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Heilage öes Vorwärts
Mittwoch, 2H.Kpril1H22
Schiedsspruch und Deckungsvorlagen Der Maifcierantrag in der Stadtverordnetenverfammlnng abgelehnt.
Die bürgerliche Mehrheit der Stadtverordnetenversamm-� lnng hat den von den drei Fraktionen der Linken «ingebrachten M a i f e i e r a n t r a g, der Arbeitsruhe in den Betrieben und Verwaltungen der Stadt fordert, gestern a b- gelehnt. Praktisch bedeutet dieser Beschluß nichts: denn trotz ihm werden die städtischen Arbeiter den 1. Mai durch Arbeitsruhe feiern, selbstverständlich unter Aufrechterhal- tung der lebenswichtigen Betriebe. Aber die Ablehnung zeigt, wie die Gesamtheit der Bürgerlichen sich zur Maifeier stellt und wie wenig ihr an der Vermeidung von Konflikten liegt. Die Beratung der Magistratsvorlage über den S ch i e d s- s p r u ch und die Tariferhöhungen begann mit langen Reden des Deutschnationalen Koch und des Unabhängigen Dr. Wey l, eines sonst sehr ungleichen Brüderpaares, das mit gleichem Eifer keifend und schimpfend gegen den Magistrat loszog. Zur Abwehr nahm Kämmerer K a r d i n g das Wort. Nachher führte eine Rüpelhaftigkeit des Unabhängigen Dr. K o e l i tz zu einem Tumult, der in eine regelrechte P r ü- gelei zwischen rechts und links auszuarten drohte. » In der gestrigen außerordentlichen Sitzung wurde der am 2. April von den 3 Linksparteien eingebrachte Dringlich- keitsantrag, zu beschließen:„In den städtischen Betrieben und Verwaltungen wird zur Feier des 1. Mai. abgesehen von Notstondsarbeiten, nicht gearbeitet. Der Ma- gistrat wird ersucht, diesem Beschluß beizutreten", mit 106 Stimmen der Bürgerlichen gegen 102 sozialistische abgelehnt. Ein vor. den Demokraten eingebrachter Dringlichkcitsantrag, der den Magistrat auffordern will, den Erlaß der Reichsregierung für die Reichs- beamten hinsichtlich der Maifeier auf die Arbeiter und Angestellten der städtischen Betriebe sinngemäß anzuwenden, fand auf der Linken Widerspruch und mußte zurückgestellt werden.— Vor Eintritt in die Tagesordnung klagte Z u b e i l kU. Soz.) den Wirtschaftsparteiler Tapezierermeister Wachsen öffentlich an, daß er mit Bezug' auf Zubeil in der vorigen Sitzung die Zwischenbemerkung gemacht habe: „Diesen Bruder kenne ich, der nur von Arbeitergroschen lebt und von Arbeitergroschen schon einmal Bankerott gemacht hat." Zubeil forderte den Herrn auf, diese Auslassung zurückzunehmen oder den Wahrheitsbeweis zu erbringen, er müßte ihn sonst öffentlich als einen elenden Verleumder erklären. Trotz dieser Heraus- forderung hielt es Herr Wachsen nicht für angezeigt, sich zum Wort zu melden.— In den A u f s i ch t s r a t der zu gründenden Nord.
S ü d b a h n- A.- G. wählte die Versammlung durch Zuruf die Mit- glieder Stadtbaurat o. D. B e u st e r(Dem.) und den Genossen Krüger.— Gegen Uhr begann dann die erste Beratung der heute noch durch einen Nachtrag seitens des Magistrats ergänzten Vorlage betr. die Erhöhung der Löhne der städtischen Arbeiter für April und M a i infolge des vom Reichsarbeitsministerium am 14. April gefällten Schiedsspruchs und Festsetzung der wich- tigsten strittigen Punkte für den 4. Manteltarif sowie Deckung der entstehenden Mehrausgaben der Werke. Seit ö bzw. 4 Uhr hatten die Fraktionen über die Vorlage beraten. Für das Plenum lag ein gemeinsamer Antrag der Soz. und U. Soz. vor, den Magistrat zu ersuchen, dem Schiedsspruch zuzustimmen und die daraus sich ergebenden Löhne baldmöglichst zur Auszahlung zu bringen, im übrigen in einem Ausschusse die Deckungsvorschläge usw. unverzüglich einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Von den Bürgerlichen war Verweisung der gesamten Vorlage an den Etatsausschuß beantragt. Die Diskussion ließ sich sehr weitschichtig an; Herr Koch sprach für die Deutschnationalen nahezu eine Stunde, Herr Dr. W e y l für die ll. Soz. beinahe ebenso lange, beide g r u n d- s ä tz l i ch in a b l e h n e n d e in Sinne. Der Kämmerer bat um Ueberweisung der gesamten Vorlage an einen Ausschuß, denn der Mogistrat könne den Schiedsspruch nicht gutheißen, solange er nicht wisse, woher er das Geld bekommen solle. Es sei ein Jammer, daß der Magistrat in seinen: Bestreben, die städtische Verwaltung durch diese verflucht schwere Zeit hindurchzuretten, nicht von allen Parteien unterstützt werde, daß es vielmehr immer noch Parteien gäbe, die nur aus Freude an der Opposition ihm entgegentreten. Diese Worte riefen einen Sturm von unerhör- ker Heftigkeit bei der Linken hervor, zumal unmittelbar darauf von der Rechten Schluß der Debatte beantragt wurde. In den u n- gl a u b l i ch e n tosenden L ä r m, der sich erhob und in dem es wiederholt zu Handgreiflichkeiten zu kommen drohte, platzte die Feststellung des Vorstehers hinein, daß Dr. Koclitz(U,- Soz.) dem Oberbürgermeister das Wort„Lümmel" zugerufen hotte. Nachdem mit vieler Mühe allmählich einigermaßen Ruhe geschaffen war, wurde Koelitz zur Ordnung gerufen. In der elften Stunde begann die namentliche Abstimmung über den Schlußantraq, für den auch die Sozialdemokraten stinunten, weil, wie Genosse Dr. L o h m a n n geltend machte, unter allen Umständen noch in dieser Sitzung die Abstimmung über den Schiedsspruch erledigt wer- den müßte. Der Schlußantrag wurde angenommen. Schiedsspruch und Dcckungsvorlage ivurdc� einem Ausschuß überwiesen.'
Eine Fälschung, die nicht klappte. 2ll4 Fälscher wurden zwei ungetreue PostauShelfer. ein HilfZ- sibaffner Edwin Riedel und ein Anshelser Rudolf U v m e i e r, der auf dem Haupttelegrophenamt beschäftigt war, entlarvt. Up- »neier. stahl zwei Vordrucke zu telegraphischen Post- anweis un gen und ging damit in die Wohnung Riedels, dessen Frau sie auf je 3000 Mark ausfüllte. Beide versahen sie mit den 11 u t e r s ch r i f t e n der PrüfungS stelle und Upmeier stempelte sie dann. Riedel hatte unterdessen einer Frau Z. in der Wieienslraße vorgespiegelt, daß er bei ihr ein möbliertes Zimmer mieten wolle und sie gebeten, einstweilen für ihn eingehendes Geld anzunehmen. Damit es ihr ausgehändigt werde, werde er es an ihre Adresie einsenden lassen. Riedel schmuggelte nach diesen Vor- bereitlingen die Anweisungen in den Verkehr ein und Frau Z. nahm orglos die Beträge an. Als wegen eines Formfehlers nachträglich eine Rückfrage einging, sing Riedel diese ab und beantwortete sie selbst. Dem Miifälicker Upmeier dagegen erzählte er, die Sache habe nicht geklappt, und er gab ihm von der Beute nichts ab. Als die Fälschungen entdeckt wurden, kam die Kriminal-Postdienststelle den Tätern bald auf die Spur und nahm gestern beide fest. Frau Riedel wurde auf freiem Fuß belassen.
Freunde der weltlichen Schule! Alle im Stadtbezirk Prenzlauer Berg wohnenden Eltern, die an den Aufbau weltlicher Schulen interessiert sind und ihre Kinder einer solchen überweisen wollen, werden gebeien, ibre Adressen an einem der nachstehend genannten Genossen cinzureicheii oder sich in die dort ausgelegten Listen einzutragen. EiNzcickmungen können erfolgen bei: Hans Wisdalskq, Nordkavstraße 1. vorn III, Friedrich Etzkorn, Tegnörstr. 8, vorn IV, Franz CallieS, Bornholmcr Straße 10, H. I. Albert Lorenz. Gleimstr. ö6, H. II, Herrn. Feschke, Carmen-Sylva-Str. 126. pt., Gustav Lachmann . Stargarder Str. 13, Otto Schulze. Jablonskistr. 87, H. I, Kreit, Cbristburger Str. 33, Ouergeb. l, Paul Neugebauer, Kniprodestr. 8, Alfred Götze . Bei- forter Str. 11. Paul Ieitner, Choriner Str. 31, Stfl. III, August Lewien, Christinenstr. 10, vorn ll. . Der Mindestpreis für einen Liter Petroleum ist von den Pe- troleum-Gesellschasten auf 13.80 M.(früher 80 Pfennig) festgesetzt worden. Der Reichsoerband des deutschen Seifenhandels und ver- wandtcr Zweige, der diese Mitteilung versendet, knüpft daran die Behauptung, daß selbst dieser Preis keineswegs den sonst üblichen Handelsgewinn enthalte.
Für Gesunöerhaltung öes Nachwuchses. Mehr Fürsorge für die kuberkulösen Kinder! An der Wiedergutmachung des schweren Gesund- heitsschodens, den der Krieg uns gebracht hat, muß die Iugendfürfortze mitarbeiten. Der Kampf gegen Krankhei: und Siechtum kann, je früher er einsetzt, desto besseren Erfolg haben. Besondere Maßnahmen zum Schutz tuberkulöser Kinder empfahl der Berliner Stadtmedizinalrat Dr. R a b n o w in einem auf Einladung der Schön ebergcr Aerzteoereinigung gehaltenen Vortrag über„Die Tuberkulose seit den letzten Jahren vor dem Kriege und ihre Bedeutung für die Jugendsür- sorge. In Berlin ihat die T u b e r k u l o s e st e r b l i ch k e i t, nachd.em sie in der Kriegszeit zugenommen hatte, in den Jahren nach dem Kriege wieder abgenommen. 1021 war sie hier sogar geringer als 1913: denn auf je 1000 Lebende kamen 1913 noch 1,57, dagegen 1921 nur 1,51 Tuiberkulosesterbefälle. Rabnow warnt ober davor, aus dieser an sich sehr erfreulichen Besserung etwa den Schluß zu ziehen, daß die Tuberkulosegefahr beseitigt sei. Die Abnahme der Sterblichkeit ist kein Beweis für eine Abnahme der Erkrankungen. Manches spricht dafür, daß die neuen Tubcrkuloseerkran- kungen besonders unter den Kindern nicht uner- heblich zugenommen haben. Im Waisenhaus waren 1921 unter den aufgenommenen Kindern 2.7 Proz. tuberkulöse, gegen- über nur 1,3 Proz. in 1909, und noch etwas ungünstiger ist dos Ergebnis im Kinderkrankenhaus. Als sicher ist anzunehmen, daß bei sehr vielen dieser Kinder die Tuberkulose zur Ausheilung kommen kann. Iii?, das besser zu er- reichen, müßte— verlangt Rabnow— die Jugendfürsorge gerade mit Bezug auf Tuberkulose viel s y st e m a- tisch er und rationeller, auch in finanzieller Hin- ficht, ausgebaut werden. Die nur Erholungsbedürftigen seien auf Spielplätzen und in Landausenthalt usw. zu schicken, da- gegen müsse man die wirklich Erkrankten oder stark Krankheits- verdächtigen in geeignete Anstalten geben, die unter sachgemäßer ärztlicher Ueberwachung stehen sollen, aber in einfachster Weise ge- baut und ausgestattet sein können. Rabnow betont, daß man f ü r wirklich lungentuberkulöse Kinder einen längeren Kuraufenthalt als den üblichen wird for- dern müssen. Für geeignet hierzu hält er L o n d s ch u l e n, in denen die Kinder ein bis zwei Jahre bei angemessenem Unterricht zubringen müßten. Gedacht sind wohl besondere Schulen, die zu diesem Zweck auf dem Lande einzurichten wären. Bei der gegen- wörtigen Wirtschaftslage sei freilich mit der Verwirklichung solcher Pläne in großem Maßstab kaum zu rechnen. Aber die Kosten l rauchten nicht übermäßig groß zu sein und könnten durch plan- mäßige Ausgestallunq des Verschickungswesens ganz oder doch zum größten Teil erübrigt werden. Die Versickcrungsträger. die an der Gesunderhaltung der Kinder auch ein großes finanzielles Interesse haben, müßten zu den Kosten heranaezogen werden. Wcniastens sollte ein Anfang mit der Verwirklichung dieser aussichts- reichen Pläne gemacht werden. Stadtmedizinalrat Dr. Rabnow mahnte die Aerzte, der Tuber- kulosefürsorge die größte Aufmerksamkeit zu widmen. In dieser Beziehung würde sich bei Einführung der F a m i l i c n v e r s i ch e- r u n q ein fehr donkbares Arbeitsfeld für die Aerzte erschließen. Die sachverständige Zuhörerschaft nahm seine Ausführungen bei- fällig auf._ Ein Mumienschreck. Daß der Tod eines Wesens, das vor etlichen tausend Jahren irgendwo in Aegypten wahrscheinlich auf die natürlichste Art ge- storben ist, heute Anlaß zu einem Mordgerücht gibt, dem der Mord- bereitschaftsdienst des Berliner Polizeipräsidiums mit peinlicher Sorgfalt nachgehen muß, ist sicher etwas durchaus Ungewohntes. Im Südwesten der Stadt war gestern ein Mordgerücht ver- breitet. Nach den vielen Morden der letzten Zeit wurde es auch so- fort geglaubt. Es erwies sich jedoch als falsch. Die Veranlassung war ein grausiger Fund auf dem Grundstück Porckstr. 4. Dort hatte hinter einem Bretterzaun auf einem Platze, den früher ein Droschkenkutscher benutzte, ein Tischler allerlei Holz lagern. Aus diesem heraus nahm man seit einiger Zeit einen Verwesungsgeruch wahr. Gestern fand nun ein Sobn des Tischlers den Ursprung dieses üblen Geruches in einer Kiste, die einen Menschen-
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Die Macht der Lüge. Roman von Johann Dojer.
„Es sieht böse aus hier nach der Demonstration," sagte er mit einem Kopffchütteln.„Du lieber Gott. — der Ausschank des Konsuls allein hat den Arbeitern nicht die Köpfe verdreht. Da muß wohl auch ein anderer noch geistigen Branntwein verteilt haben." Norby machte ein erstauntes Gesicht und lachte, während er sich aus seinen Spaten stützte:„Die Arbeiter?" sagte er. „Die haben mit der Verwüstung in dem Park nichts zu tun. Das machte eines Nachts der Sturm." Der Pfarrer wurde etwas verlegen und ging schnell weiter. Dieser Norby hatte seine eigene Art von Stolz. Er hatte wohl eine krankhafte Angst davor, daß ihn jemand be- dauern konnte. Der Pfad den Hügel hinan ist vom nächtlichen Regen schlüpfrig, aber jetzt glänzen die Laubbäume und die grünen Hügel in der Sonne. Die Bäche tollen zum See hinab, und rings auf den Feldern sieht man die Leute und Pferde beim Eggen. Edlich ist der Pfarrer auf der letzten Anhöhe, und da liegt die kleine Kate. Stube und Stall find in eins. Wenn nicht am einen Ende das Zaumzeug gehangen hätte, so konnte man nicht wisten, wo die Stube lag, denn ein paar kleine Fenster waren auf beiden Seiten sichtbar. Die Vortreppe ist gescheuert und Tannenzweige sind auf die Steine gestreut. Weil der Pfarrer erwartet wird. Der Pfarrer muß sich bücken, um hineinzukommen. Auch die Stube ist so niedrig, daß er den Kopf beugen muß. Auf dem Herd dampft ein Wasserkessel, der Fußboden ist weiß ge- scheuert und mit Wachholder bestreut, die Frau sitzt in ihrem Staat da, ein Gesangbuch in der Hand, und hinten im Bette liegt Lars Kleven unter einer alten Pelzdecke. Sein Hemd ist so weiß, daß es sicher erst angezogen wurde, als man den Pfarrer unten am Berge kommen sah. Der Pfarrer gibt erst der Frau die Hand und sagt guten Tag. und geht dann zum Bett hin. „Nun. wie geht's, lieber Lars?" Lars schweigt, kneift den Mund zusammen und sieht den Pfarrer an. Die Frau antwortet für ihn:„Ach, Gott besser's, ich hatte solche Angst, daß er mir sterben sollte, ehe der Herr Pfarrer käme."
Der Pfarrer nahm die Hand des Alten. Sie war Horn- hart und ganz kalt. Das gefurchte, wettergebräunte Gesicht liegt unbeweglich, die alten Augen blicken stumpf. Hin und wieder bewegt er den Mund. Er hat immer noch seinen Priem im Mund und lutscht an ihm. Der Pfarrer setzt sich. „Hast du Angst vor dem Tode, mein lieber Lars?" Die Frau nahm wieder das Wort.„Er möchte dem Herr Pfarrer wohl noch etwas beichten," sagte sie. „So, so!" der Pfarrer blickte den Alten im Bette milde an. Plötzlich wurde er damit überrascht daß der sterbende Mann einen braunen Tabaksstrahl auf den Boden spie: „Wegen der Gerichtsverhandlung," sagte er dann und sah den Pfarrer ängstlick) an. „Oh— die mit Wangen und Norby, ja?" „Er hatte hin gewollt und aussagen," meinte die Frau und schneuzte sich mit den Fingern die Nase.„Aber er hatte wohl nicht den Mut, gegen Norby auszusagen." Der Pfarrer blickte Lars erwartungsvoll an und dieser sah immerfort ängstlich auf den Geistlichen, während er wieder am Kautabak saugte. Endlich wollte er wieder etwas sagen, mußte aber erst ausspucken, aber diesmal besabberte er das weiße Hemd. „Glaubt der Herr Pfarrer, daß mir Gott gnädig sein wird?" „Ja— warum nicht?" Der Pfarrer lächelte. „Weil ich nicht hinging und die Wahrheit sagte, obgleich Gott der Herr mich darum bat?" „Bust du denn sicher, daß du die Wahrheit wußtest. Lars?" „Er hat wohl den Norby damals in die Stadt begleitet, als er unterschrieb," sagte die Frau, sie stand mit dem Ge- sangbuch am Tische und blickte den Pfarrer ängstlich an. Pfarrer Borring blieb sitzen und schaute eine Weile vor sich hin. „Und jetzt glaubt er, daß er keine Gnade findet." sagte die Frau und wischte sich die Augen.„Aber ich sage, Christus ist doch auch für diese Sünde gestorben?" Der Pfarrer blickte noch immer zu Boden. Aber er fühlte die Augen des Sterbenden gespannt auf sich gerichtet, und er wußte, daß er antworten mußte, wenn er in diese Augen schaute. Wäre jetzt Pfarrer Borring alleine und frei von der Umgebung gewesen, dann bätte er geantwortet:„Selbst wenn Christus um dem« Sünden willen gestorben ist. und
selbst wenn du ist den Himmel kommst, so kann es ja Wangen infolge deiner Sünde noch recht schlecht ergehen." Solche Worte schwebten ihm auch jetzt vor. Aber aufblicken und den alten ängstlichen Augen begegnen,— das war etwas anderes.- „Glaubt der Herr Pfarrer, daß ich Gnade finden werde?" kam es endlich vom Bett her. Und jetzt mußte der Pfarrer antworten. „Ja," sagte er und blickte auf. „Wollen der Herr Pfgrrer für mich beten," sagte Lars und wälzte den Kautabak auf die andere Seite. Der Pfarrer stand auf und faltete die Hände. Aber was sollte er beten? Er muhte an Wangen denken. Wer die Sonne schien so freundlich auf den wachholder- bestreuten Boden und warf einige Streifen auf das alte Fell und das Hemd des Kranken. Das war wie ein Zeichen von ihm, der sie über Gute und Böse scheinen läßt, schien es dem Pfarrer. Und hier in der kleinen Stube war es so ärmlich und hilflos, und die beiden alten Menschen erfüllten chn so mit Mitleid, daß er dann anfing zu beten, Gott möge barm- herzig sein. Als er fertig war, weinte die Frau und schneuzte sich wieder mit den Fingern. Der Sterbende lag mit über dem Fell gefalteten Händen, die Tränen flössen ihm, und er vergaß seinen Kautabak im Munde. Als der Pfarrer sich wieder gesetzt hatte, spie der Alte wieder aus und sagte:„Wollen der Herr Pfarrer mir, das Heilige Wendmahl reichen?" Mechanisch erhob sich der Pfarrer und öffnete seinen Koffer. Er hörte draußen vor dem Fenster die Schwalben vorbeifliegen in den lichten Tag hinein, und die Stare, die ihr Nest unter der Dachrinne hatten. Das war wieder wie ein Zeichen, daß das Leben größer sei, als der Menschen Ein- ficht in Recht und Unrecht. Als er in seinem Talare stand und den Wein in den mit- gebrachten Kelck) gegossen hatte, sagte er mit gesenktem Kopf: „Hör', Lars, die Schwurgerichtsoerhandlung ist in der nächsten Woche. Willst du nicht deine Frau bitten, an deiner Stelle hinzugehen und auszusagen? Ich kann ja bezeugen, was du jetzt gebeichtet hast." „Doch, ja," sagte der Alte und blickte fehnsüchtig nach dem Kelche. Die Frau seufzte auf ihrer Bank, ging dann aber ans Bett, nahm den Priem aus dem Munde ihres Mannes und legte ihn auf die Fensterbank. (Fortsetzung folgt.)