ßf. 548 ♦ 58. Jahrgang
2. Seilage öes vorwärts
Sonntag, 20. November 102?
Sei öen Toten.
Auf den Ruheplä�en der Volkskämpfer.— Der Friedhof der Kriegsopfer.
Tag der Toten ist heute. Der einzelne denkt an seine eigenen Lieben, die hingegangen sind, um nicht mehr wiederzukehren. Wir ober wollen jener Toten gedenken, die allen gehören, weil sie ihr cherz und ihre Kraft ollen gegeben haben. Gerade heute wollen wir jener gedenken, deren Bild in der Seele des arbeitenden Volkes niemals verblassen darf, weil sie für das Volk das größte hingegeben haben, was der einzelne der Gesamtheit geben kann: sich selbst. Wenn wir den 18. März 1848 als Geburtstag der deutschen Ar- beiterbewegung betrachten, so ist da zunächst die berühmte Ruhestätte der damals gefallenen Freiheitskämpfer im Friedrichshain . Am Totensonntag aber kommen für uns hauptsächlich in Frage der Be- gräbnisplatz der Freireligiösen Gemeinde an der Pappelalle- und der Z e n t r a l f r I c d h o s in Friedrichsfclde. Oer Friedhof an üer Poppelallee verdankt feine Popularität hauptsächlich den beiden ersten sozial. demokratischen B eg r ö b n i s d« m o n st r a t i o n e n. Als 1878 unsere Bewegung in ihrer Sturm- und Drangperiode den Höhepunkt erreicht hatte und die christlichsoziale Gegenagitation des Hofprcdigers Stöcker kläglich scheiterte, fanden wir auch bald Gelegenheit, durch solche Kundgebungen der Mitwelt zu imponieren. Im Beginne des März starb im Alter von dreißig Jahren der Setzer August H e i n s ch, ein schlichter Mann aus dem Arbeiterstande, der an der Berliner Ge- nrssenschaftsdruckcrei gewirkt und sich um die Organisation der vor- jährigen Reichstaaswahl große Verdienste erworben hatte. Als er am kommenden Sonntage begraben wurde, schloß sich eine uner- wartet große Menge von Genossen und Genossinnen dem Sarge an und geleitete ihn im ungeheuren Zuge mit zahllosen roten Partei- abzeichen hinaus noch dem Friedhofe der Freireligiösen Gemeinde. M o st und andere Führer hielten bei der Einsenkung Ansprachen. Die ganze Feier machte einen gewaltigen Eindruck und forderte un- willkürlich zur Wiederholung auf. Diese geschah im April bei der Be- erdiaung des verantwortlichen Redakteurs der„Berliner Freien Presse", Paul D e n t l e r, der in der Untersuchungshaft der Schwind- sucht erlegen war. Bei beiden Kundgebungen vernahmen unsere Gegner schon den„dröhnenden Marschtritt der Arbeiterbctaillone" und sahen darin die Vorboten der sozialen Revolution, verlangten daher nach einem Ausnahmegesetze, zu dem dann die Attentate vom Sommer 1878 den Vorwand bieten mußten. Nach seiner Verhän- gung blieb uns der Friedhof in der Pappelallee eine liebe Stätte, und jahrelang pflegten wir die Gräber von Heinlch und Dentler an den Gedenktagen zu bekränzen. Später wurden sie mit Denksteinen versehen und von dem alten Totengräber und Friedhofsinspektor Krause mit Vorliebe den Besuchern gezeigt. Fortan bestatteten wir auf demselben Friedhofe noch oft Genossen, darunter zwei berühmte Opfer des Sozialistengesetzes, die nach schwerem Ringen ums Da'ein in oeistiger Umna-iNimg geendet hallen, Lassalles unglücklichen Waffenqefährten I. B. v. H o f st e t t e n und den letzten Präsidenten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins Wilhelm Hasen- clever. Bei seiner Beerdigung im Juli 1889 erlebten wir wieder eine gewaltige Demonstration, und sein mit einer roten Säule ge- schmücktes Grab blieb lange das Ziel von Tausenden von Besuchern. Unter den in der Folgezeit Beerdigten befanden sich die Mäntel- näherin Annes Wabnitz, jenes echte Weib aus dem Volke, das die soziale Rot am eignen Leibe kennend sich mit Leib und Seele der Agitation unter den Arbeiterinnen widmete und sich 1894 an den Gräbern der Märzgefallenen vergiftete, ferner der Königsberger Rcichstagsabaeordnete Karl S ch u l tz e, der Schuhmacher und Stadtverordnete Theodor M e tz n e r, der zu Lassalles ersten Berliner An- hängern aus dem Arbeiterstande gehörte, und unserer wackerer Franz Tutzauer , dessen Name seit dem Wiederaufleben der Ge- werkschaftsbewegunq unter dem Ausnahmegesetze in den Partei- kreisen den besten Anhang hatte. Auch sei nicht vergessen, daß der alte Krause hier, buchstäblich auf dem Felde seiner Arbeit, die letzte Ruhe gefunden hat. Der AentralfrkeKhof ia IrieSrichsfelSe wurde den weitesten Kreisen bekannt durch die Riesendemonstration, die dem alten Soldaten der Revolution Wilhelm Liebknecht bei seiner Beerdigung am 12. August 1900 zuteil wurde und die alles bisher dagewesene überbot. In der Nachbarschaft von Lieb- knechts Grab finden wir unsere großen Vorkämpfer Jgnaz Auer. Paul Ein g er und Hugo Haase und gedenken der gewaltigen
iKundgebungen bei ihrer Bestattung. Der Friedhof dehnt sich weit hinaus und birgt noch zahlreiche Gräber von guten Genossen. Von 3 t ä g e m a n n, die noch 1878 neben Frau Hahn und Frau Canzius die hauptsächlich gegen Stöcker und Genossen gerichteten Frauen- i Versammlungen leitete und die nach jahrzehntelanger Vergessenheit i in einer Versammlung im Gewerkschastshause wiederauftauchten, und � Frau Emma Ihrer , die in den achtziger und neunziger Iahren | als Rednerin hervortrat. Unter den männlichen Genossen, die wir hier begruben, befinden sich der Landtagsabqeordnete B o r g in a n n, der Leiter des Berliner Bureaus Leopold Liepmann und die Reichs- tagsabgeordneten Artur Stadthagen und Karl L e g i e n. Dort ruhen auch in drei langen Reihen Opfer des Bürgerkrieges von 1919, in ihrer Mitte Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg . §ern öer Heimat. Millionen starben im Weltkriege! Gräber überall— in Deutschland , Frankreich , England» Ruß- land, Oesterreich, in Asien und Afrika , im Norden des Erdballs wie im Süden, im Osten wie im Westen— Gräber aus der ganzen Welt. Auf Tausenden von Friedhöfen ruhen sie; was für ein Heer von Toten, was für ein Feld von Leichen! Totensonntag ist's heute, laßt uns der Toten des Weltkrieges gedenken! Auf dem Garnisonfriedhofe in der Hasenheide wölbt sich Hügel an Hügel über Opfern des Weltkrieges in schier unabsehbarer Folge. Da ruht der Pentilej Dimitrieff und der Franzose Francois Pons, dessen Hügel eine kleine französisch» Trikolore schmückt, neben dem Deutschen Fritz Müller. So ruhen sie alle hier, die sich einst feindlich gegenüberstanden, weil sie sich brutaler Befehlsgewalt unterwarfen. Sie alle kennen nun keine Befehle mehr, sie sind souverän in ihrer Grabesruhe..Schlichte Gedenksteine künden lliamen. Geburts- und Todestag. Vom Morgen bis zum Abend müßtest du lesen, wenn du sie alle entziffern wolltest. Sie wurden geboren und starben als Soldaten. Was dazwischen liegt, ist in tiefstes Geheimnis gehüllt. Es ist, als ob sie nicht ge- wesen sind. Aber es sind auch kostbare Grabmale errichtet, die In genauen Daten von dem Morden des Weltkrieges berichten und dem Schmerz der Angehörigen'Ausdruck verleihen.„Verwundet am 7. 11. 1914, gestorben am 10. 11. 1914", kündet eine Inschrift, und darunter stehen die bitteren Worte: „Ja, sie haben einen tapfren Helden hier begraben, Doch uns war er mehr." Ein änderer Stein ist drei Brüdern errichtet, die kurz nachein- ander fielen und die nun hier ausruhen von Grauen und Entsetzen des Völkermorkens. Auch sie quälten sich in peinoollen Tagen in den Lazaretten, zu Tode— und da wollen verlogene oder leicht- fertige Schwätzer der Menschheit vorreden, daß es„süß sei, für'« Vaterland zu sterben"! Fragt alle Mütter, die ihre Söhne hin- gaben, ob es so süß war. wenn sie in tausendfältigen Qualen die Leiden ihrer Söhne mitempfanden. Was für verlogene Schwätzer sind es, die„die Heldenmutter" preisen, die Frau, die sich glücklich fühlt, daß ihre Söhne mordeten und gemordet wurden! Was müßten das für gedankenlose oder aber unmenschlich grausame Weiber sein, die so empfinden. Nein, Ne besten Mütter glauben vielmehr, daß es süßer Ist, zu leben. Was fragen sie nach dem„Heldentum", für sie waren ihre Söhne mehr als melden, für sie waren und sind sie der Inbegriff ihres Seins. Und dieser Anschauung gibt der Grab- spruch für einen Toten Ausdruck, der im Jahre 191S bei Rem- bicze fiel: „Möge dein Blut ein Samenkorn sein des ewigen Nölkerfriedens." Eine Welt der Versöhnung tut sich auf in diesem Satze. Die Toten sind stumm, doch die Steine reden. Was für ein Meer von Elend und Schrecken, von zerschlagenen Hoffnungen und Plänen ist auf diesem einen Friedhof, den die Wellstadt umbrandet, begraben! Und doch gibt es noch tausend andere. Wer wagt es da noch, von neuem Krieg zu reden?
Der Selbstmörüerfrieühof in Schilühorn. Abseits vom Hauptwaldwege des Grunewalds liegt der Selbst- Mörderfriedhof. Wie eine kleine Siedelung erscheint das Häuschen mit Gemüsegarten, das dem Friedhof vorgelagert ist. Lieder und Menschenstimmen verklingen und tiefer Friede umgibt den Wände- rer, wenn er durch den einfachen Kiefernzaun sich den Gräberreihen nähert. Ein großes Holzkrevz ersetzt jeden Hinweis. Nichts läßt einen Unterschied erkennen mit anderen Gemeindefriedhöfen. Keine Spur von einem Schindanger. Gewiß gibt es auch hier verfallene Hügel; aber nicht mehr"als auf anderen Friedhöfen. Man sieht auch Hügel, wo an Stelle von Efeu Steine ein Versenken verhüten sollen. Verachtung dieser verirrten Menschenseelen von feiten der Le- benden zeigt sich dem Besucher nirgends. Im Gegenteil, an vielen Gräbern haben liebende Hände ihren Toten schon Zeichen der Liebe aufgerichtet. Aus den Inschriften der Gedenktafeln klingt überall ein „Verstehen— Verzeihen" heraus. Es greift einem ans iöcrz, wenn man vor so früh dahingegangener Jugend steht.... Mäd- chen von 20, 2Z Iahren, Jünglinge bis herunter zu 13 Iahren! „Du hast schwer gekämpft, gelitten," schreiben Eltern ihren Kindern auf den Stein. Und darunter fehlt niemals das Verzeihen. Hier schweben duftende Rosen im Abendwinde, dort senkt eine Trauer- weide ihren Schleier in leisem Rauschen auf die vom Leben Cnt- täuschten. Jüngling, Mädchen und Mann, sie alle hauen gewiß schwerste Seelenkämpfe bestanden, bevor sie ihrem Leben ein vor- zeitiges Ende bereiteten. Langsam leeren sich die Geäberreihen, die Abendschatten hüllen den Friedhof in Dunkel. Waldesweben. Der Wald rauscht den Schläfern da unten das Schlummerlied. Richtet nichtl......... die ßrüchte ües„Wahlfteses". In der Stadtverordnetenversammlung geht der Bürgcrblock schon mit Eifer an die Ausnützung des ganz geringen Uebergewichtes, das er durch die Stadtverordnetcnwahlen gegenüber den Parteien der Linken erlangt hat. Die Demokratische Fraktion kündigt bereits Anträge an, die auf die U e b e r f ü h r u n g der städtischen Straßen- bahn in einen gemischtwirtschaftlichen Betrieb hinzielen und eine Vereinheitlichung der Berliner Verkehrsmittel, zu- mal der Straßenbahnen, der Autoomnibusse, der Hochbahn und der Stadtbahn empfehlen. Sogleich nach dem„Wahlsieg" wurde von demokratischer Seite betont, daß an den Verkchrseinrichtungcn der Stadt wieder das Privatkapital beteiligt werden müsse. Offenbar gehörte das von vornherein zu den Hauptzielen, die den bürgerlichen Parteien und besonders den Demokraten bei ihrem erbitterten Kampf um das Rote Haus vorschwebten. Auch die Deutschnationalen rüsten zu einem Sturm gegen die ge- meinwirtschaftlichen Betriebe, die dem Privatkapital im Wege sind. Sie fordern in einem Antrag die Aufstellung eines Verzeichnisses aller Betriebe der Stadt mit Angabe ihrer Rentabilität. Da wird man uns wieder erzählen/daß private Betriebe hohe Gewinne bringen würden. Das könnte sein, aber nur auf Kosten der Arbeiter und Angestellten— und der Bevölkerung, die dann sicherlich nicht billiger bedient' würde. Oder will man un« glauben machen, daß nur aus„uneigennütziger Sorge um das Wohl der Stadt" das Privatkapital seine Hand nach den städtischen Be- trieben ausstreckt? Wirkungen der Teuerungswelle. > Neue Geldsorgen der Skadt. , Der Magistrat beschäftigte sich gestern eingehend mit der Deckung der Mehrausgaben an Gehältern, Löhnen und Materialien infolge der fortschreitenden Teuerung. Nachdem inzwischen auch die gewaltige Erhöhung des Kohlenpreises bekannt geworden ist, müssen die Werktarife wesenllich stärker erhöht wer- den als bisher erwartet werden konnte. Es wurde beschlossen, den G a s p r e i e auf 2,60, den Strompreis auf 4,50, den Wasser- preis auf 1,10 und die Straßenbahn auf 1,60 M. zu erhöhen. Selbst diese Erhöhungen reichen nicht aus, um die Mehrausgaben der genannten Werte zu decken. Die Mehrausgaben der übrigen Verwaltungen sollen durch eine weitere Erhöhung der Gewerbe« st e u e r wenigstens teilweise gedeckt werden. Dabei müssen auch Mittel für den Anteil der Stadt an den Mellorationsarbei- �ten, der produktiven Erwerbslosenfürsorge und Ider Rord-Südbahn aufgebracht werden. Der Magistrat be-
58]
Aräulein.
Bon Paul Cnderling. Er dachte für sich weiter: Was wißt ihr da unten, was ich dafür gäbe, hier— jetzt— in Licht und Sonne zu stehen mit einem Menschenkinde, das ich lieb«, Arm in Ann! Für wieviel Lahre, für wieviel Ewigkeiten und Kampf und Not das ent- schädigen würde".. Aber stand dort nicht eine im lichtblauen Kleide mit brennenden braunen Augen in dem blassen Gesicht, das ein junger Schmerz durchfurcht hotte? „Warum sehen Sie mich so an?" Fräulein neigte sich zu ihm.„Hoben Sie mir nichts zu sogen, Hermann?" „Nein— nein," stammelte er. „Machen Sie es mir doch nicht so schwer, Hermann." „Ich möchte Ihnen alles leicht machen, glauben Sie nur." Ln dieser Stunde kämpfte Hermann den schwersten Kamps fernes Lebens. Er wußte jetzt: er brauchte nur die Hand zu ergreifen, die da auf dem blauen Kleid seltsam demütig und traurig lag. Aber zwischen ihm und dem Glück würde diese Lüge stehen. Sie würde ewig dazwischenstehen. Er ver- wünschte den Augenblick, der ihn zum Zeugen der Aussprache Tehas und Lothars gemacht. Hätte er sonst nicht jubelnd zu-, gegriffen? Fräulein sank auf die Holzbank. Ihr Kopf hatte sich ge- 1 neigt. Sie sah nichts mehr von dem weiten, weiten Bild ringsum. Er sah, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Sie litt. Aber im wehen Schmerz fühlte er. wie sie um den anderen litt... und wie sie den anderen lieben mußte... Nun wußte er, was er zu tun hatte. „Er liebt Sie ja," sagte er und dämpfte seine Stimme zum Flüstern.„Er liebt Sie ja über olles. Lch weiß es." Sie schüttelte schweigend den Kopf. „Ich habe ja alles angehört." Und hastig erzählte er alles, was er unten erlebt. Langsam begriff sie. Sie stand auf und ging ein paar Schritte. Ganz mechanisch. Nur weil sie etwas tun mußte. Dann bNeb sie stehen, und über ihr Gesicht flog ein glück- seliges Läckeln. Es war wie von einer Sonne überstrahlt. Hermann sah sie unverwandt an. Und nun lachte sie. Li« lacht« laat und übermütig.
Irgendeine Fessel löste sich in ihr. Sie war so stark und frei und stolz, und sie war jung. Sie war ja noch so jung... Ich und du, und du und ich, dachte sie,— wie wir glücklich sein werden, du und ich... Und immerfort lachte sie ihr leises, tiefes Lachen. Die Gassen lagen im Sonnenlicht. Die Flüsse waren silbern geworden, und die See dort in der Ferne blaute tief und klar herüber. Wie schön war das Leben! „Wie konnte ich nur! Wie tonnte Ich nur—" Fräulein zitterte vor Seligkeit.„Wie konnte ich nur--" Und plötzlich trat sie auf Hermann zu, nahm seinen Kopf in ihre Hände und küßte ihn. Ihre Augen lachten vor Glück. „Dank," sagte er und sah sie noch immer an. „Nun muß ich gehen. Ich muß ihn doch suchen. Kommen Sie mit?" „Nein," sagte er kopfschüttelnd.„Den Weg finden Sie schon besser allein, Fräulein." „Ich beiße jetzt nicht mehr Fräulein. Ich heiße jetzt Anne- marie." Sie lachte und stürmte die Stiege hinunter. Hermann sah ihr nach, bis der letzte Schimmer ihres Kleides entschwand. „Nun hat sie mich geküßt im selben Augenblick, als ich die letzte Wunde empfing. Nun will ich auch fort. Da unten werde icb den Schimmer ihres Kleides noch einmal sehen. Dann will ich fort." Er wußte nicht, wohin. Er wußte nicht, wie er fort- konnte. Er fühlte nur einen gewaltigen Druck im Innern, der ihn aus allem herausschleudern würde. Er mochte wollen oder nickt. Wührend er, über die Brüstung gebeugt, hinunterstarrte, emvfand er: Denn ick setzt abstürzen würde über das Kirchen- dach hinweg auf die Gasse— würde sich wohl einer, eine die Augen rot weinen? Und ein böser, wllder Zug zerriß sein Gesicht. Frau Görke rang die Hände.„Denken Sie: Herr Fronzius hat abtelevhaniert Er kommt nicht zu Mittag. Er muß wieder nach Berlin zurück." „Das ist nicht möglich." soate Annemarie und blieb stehen. „Und nun habe ich das Pfirsichkompott ganz zwecklos an- gegriffen." „Nach Berlin ist er zurück?" „Ja, was sagen Sie dazu, Fräulein?"
|„Nennen Sie mich doch lieber mit meinem Namen," sagte ! Annemarie plötzlich lächelnd.„Fräulein Tessmer oder meinet- , wegen Fräulein Annemarie." Frau Görke sah sie erstaunt an. Der Mund blieb ihr offen vor Verblüffung. Annemarie ging in ihr Zimmer und begann zu packen. ohne Hut und Mantel abzulegen. All ihre Dienstfertigkeit, ihre gefällige Unterwürfigkeit war von ihr abgefallen: Sie war ja nicht mehr Fräulein— sie war Fräulein Annemarie Tessmer. Und es war, als hätte ihr der Name, den sie wiedergefunden. Kraft gegeben, die sie sich noch gestern, als sie nur Fräulein war, nicht erträumt hätte. Sie ging nicht mehr nach den Wünschen der anderen; sie war plötzlich imstande, selber einen Entschluß zu fassen. Sie überlegte. Heute nacht kam Lothar wieder in Berlin an. Morgen würde er schreiben. Uebermorgen konnte der Brief frühestens hier fein. Nein, sie würde den Brief nicht abwarten. Sie würde Lothar überrumpeln und ihn in die Arme schließen, ehe er den Mund auftun konnte. Es klopfte. Frau Görke steckte ihren sorgenvollen Kopf herein.„Die Strümpfe für meinen. Mann müssen noch gestopft werden. Er wechselt morgen doch wieder." „Ich muß leider fort," sagte Annemarie. Frau Görke oerstand nicht. Annemarie wiederholte es. „Sie auch?" brachte Frau Görke endlich hervor. „Ja, ich auch. Für ein paar Tage müssen Sie mich ent« schuldigen. Und es kann auch länger werden." „Ja, wo wollen Sie denn hin?" „Ich muß nach Berlin ." „Wollen Sie sich verändern?" Annemarie lachte.„Verändern? So sagt man hier, wenn die Dienstboten eine andere Stelle suchen, nicht wahr? Darauf kann ich Ibnen nicht mit einem einfachen Ja oder Nein ant- warten. Ader mein Leben mächte ich wohl verändern." Frau Görke setzte sich. Sie sab so sorgenvoll aus. daß man ihr hätte einen Graschen aeben mögen.„Sa fängt es immer an," sagte sie düster.„Erst geht es nach Hause und dann auf eine andere Stelle." Nach Hause. Das war das rechte Wort.„Nach Hause geht es. Ach, wenn Sie wüßten, was das Wort für mich bedeutet!" Annemarie faltete die Hände. „Und dann eine andere Stelle," vollendete Fran Görke hartnäckig.(Forts, folgt.)