Nr. 288.
Erscheint täglich außer Montags. Preis pränumerando: Vierteljährlich 3,30 Mart, monatlich 1,10 Mt., wöchentlich 28 Bfg. frei in's Haus. Einzelne Nummer 5 Pfg. Sonntags- Nummer mit
illuftr. Sonntags- Beilage Neue Welt" 10 Pfg. Post- Abonnement:
8,30 Mt. pro Quartal. Unter Kreuz band : Deutschland u. Defterreichs Ungarn 2 Mt., für das übrige Ausland 3 Mt.pr.Monat. Eingetr.
in der Post Beitungs- Preisliste
für 1894 unter Nr. 6919.
Vorwärts
11. Jahrg.
Insertions- Gebühr beträgt für die fünfgespaltene Petitzetle oder deren Raum 40 Pfg., für Vereins- und Versammlungs- Anzeigen 20 Pfg. Inserate für die nächste Nummer müssen bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition abgegeben werden. Die Expedition ist an Wochentagen bis 7 Uhr Abends, an Sonna und Festtagen bis 9 Uhr Bormittags geöffnet.
Fernsprecher: Amt 1, Nr. 1508. Telegramm Adresse: sozialdemokrat Berlint Berliner
Bolksblatt.
Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands .
Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2. Dienstag, den 11. Dezember 1894.
Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3.
Arbeiter! Parteigenossen! Trinkt kein boykottirtes Bier!
Allerneueffer Kurs.
Iauten.
brechen.
"
Im Zusammenhange mit dem Antrage des Staats-| Gewohnheiten des Hauses, es beleidige die Gefühle seiner Mitanwalts steht jedenfalls ein längerer Leitartikel der Nord- glieder, entgegengesetzt hat und die zu vollenden er durch die Erdeutschen Allgemeinen Zeitung" von heute Abend, welcher regung des Hauses gehindert wurde. die juristische Berechtigung des staatsanwaltlichen Antrages schon im Hause selbst die gebührende Verurtheilung gefunden, so Hat dieses Verhalten von sozialdemokratischen Mitgliedern mit bekannten, in reaktionären Blättern schon hundertmal schon im Hause selbst die gebührende Verurtheilung gefunden, so erörterten Gründen zu beweisen sich abmüht. hat sich nicht minder auch außerhalb des Hauses, im Volke, hierüber ein Sturm patriotischer Entrüstung erhoben. Mit Der Antrag des Ersten Staatsanwalts beim Land- wenigen Ausnahmen hat insbesondere auch die Presse aller gericht Berlin I ist ein schwerer Angriff auf die Rechte des Richtungen das Verhalten der sozialdemokratischen Abgeordneten Reichstages und wird und muß von diesem in energischster, gebührend gekennzeichnet. Es herrscht das Gefühl, daß derartige die Möglichkeit einer Wiederholung derartiger Versuche aus- Beleidigungen gegen die Person seiner Majestät des Kaisers und schließenden Weise zurückgewiesen werden. Königs nicht straflos bleiben dürfen, sondern energische Ahndung erheifchen.
Wolff's telegraphisches Bureau meldet in später Nach mittagsstunde: Berlin , 10. Dezember. Der Reichskanzler hat dem Präsidenten des Reichstages einen Antrag des Ersten Staatsanwaltes beim Landgericht Berlin I. übermittelt, in welchem die Herbeiführung der Genehmigung des Reichstages aur ftrafrechtlichen Verfolgung derjenigen sozialdemokratischen Reichstags- Abgeordneten nach gesucht wird, die in der Sigung vom 6. d. m. bei dem Hoch auf seine Majestät den Raiser fich nicht von ihren Plägen erhoben haben. Wir brachten in unserer letzten Nummer die Nachricht, Die Anklage wird auf Majestätsbeleidigung daß von jetzt ab eine offizielle Regierungs Korrespondenz teine genügende Handhabe, um solche bedauerliche Vorkommnisse Die zur Zeit geltende Geschäftsordnung des Reichstages bietet erscheinen solle, durch welche die Regierung den Zeitungen verhindern zu können. Der Präsident des Reichstages hat unter Es ist nicht das erste Mal, daß ein solcher Versuch diejenigen Mittheilungen machen will, deren Verbreitung fie dem unmittelbaren Eindrucke des Geschehnisses bereits erklärt, er gemacht wird, die Immunität des Reichstages zu durch- wünscht. Unser Urtheil über diese Korrespondenz, sagten tönne nur bedauern, daß er kein Mittel habe, um ein derartiges wir, wollten wir vertagen, bis wir sie gesehen hätten. Verfahren zu rügen. Liegt es unter diesen Umständen nahe, an Bei einer früheren Gelegenheit- wenn wir nicht irren, Nun, wir haben sie gesehen, denn heute ist ihre eine Renderung der Geschäftsordnung des Reichstages zu denken, im Jahre 1880- wurde bereits ein ähnlicher Antrag ge- erste Nummer ausgegeben worden, und wir müssen welche für solche Fälle die Disziplinarbefugnisse des Präsidenten stellt, weil Liebknecht sich bei einem Hoch auf den Kaiser sagen: wir sind zufrieden; der ganze wesentliche bezw. des Hauses erweitert, so erscheint es außerdem angezeigt, nicht erhoben hatte. Diesen Versuch wies der Reichstag nhalt der ersten Nummer beschäftigt sich mit den Weg der Verfolgung zu betreten, den die allgemeinen Strafzurück, als nicht verträglich mit der durch die Reichs der Sozialdemokratie. Der Gründer und verfassung verbürgten Immunität der Abgeordneten. geistige Leiter der Korrespondenz ist Herr von Köller, und Der betreffende Artikel( 30) der Reichsverfassung lautet: bezeichnend für Herrn v. Köller sowohl wie für die ReRein Mitglied des Reichstags darf zu irgend einer gierung, wie für die neueste Zacke im neuen Zickzackkurs Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen der in ist Ton und Inhalt des folgenden, die erste Nummer der Ausübung seines Berufs gethanen Aeußerungen Regierungs- Korrespondenz zierenden Artikels: verfolgt, oder sonst außerhalb der Versammlung zur Auf Antrag der Staatsanwaltschaft des föniglichen LandVerantwortung gezogen werden. gerichts I Berlin hat der Reichskanzler bei dem Reichstage die Damals wurde seitens derer, die auf strafrechtliche Ver- verfassungsmäßige Genehmigung dazu nach gesucht, daß der Abfolgung drangen, behauptet, daß die Immunität sich blos geordnete Liebknecht wegen Majestätsbeleidigung zur Untersuchung auf Abstimmungen und Reden erstrecke. Allein hiergegen gezogen wird. Es ist vorbehalten, den Antrag auch auf andere, wurde geltend gemacht, daß das Wort„ Aeußerungen" mehr noch zu benennende Abgeordnete der sozialdemokratischen Partei bedeutet als„ Reden"; und daß außerdem der Reichstag nach Artikel 27 der Reichsverfassung seine Disziplin selbst regelt. Dieser Artikel 27 lautet:
Der Reichstag prüft die Legitimation seiner Mitglieder und entscheidet darüber. Er regelt seinen Geschäftsgang und seine Disziplin durch eine Geschäftsordnung und erwählt seinen Präsidenten, seine Vizepräsidenten und Schriftführer. Hieraus erhellt, daß ein Staatsanwalt tein Recht hat, sich in das zu mischen, was innerhalb des Reichstagsfaales während einer Sigung von Abgeordneten durch Worte, Abstimmungen oder sonstige Aeußerungen gethan wird.
Feuilleton.
Im Exil.
24
[ Nachbruck verboten.] Roman von Georges Renard. Autorisirte Uebersetzung
-
auszudehnen.
Die Majestätsbeleidigung wird von der Staatsanwaltschaft darin gefunden, daß der Abgeordnete Liebknecht und andere Mit glieder der sozialdemokratischen Partei, als in der Sigung des Reichstages vom 6. d. M. vom Präsidenten des Hauses ein Hoch auf seine Majestät den Kaiser und König ausgebracht wurde, im Gegensatz zu den übrigen Mitgliedern des Hauses, die sich dem Herkommen gemäß von ihren Plätzen erhoben, in oftentativer Weise fizzen geblieben sind.
eine Demonstration in beleidigender Absicht gehandelt hat, findet Eine Bestätigung ihrer Auffassung, daß es sich hierbei um die Staatsanwaltschaft auch in den Bemerkungen des Abgeordneten Singer, die er den Vorhaltungen des Präsidenten: ein solches Verfahren entspreche nicht der Sitte deutscher Männer, nicht den
-
geseze weisen.
Daß der Reichstag die verfassungsmäßig nachgesuchte Ge nehmigung zur Einleitung dieser Verfolgung während der Sitzungs periode nicht versagen wird, dürfte im ganzen Lande erwartet werden, wo man eine Hinausschiebung des strafrechtlichen Einschreitens nicht verstehen würde. Hat der Reichstag als Vertretung der Nation doch selbst das größte Intereffe daran, Alles dasjenige zu schüßen, was dem Volke heilig ist und zu be kämpfen, was des Volkes Empfinden verlegt.
Durch die beabsichtigte strafrechtliche Verfolgung der betheiligten sozialdemokratischen Abgeordneten wird die von der Ver faffung gewährleistete Immunität der Abgeordneten in keiner Weise angetastet. Artikel 30 der Reichsverfassung schreibt ledig
lich vor:
Kein Mitglied des Reichstages darf zu irgend einer Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung semes Berufes gethanen Aeußerungen gerichtlich oder disziplinarisch verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen werden."
Er gewährleistet also die freie Abstimmung und die freie Meinungsäußerung. Im vorliegenden Falle handelt es sich aber weder um eine Abstimmung, noch um eine Meinungsäußerung im der Thatbestand einer strafbaren Handlung gegeben, für welche Sinne der angeführten Verfassungsbestimmung. Es ist vielmehr die Immunität des Artifel 30 nicht play greift, sondern deren Verfolgung nach Artifel 31 während der Sigungsperiode mit Genehmigung des Reichstages zulässig ist.
durch Zufall( der Zufall ist ja so zufällig) begegnete sie Tage neue Vorzüge oder, was ebenso viel werth ist, neue ihm jeden Morgen auf der Straße und tauschte dann einen reizende Fehler an ihr. Sie besaß eine anmuthige höflichen Gruß mit ihm. Wiederum durch Zufall begegnete Schüchternheit neben einer Kühnheit der Ideen, von der sie fie ihm zwei oder drei Mal bei Rosa Kranz. War es kein Bewußtsein zu haben schien. Sie machte aus ihrer ihre Schuld, wenn Herr Messant seit einiger Zeit häufig Unwissenheit in manchen Dingen kein Hehl, während sie in jenem Hause verkehrte? Gewiß war er liebenswürdig wieder überraschend schnell in Materien eindrang, in denen gegen fie, aber er machte ihr keine Komplimente, er man sie für gänzlich unwissend gehalten hätte: So erklärte Nur einmal hatten fich fie z. B., daß sie für die Theologie kein Verständniß besize Es war ein warmer, flarer Nachmittag im Juli. lagte ihr keine Galanterien. Langsam ging man in den schattigen Wegen des Gartens ihre Hände auf einem sehr schmalen Wege im Vorbeigehen und daß sie sich für ihre Person damit begnüge, der natürlich nur zufällig flüchtig gestreift, und beide Religion der ehrlichen Leute anzugehören. Oder sie bespazieren. Dann nahmen alle in der Laube Play, ja sie streckten sich sogar, unbekümmert um die Anstandsregeln der wichen sich da sofort erröthend aus. Korrekter konnte man tannte fast mit Bedauern, daß sie trotz des Beispiels ihrer Mutter und ihres Outels ein allerdings wenig vornehmes Gesellschaft, auf dem Rasen aus, auf dem Haufen von sich wirklich nicht benehmen. duftendem Heu in der Sonne trockneten. Unter freiem Annette hätte alles erzählen können, ohne lügen zu Vergnügen darin fände, mit den Armen und Geringen zu Himmel nahm auch das Gespräch einen zwanglosen, ver- müssen! Und doch brachten diese Begegnungen sie einander verkehren, ja sogar mit den Unwissenden. trauten Ton an. Jeder sprach von seinen Neigungen, seinen merkwürdig näher! Sie waren noch nicht einen Moment Wünschen, und Annette und René machten da eines an dem allein gewesen. Sie hatten noch nie von ihrer Liebe geWesen des andern erstaunliche Entdeckungen. Sie bemerkten, fprochen und sich doch alles gestanden. René kannte das daß sie dieselben durch Naturschönheiten ausgezeichneten Geheimniß, das Annette sieben Jahre in ihrem unschuldigen Orte, dieselben Komponisten, dieselben Blumen liebten, und Herzen gehegt hatte, und Annette wußte, daß René's fie waren entzückt, als sie diese Wahlverwandtschaft fest. ganzes Denten von ihr erfüllt war. Was sie aber nicht stellten. War diese Liebe für dieselben Objekte nicht eine wußte, war, mit welcher Inbrunst er das Hohelied der Offenbarung ihrer gegenseitigen Liebe? So liebten sie sich Liebe sang, das immer dasselbe und doch immer neu ist, durch die Vermittlung all dieser Dinge. Ja, es schien ihnen, welches die Liebenden seit Beginn der Welt erfinden und als wäre diese Harmonie ihrer Naturen bereits der Beginn wiederholen: ihrer Brautzeit. René war wie berauscht von Glück und Liebe, und wenig fehlte daran, daß er sein überschwängliches Glück in die ganze Stadt hinausrief.
Alpenblume, frühlingsfrisch und frei, Thaufrisch duftend Du wie holder Mai, Annette!
Meines Herzens lichter Sonnenschein Bist in goldenem Frohsinn Du allein, Annette!
Wenn Du sprühst von Schelmerei, in Lust, Athmet Balsam meine wunde Brust,
Annette!
Wo steckte denn die gestrenge Frau Roveray, daß sie von dieser Gefahr nichts ahnte? Sie war auf vierzehn Tage verreist. Sie leitete die Einrichtung der Wohnung ihres Bruders, der seinen Aufenthaltsort gewechselt hatte. Ihre Kinder waren allein zu Hause geblieben: Annette, die mitgehen sollte, hatte so flehentlich gebeten, sie mit Henri, der nach den Ferien nach Deutschland reisen sollte, um sich dort ein Jahr aufzuhalten, zurückgelassen! Uebrigens mißbrauchte fie ihre Freiheit auch nicht. Sie würde es nicht gewagt haben, ihrem Freunde ein Rendezvous zu geben. Nur weiter fortsetzen können, denn er entdeckte mit
Du bist gleich des Morgens Himmelsthaue Nings erquickend Wald und Aue.
René hätte dieses Lied zum Preise Annette's leicht jedem
René freute und wunderte sich zugleich darüber, in ihr Bestrebungen und Sympathieen zu finden, die auch die Er vermochte es sich zu erklären, als feinigen waren. Henri eines Tages, als Annette Ansichten offenbart hatte, die sicherlich weder aus ihrer Pension noch aus ihrer Familie stammten, sagte:
Nun sagen Sie einmal, wenn Sie es wagen, daß ich meine Schwester nicht gut erzogen habe!
Er dachte daran, welches Glück er empfinden würde, wenn sie erst sein Weib wäre, wenn diese schon jetzt bestehende Seelengemeinschaft noch inniger werden würde, so daß sie das Ideal der Liebesehe verwirklichten: Zwei Menschen, zwei Willen, die zu Eins verschmolzen sind.
Der glückliche René empfand in den lichten Augenblicken seiner Verzückung einige Unruhe, wenn er an Frau Roveren, die er doch unbedingt gewinnen mußte, dachte. Er sann darüber nach, wie er sich ihr nähern, wie er die Beziehungen zwischen ihr und seinen Eltern wieder antnüpfen könnte. Eine schwierige Aufgabe! Allein die Liebe ist die Königin der Welt. Die Liebe würde die Liebenden retten. Und indem er sich auf dem aveichen Kissen dieser Hoffnung ausruhte, genoß er langsang die reine köstliche Glückseligkeit der keimenden Leidenschaft.