyl. Easpari. Braun. Ezeminski. Lange. Müller-Franken. Säbel. Oberbürgermeister Böß hat sich sofort mit dem Reichsarbeits- minister und dem preußischen Wohlfahrtsministerium wegen unoer- züglicher Erhöhung der infolge der Geldentwertung nicht mehr zu- reichenden Bezüge der Erwerbslosen in Verbindung gesetzt. Ein Generalvertreter Köhns vor Gericht. Ein Zivitprozeß, der einen Einblick in di« Praktiken der General- Vertreter der Wettkonzerne gewährte, wurde vor der 45. Zivilkammer 'des Landgerichts I verhandelt. Der Militäronwärter F. und der Kalkulator R. hatten ihr« ge- samten Ersparnisse— und zwar F. in Höh« von 1ö 000 M. und R. in Höhe von 3900 M.— durch den Generalvertreter des Köhn- Konzerns Kaufmann Grischno bei dem Wetttonzern angelegt. Nach- dem Köhn in Konturs geraten war, hotten die Geschädigten durch ihren Rechtsbeistand«inen Arrest gegen G. beantragt, der auch vom Landgericht ohne mündliche Verhandlung erlassen war. Hiergegen. hatte der Rechtsvertreter G.'s, Lustizrat Dr. Cohn-Biedermann Widerspruch eingelegt, über welchen im Termin beim Land- gerickt I verhandelt wurde. Im Termin mochte der Vertreter G.'s geltend, daß sein Austrag- geber ein stellungsloser Kaufmann sei, der vom Wettbetrieb keine Ahnung hatte unud daher selbst von Köhn getäuscht worden sei. Das ganze Versahren bedeute lediglich den Versuch, sich beim Versagen des Hauplfchuldners an eine unbeteiligte Person zu halten.— Dem oqenüber betont« der Vertreter der Kläger , Rechtsanwalt Dr. Schweitzer, daß die Wettkonzern« niemals ein derartiges Unheil, wie geschehen, hätten anrichten können, wenn nicht'die Generalver- ireter iür enorme Provision dos große Publikum an sich gelockt und getäuscht Kütten. Dr. Schweitzer suchte dann durch Ueberreichqnq von eidesstattlichen Versilderungen nachzuweisen, daß G. noch nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit Einzahlungen angenommen und andererseits noch nach Beginn der Liquidation Auszahlungen in voller Höh«, insbesondere auch an nahe Familienangehörige gemacht habe. Zur Glaubl?astmachunq für letztere Behauptung überreicht« der Rechtsvertreter der Kläger einen eingehenden Bericht eines hiesigen Handelsrevisors.— Dem gegenüber betonte der Rechtsvertreter G.'s. daß dieser sich zu seinem Vorgeben berechtigt aehalten habe. Das Gericht setzte die Entliheidung des' Recktsstreires auf den 18. November cm. die von prinzipiellem Lnte'esse für alle diejenigen Kuni-'n von Wettkonzernen fein dürste, di« ihr Geld aus Beraniassung von Generalvertretern der Konzerne angelegt haben.
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Fräulein.
Von Paul Enderling . Dann hatte Hermann zu verzweifelten Mitteln gegriffen, an die er nicht denken konnte, ohne daß ihn der Schweis; über- rann. Ein Glas Wein half dann: abschütteln— dnrchtauchen durch die Welle— man kam schon wieder ans Licht! Er ging durch das Grüne Tor über den Langen Markt. Er kannte jedes Haus. Das da drüben hatte Schlüter in seiner Jugend gebaut. Dort hatte der Reformator Pankratius Klemme gestanden, umjauchzt vom Volk. Ueberall war etwas geschehen, das weiterwirkte. Das alles recht, schreiben zu können, Nebel und Licht recht zu verteilen, bis alles körperlich, statuenhaft dastand! Konnte er das? Hatte er überhaupt dichterisches Talent? Die Freunde in Berlin sagten Ja. Ueber ein gut empfundenes Gedickt, über eine hingehauchte Ski'"' hatte er es nie hinansgebracht. Reichte das aus— mein Gott — ein Leben darauf zu gründen? Ein Leben ist so lang. Ein Leben will so viel. Und draußen drängten sie Ellenbogen an Ellenbogen. Wenn er durch die alten Gassen ging, sah er die Schotten, die in den Winkeln kauerten und nach Erlösung schrieen. Er hörte fremde Kommandorufe und sab seidene Standarten und vernahm Fansarenklang. Er sah sse ringen mit deutscher Zähigkeit. Paläste und Kirchen wuchstn auf. Reben der Kelle und dem Kelch lag das Schwert. E? biVe.<w-t das Lachen und Singen bei den wenigen Festen, die man sich gönnte Er sah die alten Kraweels und Galeiden hinaus- fahren in die neuencheckke Welt. Alles lebte, atmete, blühte um ihn. Aber sobald er sieb zum Schreiben hinsetzte, zerflog es. Was auf dem Papier blieb, war konventionell— Dinge, die schon taulenbmal geschrieben waren. Die Prosa war ein Hartes Metall. Man mußte Feneratem Ha'tn, sie zu schmelzen, — und den hotte er nicht. Oder man mußte ein feiner, vor- sichtiger Filigranarbeiter sein, unermüdlich seilend und die Schatten berechnend, die jede Erhöhung warf,— und die Ge- duld hatte er nicht. Am Rathaus bog er ein, überquerte die Straße und ging um die Marienkirche herum. Gewaltig, fast gewaltsam stürm- ten die Steinmassen zum Himmel empor. Die hohen, spitzen Fenster, die nach innen das bunte Licht hineinwarfen, waren
hier düster und vergittert. Gras wuchs zwischen dem holperi- gen Pflaster. In der Frauengosse spielten die Kinder auf dem Fahr- dämm und auf den Beischlägen. Sie hockten auf den'Stein- balustraden, auf den Schmiedegittern und den Steinkugeln. Die Kinder waren das einzige, was dieser eingeschlasenen Gasse Leben gab. Ernst und schwer reckten sich die schlanken Häuser empor, in feierlicher, gravitätischer Würde. So hatte es hier ausgesehen, als Ehodowiecki seine lange Reise von Berlin hierher gemacht halte... als Martin Opitz hier umher- stolzierte... als Paul Benecke das frischgemolte Bild Mem- lings einbrachte.— Die Kinder fangen ein Helles, lustiges Lied. Leben und Traum vereinte sich wunderlich, verwunderlich. Was war echt? Was malte die Phantasie? Alles floß inein- ander, ohne Grenzen, ohne Anfang und Ende. Vor dem altersschwarzen Kirchtor blieb er stehen. Die Figuren vor der Tür Hatten abgebrochene Rasen. Ihre Ge- sichter waren vom Regen abgeplattet. Drüber stand:„Gott gebe denen bat ewige Leben, De eer Almosen tor Kirchen geben." Eine Gruppe Ausflügler kam: die Frau des Küsters schlüsselrasselnd voran. Sie gingen Hinein. Die Tür blieb offen. Hermann folgte ihnen und hörte eine Weile ruhig mit an, wie die Frau ihr Sprüchlein herleierte. Dann ging er fort und bog um die Pfeiler. Wie gut kannte er alle«: Jedes Evitoph, iede Grabplatte des Fußbodens. Dort drüben log Martin Opitz von Boberfeld , der ein Dichter gewesen war oder eigentlich nur ein literarischer Theoretiker. Aber immer- bin einer, der der deutschen Sprache etwas zutraute, als ihr keiner etwas zutraute. Die Pest hatte ihn erwürgt, alz er vor dem Krieg Herher geflohen war. Die Dichter hatten Pech hierzulande.-• Hermann letzte sich in einen Stuhl mitten in die Reihe im Hauptschiff. Von droben glänzte matt die Orgel. Hermann fühlte sich müde und elend. Hier im feierlichen Kircheninnern siel der trügerische bunte Schleier, den er sonst zwischen sich und das Lehen zu legen vermochte. Alles wurde ernst und schwer. Das Lehen schl''tz seine dunkeln, kalten Wellen über ihn zusammen. Er arnsste nicht aus noch ein. Es gab keinen Aus« weg. Er sah dos alles plötzlich klar und deutlich vor sich. j Heute war ein Wechsel fällig, in vierzehn Tagen ein
anderer. Wenn er den nicht zahlte, ging der Schein an den Vater. Und was dann? Hermann sah alles voraus. Der Vater würde ihn prüfen, und er würde kalt und ruhig wie ein Römer sagen:„Die Unterschrift ist falsch." Und wenn er sich ihm zu Füßen werfen würde und Abbitte tun und Besse- rung geloben,— er würde dennoch sagen:„Der Wechsel ist falsch, er ist von einem Betrüger." Oh, Vater hatte es leicht, kalt und ruhig wie ein alter Römer zu sein. Rie war das Leben ihm genaht. Nie hatte es ihn gelockt. Er war Kauf» mann schon in der Wiege und kannte keinen anderen Ehrgeiz und keine anderen Träume, als sein Geschäft zu halten und wenn möglich hochzubringen. Hermann stand auf. Er ging in das Seitenschiff, da, wo die alten zersetzten Fahnen wehten. Dunkel und schwer hingen sie herab. Sie träumten von Siegen, denen sie nicht mehr voranaerauscht wie ihre glücklicheren Brüder. Vielleicht träumten sie auch von der Stunde, da sie zum letzten Male über der Gruit des gefallenen Führers gehangen hatten. Fan» farenstöße batten sie gebläht. Kugeln hatten sie verwundet, der Jubel der Soldateska, der Fluch des leidenden Volkes hatte sie getroffen. Sie waren in fester Monnesfaust über fremde Länder und Meere getragen worden. Sie waren dos Symbol und der Halt erregter, fiebernder Menschen gewesen. Sie hatten gelebt und konnten nun gut hier ruhig verwittern und zugrunde gehen. Aber wo waren seine Fahnen? Welche Siege hatte er denn erfochten? Hatte er denn überhaupt geleh'? Wie viel war das Lehen ihm doch sch'llMg geblieben! Er lehnte sich an das Geländer der Treppe, die zur Kanzel emporführie. Es war nutzlos, darüber nochzudenken. Die Romantik dieser Stadt hatte ihn betäubt und verwirrt. Sie hatte das Lehen in bunten, trunkenen Farben gemalt, das Lehen, das doch grau In grau war und das aus Zahlen und Additionen bestand. Es hatte Ihn in die gerissen, in Zesten, wo er sich aut der Erde Hätte im Gleichschritt üben müssen Die Stadt Hatte schuld... Hermann setzte sich aus eine Stufe der Konzeltreppe. Ave» war dumm und grenzenlos widerspruchsvoll und ohne Hoff» nung. Ohne Hoffnung? Wenn ihn eine liebte, so ganz aus aller Seele, mit aller Hingebung liebte, würde alles gut werden. Und plötzlich sah er ganz deutlich Fräulein vor sich, ihre schlanke Gestalt, ihren leichten und doch sicheren Schritt, ihr junges. emstes Gesicht.(Fortf. folgt.)