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Nr. 210 30. Jahrgang
Heilage öes VorWarts
5reitag, Sen S. Ma! 1022
?m öunklen Rathaus. Verhinderung einer Streikdebatte in der Stadtverordnetenversammlung.
Rechts unö links»fingst vor der eigenen«tourage". Weiß einer ein Parlament, in dem es noch konfuser zu- geht als in der Berliner Stadtverordnetenversammlung? Die Radikalen von rechts wie die von links geben sich alle Mühe, das Rathaus immer mehr zu einem Komödienhaus werden Zu lassen. Gestern wurde, um die notwendige Ein- bringung des neuen Stadthaushaltplanes und auch die Er- lcdigung anderer dringender Beratungsgsgenstände zu er- möglichen, der Versuch gemacht, trotz Streik und Lichtmangel zu einer Sitzung zusammenzutreten. Aber vorerst verlangten die K o m m u n i st e n eine Abrechnung mit der Polizei wegen der Vorgänge am Dienstag, während die Deutschnationalen eine schleunige Kundgebung gegen den Proteststreik für nötig hielten. Den Kam- munisten wurde von rechts die Dringlichkeit ihres Wunsches bestritten, dagegen legten Unabhängige und Kommunisten sich eifrig ins Zeug für eine sofortige Beratung des Antrages der Deutschnationalen. Als dann aber Ernst gemacht werden soüte, fiel den Deutschnationalen das Herz in die Hosen, und sie selber bemühten sich um Hinauszöge- rung der vorher von ihnen als dringlich bezeichneten Sache. Diesem erheiternden Schauspiel folgte ein zweites, das noch amüsanter war. Unabhängige und Kommunisten blieben da- bei, daß man den Antrag der Deutschnationalen vorwegnehmen müsse. Ob das geschehen solle, darüber wurde auf Antrag der Unabhängigen namentlich abgestimmt. Und nun waren es die Unabhängigen u n d K o m m u n i st e n, die sich als Komödianten zeigten. Beide Fraktionen verließen den Saal, um Vefchlußunfähigkeit herbeizuführen. So wurde die sofortige Beratung von denen verhindert, die am lautesten nach ihr gerufen hatten. Wer will solche Leute noch ernst nehmen? « Der Proteststreik der städtischen Arbeiter und Angestellten hat seinen schwarzen Schatten auch ach die Donnerstagssitzung ge- warfen: Das Rathaus war ohne Licht! Beim Scheine von etwa 30 Kerzen wollte man gleichwohl, wie der Borstcher er­klärte, den Versuch machen, von den 88 Punkten der Tagesordnung wenigstens diejenigen zu erledigen, die die dringendsten waren und am wenigsten Anlaß zu heftigen Auseinandersetzungen zu treten schienen. Von der Einbringung des Etats für 1922 durch den Kam- mcrcr war also schon jetzt nicht mehr die Rede. Wie üblich, begann es mit Dringlichkeitsanträgen. Von den Kommunisten wurde in einem solchen Antrag die Forderung erhoben, den für das Anrufen der Polizei verantwort- lichen städtischen Beamten zur Verantwortung zu ziehen. Der Widerspruch von rechts erzwang die Zurückstellung. Dann lies der folgende Dringlichteitsantrag der Deutschnationalen ein: .Städtische Arbeiter und Angestellte haben heute wieder einmal, trotzdem ihre Forderungen von der Mehrheit der Stadwerordneten- Versammlung durch Beschluß vom 2. Mai bewilligt worden sind, den Verkehr in Berlin   lahmgelegt und dein wirtschasi- lichen Leben Berlins   schwere Nachteile zugefügt. Aus mehreren Arbeitsstätten sind Arbeitswillige init Gewalt von der Arbeit weg- geholt worden. Es wird daher beantragt, den Magistrat zu er- suchen: I. sofort geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um durch eine geordnete Tätigkeit der städtischen Werke das Wirtschaftsleben Berlins   vor einer Wiederholung derartiger Schädigungen ficherzu- stellen: 2. diejenigen städtischen Arbeiter und Angestellten, die den Streik inszeniert hoben, nicht wieder einzustellen bzw. fristlos zu entlassen und gegen die Teilnehmer des Streiks nicht bloß die Lohn- entziehung für die versäumte Arbeitszeit, sondern auch eine geeignete Maßregelung eintreten zu lassen." Gegen die Dringlichkeit dieses Antrages wurde auf keiner Seite Widerspruch erhoben. D i t t- mann(U. Soz.) beantragte, ihn sofort an erster Stelle zu be- raten. Dagegen wandte fich der Vor st eher mit der Androhung, die Sitzung sofort zu schließen, wenn sich lange Geschäftsordnunqs- dcbatten anknüpfen sollten, dann aber auch deswegen, weil der Antrag zu heftigen Auseinandersetzungen und unliebsamen Weite- rangen führen könnte. Zunächst müßten die dringendsten
IRückstände aufgearbeitet werden, dann könnte zum Schluß I dieser Antrag herankommen. Die Deutsche Volkspartci trat dem Vorsteher durch Dr. N e u m a n n bei, ebenso unter dem Hohnge- lächter der Kommunisten der Antragsteller L ü d i ck e, desgleichen D o v e(Dem.), der aber nicht unterließ, auf diese Inkonsequenz der Urheber des Dringlichkcitsantkages hinzuweisen. Dittmonn be- harrte bei seinem Antrage und hielt den Deutschnationalen vor, daß sie nunmehr Komödie spielen zu wollen scheinen. Es könne vor Erledigung dieses Dringlichkeits- antrages überhaupt nichts verhandelt werden. Gegen die These des Vorstehers, daß die Versammlung als Verwaltungskörperschait Vcrwaltungsarbeit zu leisten habe, legte der Kommunist Dr. R o s e n- b e r g als gegen einDiktaturgelüst" des Vorstehers Protest ein. Dem Umstand, daß sofort von feiten der Demokraten der VerHand- lung des Antrages widersprochen sei, daß der Vorsteher diesen Widerspruch aber überhört habe, wurde kein Gewicht beigelegt. Schließlich fand über den Antrag Dittmann namentliche Abstimmung statt, wobei die Kommunisten und die Unabhängigen den Saal verließen. Es wurden nur!l)ö Stimmen abgegeben und schon gegen 6 Uhr mußte, wieder einmal wegen Beschluß- Unfähigkeit, die Sitzung abgebrochen werden. Die nächste Sitzung findet am Dienstag um 6 Uhr statt. Den Etat für 1922 wird der Kämmerer am nächsten Donnerstag einbringen. »Die Sünde wiöer das 6lut'. Beleidigungsklage Dr. Dinkers gegen dasBerliner Tageblatt". Vor dem Schöffengericht Berlin-Mitte   wurde am gestrigen Donnerstag die Beleidigungsklage des Verfassers der antisemitischen SchriftDie Sünde wider das Blut", Artur Dinier, gegen den ver- antwortlichen Redakteur der Wochenausgobe desBerliner Tage- batts", Dr. Leonhard Birnbaum, verhandelt.?n Nr. i5 dieses Blattes vom 5. November 1919 war unter der Spitzmarke:Anti- semitismus als Geschäftsobjekt" eine Kritik des Dinterschen Buches erschienen, in der dem Verfasser vorgeworfen wurde, daß er in seinem Roman, der in Wirklichkeit eine Hetzschrift gegen das Judentum darstelle, das Kol Nidre  -Gebct sowie Zitate aus dem Talmud und Schulchan Aruch in tendenziöser Weise gefälscht habe, daß er einen versteckten Kampf mit vergifteten Waffen führe und mit seinen antisemitischen Schriften sein Geschäft- chen machen wolle. Auf Grund dieser Behauptungen hatte Dr. Dinier die Beleidigungsklage erhoben. In der Verhandlung erklärte Dr. Birnbaum, Dinters Buch sei geeignet, den Rassenkampf in Deutsch  - land im schlimmsten Maße anzufachen. Es beleidige die Ange- hörigen des jüdischen Stammes auf das schwerste, kränke sie in ihrer Ehre als deutsche Staatsbürger und ziehe sie durch den Schmutz. Der Kläger   Dr. Dinter erwiderte hierauf, daß von einer jüdischen Zentrale aus, die aufzudecken ihm kürzlich gelungen sei, ein planmäßiges Kesseltreiben gegen ihn und die Führer der deutschvölkischen Bewegung eingesetzt habe. Die in seinem Buch aufgestellten Behauptungen über das Kol Nidre-Gebet und den Talmud feien keine Fälschungen, sondern objektiv erwiesene Wahr- heiten. Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Klee betonte demgegenüber, daß es keine jüdische Zentrale oder eine ähnliche Ein- richtung gebe, die Dr. Dinter verfolge, sondern daß dieser vielmehr in mittelalterlicher Roheit gegen 690 990 deutsche   Staatsbürger kämpfe, die im Kriege ihr Deutschtum mehr als hinreichend be- wiesen hätten. Was die Frage der von Dinter verübten Fälschungen beträfe, so seiDie Sünde wider das Blut" im großen und ganzen als eine einzige Fälschung zu bezeichnen. Ge- heimrat Strack, in ollen TalmudiFragen eine unbestrittene Auto- rität, habe in einem Gutachten über das Buch wörtlich gesagt:Ich als evangelischer Christ würde mich nicht wundern, wenn jemand, der solche Angriffe gegen die christtiche Religion richten würde, als böswilliger Verleumder bezeichnet würde." Nach weiteren Ausfüh- rungen des Verteidigers Rechtsanwalt Cohn sowie des Rechts- beistands Dinters, Rechtsanwalt Dr. Bartelt, beschloß das Gericht, die Verhandlung zu vertagen und zum nächsten Termin Gutachten von Geheimrat König sowie von dem durch den Kläger als Sach- verständigen benannten Chefredakteur Dr. Bischoff-Leipzig   einzu- fordern.
karten, Kokain unö Morphium. Aus dem Leben eines Spielers. Durch unbesiegbare Spielleidenschast, durch Kokain- und M o r p h i u m g e n u ß hat sich der Kaufmann und Automobilhändlcr Hermann Lücke materiell und körperlich vollständig ruiniert. Cr stand wegen Verschiebung ihm nicht ge» hörender Automobile im Werte von vielen hunderttausend Mark unter der Anklage des Betrugs und der Unterschlagung. Lücke betrieb im Westen ein großes Automobilgeschäst, hatte einen umfangreichen Laden mit großen Schaufenstern, in welchem immer eine größere Zahl von Automobilen zur Schau gestellt wurde, die bei ihm von den Besitzern zur Verkaufsoermittlung eingestellt waren. Der Angeklagte nahm viel Geld ein, brachte aber die m ei st en Nächte am Spieltisch zu und verspielte alle seine nicht unbedeutenden Verdienste aus seiner Geschäftstätigkeit. Er hatte schon vom 14. Lebensiahre an dem Glücksspiel gefrönt und ist dann dem Spielteufel vollständig zum Opfer gefallen, so daß er schließlich nur noch an den Spieltisch dachte und Frau und Kinder immer mehr vernachlässigte, so daß die Fa- milie darben mußte. Obgleich er fortgesetzt Pech beim Spiele hatte, konnte er diese krankhaste Leidenschaft nicht mehr überwinden und es gingen viele, viele Tausende in den Wind. Er wurde dann auch Morphinist und Kokainschlucker und sein Nervensystem wurde so ruiniert, daß ihm ein Pfleger gestellt werden mußte. Vorher hat er noch dengroßen Schlag" gemacht, der ihn nun auf die Anklagebank geführt hat. Er verkaufte sein Geschäft mitsamt den ihm nicht gehörigen prachtvollen Automobilen für 399 999 M. an zwei Kausleute,"entfloh mit dem Gclde nach Hamburg   und hat dort die ganze Summe am Spieltisch verloren. Er ist zurzeit völlig apathisch. Während das eine Gutachten ihn zwar für stark minderwertig hält, aber nicht für geisteskrank im Sinne des Z öl StGB., gab Sanitätsrat Dr. Lahnsen der festen Ueber- zeugung Ausdruck, daß der Angeklagte nicht für sein« Tat verant- wortlich zu machen sei. Er wurde denn auch vom Schöffen- gericht freigesprochen. Daraus ergab sich auch die Frei. jprechung der beiden wegen Hehlerei angeklagten Kaufleute, denen die Rechtsanwälte Dr. Puppe und Dr. Klee zur SAte standen.
Vie Jugenö für ö!e Republik. Die Arbeiterjugend ruft auf, für die Republik   zu demonstrieren. Am 7. Mai wird die Arbeiterjugend Groß-Berlins in Potsdam   ihren Jugend tag veranstalten. Am Sonntag wollen die Massen der arbeitenden Jugend durch Potsdams   Straßen ziehen und über ihren Zügen werden rote und schwarzrotgoldene Fahnen wehen: sie will zum Ausdruck bringen, daß auch Jugend zur Republik   steht, daß aus den Tiefen Kräfte wachsen, stark und freudig genug, dem neuen Staat zu dienen. Sie will als arbeitende Jugend ihren Willen zur hingebenden Mitarbeit am Wohl des Ganzen bekunden und beweisen, daß in den Herzen der jungen Generation unseres Volkes die Republik der Weimarer   Ver- fassung lebt. In Potsdam  , der Stadt des alten kaiserlichen Deutsch- lands, wird die Arbeiterjugend Berlins   dieses Treubekenntnis zur Republik   ablegen. Alle, die sich mit der Jugend, der Republik   und der Arbeiterklasse verbunden fühlen, wüssen am Sonntag ihre Stimme mit erheben. Die Linicnumbenennungen bei der Straßenbahn. Die vielfachen Aenderungen in der Linienbezeichyung der Straßenbahnlinien durch Umlegung, Zusammenlegung oder auch Neueinrichtung sind vielfach von den Benutzern der Straßenbahn als eine Verkehrserschwerung kritisiert worden. Tatsächlich bezweckt die Direktion der Straßenbahn mit dieser Aenderung der Bezeichnung der Linien eine Vereinfachung und Erleichterung im Zurechtfinden. Sämtliche Straßenbahnlinien werden durch die Untnummerierung in bestimmte Gruppen zusammengefaßt, die sich nach der Wegstrecke und dem Ziele der Linien richten. Solche Linien, die sich nur durch Abweichungen in der Linienführung auf den End- strecken von einander unterscheiden, erhalten ähnliche Nummern, z. B. ist die Linie 79 in die Linie 178 verwandelt worden, weil sie mit der Linie 76 größtenteils gleichläuft. Ebenso sind andere Num- mern nach den Richtungen gewählt, wohin sie verkehren. Die Num- mern unter 19 sind Ringlinien, die Linien 11, 12 usw. bis 19 ver- kehren nach Moabit  , die Linien mit Nummernbezcichnung in den Zwanzigern fahren nach dem Norden usw., so daß bei der Durch- führung der Umnunsmerierung schließlich die Möglichkeit einer leichten Orientierung geschaffen wird.
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Die Macht der Lüge. Roman von Johann Böser.
Am einen Tischende war für den Ehrengast eine Art Hoch- sitz gebildet, ihm zur Seite saß seine Frau, auf der anderen die Frau des Amtsrichters. Und wie Rorby über diese Tafel blickte, all diesen hübschen Damen in den hellen Seiden- kleidern diese hervorragenden Männer mit den steifen Hemdbrüsten da muhte er sich zu seiner Frau wenden und flüstern:Es ist ja hier genau wie auf unserer silbernen Hochzeit!" Während der Suppe geriet Einar in eine politische Dis- kussion mit einem Reichstagsabgeordneten ihm gegenüber. Mehrere mischten sich hinein, und Einar wurde hitzig. Aber plötzlich war es, als ob ein Unsichtbarer ihm einen Nasenstüber versetzte, und eine inere Stimme rief ihm zu:Ja, Einar, urteile du nur streng über andere, du bist selbst ja solch ein Held!" Und mit einemmal senkte er den Kopf und schwieg, und fühlte, daß er rot wurde. Laura hatte wirklich den Forstkandidaten zum Tischherrn bekommen, und wenn er auch ihr neues Kleid noch nicht be- wundert hate, erschien ihr doch alles wie in einem wunder- baren goldenen Nebel, und sie träumte sich fast auf chrer eigenen Hochzeit. Wenn das Essen zu Ende ist, müssen Sie mir etwas be- hilflich fein," sagte er zu ihr. Wobei? fragte sie gespannt und bemühte sich, eine widerspenstige Locke aus der Stirn zu streichen. Das erfahren Sie jetzt noch nicht, warten Sie nur ab." Als der Braten endlich kam, stand der Direktor der Bolls- Hochschule auf und schlug an sein Glas. Jetzt kam für Frau Thora   der große Moment, und si> fühlte ihr Herz vor Freude und Stolz klopfen. Denn zwischen dem Direktor Heggen   und Knut Norby waren so viele Streitig- leiten gewesen. Aber jetzt stand Heggen dort und sollte die Festrede auf seinen Widerpart halten. Und das war ihr Werk. Auch zwischen dem Direktor und dem alten Amts- klchter hate es viele Mißverständnisse gegeben. Aber jetzt hatte sie Heggen   neben die Tochter des Amtsrichters gesetzt, denn heute abend sollten sich alle gegenseitig finden und verstehen.
Ist es nicht ein stattlicher Mann?" flüsterte sie ihrem Tischherrn zu und blickte auf den Redner. Die Sonne war schon fast untergegangen, ihre letzten Strahlen spielten in den schönen Gläsern auf den Tischen und ließen die Tulpen in den großen Blumensträußen erglühen. Die Gabeln und Messer hörten cuf zu klappern und die Gesichter richteten sich auf den stattlichen Direktor. Seine Stime klang bewegt. Frau Thora   hatte ibn nie so schön reden hören, wie jetzt, da er für seinen alten Gegner sprach. Er nannte dieses Fest ein Ereignis für die Gemeinde. In der einen Hand hielt er sein Glas, mit der anderen fuhr er sich durch seinen Bart und schaute durch seine Brille ins Weite. Die Sonne beleuchtete seine schöne Stirne. Dies sei ein Ereignis, denn noch nie habe er so völlig ver- schiedene Menschen zu einem gemeinsamen Zweck vereinigt ge- sehen, im gemeinsamen Drange, etwas Gutes zu tun. In unserem schönen Lande sei es immer noch so, daß die Menschen sich durch jeden Quark und Nichtsnutz entzweien ließen. Aber das Fest heute sei wie das Zeichen einer neuen Zeit. Wie Olaf von Stiklestad, glaubte er über das ganze Land zu sehen, mit seinen blauen Bergen und tiefen Fjorden, über Dorf, Stadt, in tausend Herzen, und er sehe den Tag kommen, daß alle Menschen sonntäglich zusammenkämen, sich brüderlich vereinigten zum Kampf gegen alles Schlechte und sich vereinten, dem zu helfen, der Unrecht leide. Welcher Religion, welcher Partei wir auch angehören in einem werden wir hinfort einig sein, daß das rein Menschliche über allem Zwist steht. Und wenn der Mensch Norby verfolgt wird und mit Schmutz beworfen, wie neulich, dann eilen wir herbei und schließen den Brudering um ihn und sagen:Hier sind wir, deine Brüder und Schwestern, Knut Norby. Wir wollen dich reinwaschen. Hier sind wir!" Während dieser ergreifenden Rede war kaum ein Atemzug zu hören. Nur oben am Tische erklang ein leises Weinen. Es war Frau Heggen, sie weinte immer, wenn ihr Mann sprach. Immer mehr Gesichter wandten sich nach und nach von dem Redner auf die Ehrengäste. Frau Norby lächelte, die Augen voller Tränen. Aber Norby sah zu Boden und schüttelte bescheiden den Kopf, als wolle er sagen:»Nun aber Schluß, Hcggen!" Als endlich die Rede zu Ende war und man ausstand, um den Ehrengästen zuzutrinken, brüllte der Sägemüller:Hoch soll'n sie leben, Norby und Fraul Hipp, hipp hurra!" Des
Sägemüllers ausgelassene Stimmung riß alle mit und sie sangen und schrien hurra. Ingeborg hatte Tränen in den Augen. In ihr war eitel Freude, sie dachte daran zurück, wie geduldig der Vater jede Verfolgung ertragen hatte, sie dachte an ihre Gebete, und sah unwillkürlich nach oben:Danke, mein Gott," dachte sie daß du mich erhörtest." Und ihr war, als schwebten um die Häupter der Eltern eine Schar guter Geister. Jetzt blicktS sie die Mutter an. Beide hatten sie Tränen in den Augen und lächelten. Sie erinnerten sich der Nacht, als sie nach den Arbeiterumzügen auf Norby nicht wagten, sich zu Bett zu legen. Marit Norby war es, als spülten ihre Tränen allen schlimmen Argwohn ab, und das war eine so schöne Empfin- dung, daß sie immerfort lächeln mußte. Aber es wurde noch schlimmer, als nun Frau Thora   von Lidarende sich erhob nachdem die Gabeln und Messer eine Zeitlang wieder geklappert hatten und die Rede auf sie hielt. Hier schlug ihr das Herz einer Frau und Mutter ent- gegen. Sie sprach von Martis Kampf, um ihren Mann in seinem Unglück aufrechtzuerhalten, während sie gleichzeitig bei dem todkranken Sohn wachen mußte. Das war eine Tat, eine weibliche Heldentat, wie sie selten bei Festen erwähnt wird, aber die so oft, so oft im stillen geschieht. Niemals hafte eine Frau so gut gesprochen. Da stand sie. so schlank und jung, trotz ihrer fünfundvierzig, so voller Feuer und Herzensgüte. Man mußte sich darüber wundern, daß diese Wärme sie nicht überwältigte und sie nicht in Weinen ausbrach. Sie lächelte die ganze Zeit, obwohl ihre Augen voller Tränen waren. Alle mußten zugeben, daß sie schön aussah, in ihrem einfachen schwarzen Kleide mit dem kleinen weißen Spitzenkragen um den Hals. Kein Wunder, daß ihre Worte so von Herzen kamen, denn sie dachte die ganze Zeit an ihren eigenen Sohn, den kleinen Gunar von Lidarende, der jetzt mit Keuchhusten zu Bett lag. Das Prosten und Hurrarufen für Frau Norby war obren» betäubend, und Marit brach in lautes Schluchzen aus. Denn das war wahr, es war eine schlimme Zeit für sie gewesen. Bei der Rede über seine Mutter und seine Krankheit wurde Einar mitgerissen, und bewegt erhob er sich, um mit seine» Eltern anzustoßen. Fortsetzung folgL)