tte. 524 ♦ 34. Jahrgang
2. Heilage öes vorwärts
Sonntag, 5. November 1422
Wollte man eine Legende über ihn schreiben, sie müßte so de- ginnen: Als der Satan auf Berlin spuckte, entstand der Potsdamer Platzl Er ist Berl ns Schoeckenskammer und sein Lachkabinett, der satanisch brodelnde Kessel mit der diabolischen Großzügigkeit, der immerfort rollende Film: ,Weltstadtverkehr�. Auf den ersten Blick ein roüft-s Durcheinander» und Aneinander- uorbeigeschiebe und»gehaste von Elektrischen, Lastautos, Wogen und Wägelchen, Autobussen, Droschken, Autos und Fahrrädern, mit fluchenden, fuchtelnden, laufenden, springenden, sicheren und nervösen, zappelnden, zitterirden, zögernden, ängstlichen Menschen. Ringsum Rattern und Knattern, Hupen und Klingeln, Kommandieren und Schimpfen. Ucber allem liegt in der Luft der Schrei:„W är' ich er st'rüber!"— Der Berliner flucht und der Provinzler zittert, die Jugend witzelt und der Afthmotiker keucht. H er werden die einen zu sicheren, selbstbewußien, bewunderten Grobstadtakrobaten, oie anderen zu mitleidig belächelten, beschimpften, bestürzten.armen Würmern". Um sie brandet und braust es: sie sehen sich schon über- fahren und im Leichenschauhaus ausgestellt. Da hebt die brav« Berkehrsschupo—„der ruhende Pol m der Erscheinungen Flucht", für die gichtigen alten Herren und die verängstigten Tonten im Rcuruppiner Kapotthütchen die lebende Rettungsinsell— das Signalhorn. Ein Signal: an jeder der Straßenecken hebt sich ein Schupoarm, und schon stockt der Vorkehr und stauen sich Wagen auf Wagen, Elektrische auf Elektrische, Autobusie und Rodler und warten. Nicht umsonst warnt am Rande de» Platzes, der wie Londons Cheapside und New Porks S.-Avenue-Ecke gefährlich und heim» tückisch werden kann und schon so manchem Leichtsinnigen das Leben gekostet hat, ein Sanitätsschrank mit Tragbahre und Verbandzeug. paffontea. Ein großer Teil der Passanten ist sicher und gewandt; er kennt den Dreh, und dos Alltägliche und Gewohnte machte ihn gelenkig und helle und lehrte ihn, sich prompt und sicher mittenmang durch Elektrische, Wagen und Räder ungerädert durchzuwinden. Aber die anderen-- 1 Sie sind Schupos, Kutschern, Chauffeuren und Radlern rn(Brauel vor dem Herren. Da ist z. B. jener ältere Herr, der durchaus interessiert seine Zeitung'M Gehen liest: ein Kutscher kann noch im letzten Moment seine Lies« holten: ein Chauffeur muß bremsen. Der Kuticher flucht:„Oller Dusiel, tret ma de Liese nich uff de Beene! Se sinn' woll taubstumm, wat?", der Chauffeur g bt's ihm von drüben:„Varrickter Affe, de broochst mo de Zeitung nich usf'n Kühla zu kleb'nl Ick kann se ma selber koofen! Dostehstel" Ein Radler will ausweichen: der Herr, wie au» dem Schlafe geweckt, läßt seine Zeitung fallen, springt entsetzt beiseite und— dem Radler in die Schechen ; ein Schwankon und beide liegenl Dar Kuddel» m u d d e l i st fertig: dos Signolborn meldet sich, und die Der- kehrsstä-unq ist da. Etwas später: ein Kollege de» Herrn von eben, nur ohne Zeitung: er träumt im Wachzustande: er denkt vielleicht an sein Rendezvous, oder welch« von den drei Normaluhren hier um Gotteswillen seine„Ieliebte" gemeint hat, oder an den Dollar— halten oder nicht halten!—, oder an die neuen Preis«, da— fährt ihm ein Auto fast auf die Zehen. Er wacht auf, der Träumer, sieht sich unfaßbar um, zittert und bebt: der Chauffeur hatte noch gerade zur rechte» Zeit scharf gebremst.' D'e neue Verkehrsstörung ist wieder da. Der Chauffeur klettert fluchend au» seiner Koje und fuchtelt mit seinen geballten Fäusten dem armen Wurm vor den Augen:„Ihn' ham se woll die Oogen mit Marjarin« zujeschmiert: oda ham Se Ihren Vastand noch bei Wertheim in de Jarderobel Denn sehn Ce'n mal holen! Sie--!" Ein anderer:.Nu sag' mal, Mensch, warum bist« nur ufsjestanden. wenn De noch nich' aus- jeschlofen hast?!?" Ein Dritter:„Na. Ausust, beruhise Dir, ick hätt'n schonst jratis in de Charit? jefahren! Ick bin'n anständijer Mensch!" Inzwischen hat der Schupo geschlichtet, der Chauffeur angekurbelt und der Verkehr geht weiter bis zur nächsten Störung, die bald da ist. Caf£s uns Platzanwärter. Der Auflauf verströmt: die Pasianten stehen wieder aus den Bürgersteigen und warten, bis ihr Weg frei wird, oder verziehen sich
in eines der Cafes zu einem Kaffee, einem Rendezvous, einem Geschäftsabschluß. Denn auch solche werden hier ge- tätigt, von der Koks- und Juwelenschiebung bis zum großen Luft- gefchäft, vom kleinen reellen Verkauf tos zum großen ehrlichen Handel. In allen Cafes—«ine jede der sechs Ecken besitzt eins!— ist fast ständig Hochbetrieb. Und doch hat jedes der Cafes sein« Eigenart: Josty seine große Lauskundschast, Fürstenhof und Polast ihre soliden und unsoliden Pärchen, ihre Wertheimkundschost und ihre Wannsecabonnenten. Bellevue seine vornehmeren und„ge- büldeteren" Leute, Gelegenhatskunden au» dem Westen, dazwischen lüsterne Witwen und bessere allemsitzende Mädchen, solid« und kredit- fähige Stammgäste aus dem Geschäftsviertel und die üblichen Talmi- gents. Der Clou ist Vaterland mit seinen Konzertenthusiasren, seinen Zeitungslcsern bei einer Boa-L>. seinen vielen Pärchen und— „rleinen Mädchen". Die letzteren gehören zum«.fernen Bestände per Platznnwärter. genau wie das Heer von Blumen- fr a u e n, Ob st Hökerinnen. Zegarettenfrltzen und «chokoladenmaxen o. G.(ohne Gewerbeschein», den Schuh» Putzern und Z e i t u n g» h S n d l e r n. die da» Bild buntfarbig kolaneren und erheitern. Wer Berliner Bon-Ton kennen lernen will, muß bei einer Blumenfrau stehen bleiben und lauschen:.Na. lunger Herr, n schönen Strauß für'» Fräulein Braut?".N' pracht» oollct Bund Alpenveilchen für die Frau Iemahlin?" Denn sind S» aber Hahn im KarbT„Scb'n Se mal, det Iedicht von.'wr Chry- («thenjel.Wat Sie nich' allet fagen, die Chrysanthemen sollen mch frisch sind! Wenn Sie man noch so frisch wären wie diel" Oder an dem Obwagen:„Die Birnen sollen nich' weich sind? Denn missen Se se kochen, denn wer'n se weich!" Nebenan:.Prima EßSpse«! Garon» i-eri mürbe Ware!— Wat sagen Sie. d« Jewicht stimmt nich! Auiust, zeich mal dem Herrn den Weg zu Ruhnkel Der Herr bat't nnt die Augen!" Ueber den Platz kribbelt und krabbelt die Masie -llsiensch" zum naben Wertheim , zur Leipziger, zur Potsdamer, zur Wanniee» oder Ringbahn, zur Untergrundbahn, die von unten dumpf heraufgrollt. Es ist«n ewiges Gehen und Kommen, bis tief in die Nacht hinein, wenn die Wurstmaxe, und Wurst- mächens zu Dutzenden hier mit ihren fliegenden Läden, mit Koch. kesiei, Schrippentarb und Senftopp die Stände der Blumenfrauen besetzt haben und ihre„Prima Heißen, goranttert Rind und Schwein anbieten, die kleinen Mädchen hier an den Ecken frech. kokett ihre Zigaretten paffen, die Grünen einem Dewerbeschemlosen nachjagen, und statt Autobus und Elektrischer der Pferdebu» zum Westen hinaus schwankt. Es ist Nacht. Man geht die Potsdamer straße hinauf. O- An derPotsdomer»rücke, der Selbstmörder brücke, ist ein Austauf. Zwifchendrein Grüne und Feuerwehr. Wieder ist einer in den Kanal gesprungen. Am Brückenrand« lag sein Hut und in Ihm ein erklärender Zettel: Hunger und Nohrungssorgen hatten Ihn ins Wasser getrieben. Die Wehrleute stochern mit Stangen und entern mit angeseilten Beilen im Master. Morgen früh oder st, drei Tagen werde ich, wie schon so oft, unten auf der Steintreppe ein Segeltuchpaket seben. den erstarrten, aufgeblähten Körper de« Selbst. rnörder». Ich denke an die Frau, die Ich vor einigen Tagen auf dem Potsdamer Platz den Borübergehenden Wäsche und Haushaltung»- gegenstände anbieten sah und Ihne entsetzliche Not. die ste zwang— wie viele andere—, ihre Wohnung auszuverkaufen. Nagen hörte, ich denke an den Menschen, der mir bei Josty seinen Mantel zum Kauf anbot, an da» unterernährt« Gesicht und die stumpfsinnig ver- glasten Lugen, die mich vor Bellevue angebetteit hatten. Das war der Anfang— unten die Wasterblofen, die von einem toten Körper aufsteigen und kalt und grausam im Scheinwerfersicht de, Polizisten zerplatzen, find das Ende! Ich geh« welter. Auf der Straße im tag» hellen Licht elektr scher Lampen hacken und hämmern, schweißen und schmieden schweigsame nächtliche Arbeiter am Gleise der Bahn. Laut gellt ihr Hämmern durch die still gewordene Nacht und den grau» kalten Nebel und singt ein Lied von vrbett und ernstem Wollen. Ich Höne«s und atme wieder auf. hoffnungsvoll und getröstet, und über- sehe den Pferdeommdus, voll von schwankenden und gröhlenden Nachtbummlern au» dem.wilden Westen" der Weltstadt, die schlafen gegangen ist....
Venn öie Polizei sich irrt. Auch da» kann vorkommen, wie ein Chauffeur, ein Michael Koblhaa» von einem Chauffeur, jüngst landgerichrlich erwies. Er hatte von einem Fahrgast am SE. August die achtfache Taxe ver- langt und bekommen. Der Fahrgast erstattere die Anzeige, und da» Polizeipräfidium Charloirenburg bekundete v»r dem Amts- gerichts, daß die achifache Taxe erst am S. September hätte in An- rechnung gebracht werden dürfen. Somit wurde der schuldige Kraiidroschfenienter zu 30 M. Geldstrafe verurteilt. Zu Unrecht, wie sich bald herausstellen sollte. Denn der Berurteilw legte Berufung ein. Die Hauptverhandlung vor dem Landgericht brachte nun Klarheit tu dre Sache und Gerechrigkeit der versolgien Unschuld. Es wurde durch Zeugen und durch Sachverständige einwandtrei festgestellt, daß dre Polizeivercrdnung am 11. Angust härte ericheinen sollen. Die bureautratische Maschinerie gebar die in Frage stehende Verordnung rechtSlräflig aber erst am 3. Oktober. Die VerkebrSftelle des Polizei« amr» Berlin Mitte brachte aber in tariflichem Leichtsinn eine Früh« geburt dieser Verordnung schon am L8. August auf die Welt. Sie gab an diesem Tage schon polizeilich abgestempelte sog.„Nottarise" heraus, die von dem Verein der Krnsidroschkenbesitzer sofort an die Mitglieder verteilt, von dresen in den Wagen angebracht und von den Fahrern sofort in Kraft gesetzt wurden. Dies geschah zwei volle Tage ohne jede behördliche Einmengung, also in vollkommener Ordnung. Nach zwei Tagen des Frieden«— plumps— kam die Anzeige, die Polizei, das Amtsgericht— ein ganzer Orkan entsesielten Bureau- kratiSmu». Diesmal aber pfiff er aus dem falschen Loch. Da» erstgerichtliche Urteil wurde aufgehoben, der Chauffeur freigesprochen. Such dir Polizei kann sich irren I
Zalsthgelövertrieb en xros. Nachbars Boden als Geldversteck. Eine Geldscheinfälschung größten Stil» ist von der Falschgeidabteilung der Reichsbank aufgedeckt werden, bevor Schaden angerichtet wurde. Der Fälscher ist ein Buchdruckerei» besitzer Otto Wiehl« au» der Iahnstraße 7, der w der Oranien- strahe(52 seinen Betrieb hat. Wiehl « wurde von Beamten der Falfchgeldabteilung der Reichsbant, als er feine Wohnung v erlösten hatte, auf offener Straß« festgenommen. Unmittelbar darauf durchsuchte man feine Wohnung und die Geschäftsräume auf dos gründlichste. In der Druckerei wurde in einem sargfältig gewählren Versteck ein ganzer Stapel von falfchen Fünfhundertmarkscheinen der weißen Hilfs- banknote vom 7. Juli 1g?Z gefunden. Als dann die Beamten die Wohnung in der Iahnstraße bettaten, warf Frau Wiehl « eiligst eine Blechdose in da» Herdfeuer. Di« Beamten beob- achteten jedoch den Borgang und holten die Dose noch unversehrt au» dem Feuer heraus. Sie enthielt zwei Schlüssel, die zum Schloß eine» Bodenverfchloge» paßten, der Wiehl « nicht gehört. In diesem fremden verschlage fand man nun ebenfalls«inegroßeMenge F o l s ch s ch e i n e und alle Druckplatten, außerdem auch noch einen Stoß falscher E te u e r w er tz ei cke n mit den dazu gehörenden Druckplatten und mehrere gefälschte Aktien� bogen mit Zinsscheinen sowie eine Menge unsittlicher wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften schon wiederholt mit den Gerichtsbehörden in Konflikt geraten und erst im Frühjahr d. I. deshalb verurteilt worden. Im Verkehr sind nur eine kleine Anzahl der Falschscheine außerhalb Berlins aufgetaucht. Zum Verttieb hatte Wiehl « die Leute gewonnen, die früher die unsittlichen Bücher für ihn verbreiteten. Mehrere von ihnen konnten in Berlin verhaftet werden. Die Menge der beschlagnahmten Falschscheine überttisft alle», wo» bisher auf diesem Gebiete dagewesen ist. Aus ihr geht auch hervor, daß zur Vertreibung«ine großzügige Organi, fation g«plant und zum Teil auch durchgeführt war. Die falschen Scheine find besonders kenntlich durch den Aufdruck brauner Farbstreifen, die die Faferftteifen nur mangelhaft nachahmen. Es ist daher nötig, genau auf die F a f e r str e i f en zu achten, die bei den echten Roten in da» Papier eingewirkt sind und erst mtt Hilf« einer Nadel von ihm gelöst werden können, da ste nicht aufgedruckte Farbstreifen, sondern Pflanzenfasern sind. Eine außerordentliche Stadwerordnetensitzong findet am nächste« Dienstag um S Ubr statt. Die ordentliche Sitzung vom Donnerö« tag fälll wegen der Revolutionsfeier an«.
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Die Welt ohne Sünde. Der Roman einer Minute von Dickl Baum.
„Dank einem gewisten kleinen Malheur, einer gewisten gar nicht besonders großen Erplosion waren diverse Häuser so freundlich einzustürzen, respektive ihre Keller, Küchen und Salons der Oeffentlichkeit preiszugeben. Staunenswertes trat zutage. Piepo, Stütze des Komitees. Hauptbrüller des Bruderschaftsgedankens wurde erschlagen uorgefunden unter einem höchst gerechten Treppenbalken und sterbend über einer Höhle voll von Schätzen, Konservenbüchsen. Zwiebäcken, Weinen und Dingen, deren Namen wir sogar vergesien haben: es lebe Piepo der Gerechte. Weif« und Fürsorgliche!" Bern - ward kippte wieder ein Glas voll in feinen Mund und lachte fein Hobes Kastratenlachen. „Geplündert also. Alles wird abgellefert," sagte Ansel» mus knapp._ „Väterchen!" rief Bern ward,„Herr Präsident! Maiestät! Nichts geben wir davon zurück, nichts. Frage nur Isabell, sieh nur Jiabell an!" Anselmus sah sie an. Sie schnippte nur mit ihren kleinen nackten Fingern. „Nichts," rief sie und lachte. Plötzlich wurde sie ein wenig ernsthafter und schaute über ihn hin.„Wie siehst du aus, Anselm?" fragte sie ihn wie ein Kind.„Pfui, du bist schmutzig. Du bist nicht ein bißchen hübsch, mein Bub. weißt du das?" Sie nahm ihn an der Hand, mit zwei Fingerspitzen nur, und führte ihn vor den Spiegel, der zwischen den Fenstern hing. Da sah er sich um. Staub der Explosion überkrustet« ihn ganz: seine Wimpern waren abgesengt, die Augen schwammen in Schweiß. Isabell lächelte in den Spiegel, ein unbegreifliches und mifreizendes Lächeln. Anfelmus ging quer durch den Saal und blieb vor Bernward sieben. „Du warst es, der in der Kirche auf mich geschosien hat?" fronte er leste.„Du warft der Mann im Auto?" Bernward zuckte einmal mit den Lidern. „Ja," sagte er dann. „Warum?" „Das weiß ich nicht. Ans Haß. Aus Wut über deine Rede in der Kirche. Aus Eifersucht. Wahrscheinsich aus Eifersucht." „Das ist schön." sagte Jsabell, die dicht neben den beiden
Männern stand.„Das ist schön, wenn man stch morden möchte um mich. Was tust du ihm nun. Anselm?" Anselmus schüttelte nur den Kopf. Aber Bernward sagte: „Er tut m! r nichts, dein Heiliger. Er tut dir nichts, der Bruder. Es gibt keine Sünde in seiner Welt, hast du e» noch nicht genug gepredigt bekommen? Und also ist alles erlaubt. Komm zu mir-, du kannst mich küsien, es lohnt nicht. Ihn zu betrügen. Küsse mich, er wird zusehen, der Bruder. Anselmus zitterte sehr heftig. Um ihn da» berauschte Geschrei stieg und fiel, quoll formlos durch den Raum. Fratzen tanzten in Blauweiß und Schwarz. Da» Gramms» phon schrie Gemeinheit, an den Wänden entlang tanzten welche dazu, unzüchtig und fast bewußtlos. Er legte die Hände vor die Augen, da horte er es wieder: draußen vom Süden her kamen ste. „Besinnt euchl" rief er;„ste kommen: e» ist vielletcht da« Letzte. Hört ihr sie nicht?" „Solange das Grammophon spielt, hören wir e» nicht: nur das Grammophon darf nicht aufhören!" schrie e» in einem verschattetcn Winkel. Anselmus tat ein paar Schritte der Stimme entgegen.„Johannes? Bist du denn auch hier?" fragte er in dos Schwindlig«, das um ihn schwankte. Men- schen schälten sich aus dem Schattenwinkel und dann trat Johannes vor. Er war nackt Das blaue Licht riß seinen mageren, lärmen Knabenleid ! aus dem Dunkel vor alle hin. Er hieli eine Hand quer über' feine Brust und trug den Kopf gesenkt, das lange Pagenhaar! bullte seine Wangen gonz ein„Johannes? Was ist mit dir? � Bist du von der Barrikade fortgelaufen?" Johannes nickte. „Ich— habe dir meine Ration gegeben—" sagte Anselmus leise.„Du weißt, wie lange ich nichts gegesien habe—" IoffCttnes nickte wieder. „Sagst du mir nichts? Und warum bist du nackt?" jsabell stand neben Johannes, sie strick ganz leise mtt ihrer überaus nackten und begehrlichen Hand über die blau» weißen, zitte-nden Flanken des Knaben.„Er muß nackt seiix—" sagte sie:„er ist schön— siehst du es denn nicht?, Er ist so schön. Er kam aus der Hölle und war schmutzig wie du. Ich habe ihn ausgezogen und gewaschen, den Buben,! nun soll er nackt bleiben. Er gehört heute mir, nicht dir. Nicht' dir. Wenn es noch Blumen gäbe in deiner verfluchten, ver- fluchten Welt, dann müßte er«inen Kranz tragen, die ganze Nacht." Mit einemmal schlug das Finstere und Drohend« in ihrer Stimme um und wurde Lachen.„Uebrtgens ist es sa
warm: er wird sich nicht erkälten," sagte sie übermütig und ließ den Knaben au» chren Händen. Anselmus stand geschüt- telt und in sich geballt, der Anblick ihrer Hand zwängte seine Zähne aufeinander. Er suchte Lust. „2>ick frage ich, Johannes: warum bist du hier? Warum nackt? Warum ißt du geplündertes Gut? Du warst nicht hungrig heut«. Was du bier ißt, sttehlst du Kindern und Ster- benden, das weißt du. Und du warft mir der Liebste— Io- Hannes—" Johannes hob das Gesicht, er hatte sonderbare Augen, Augen wie ein Tier, sie phosphoreszierten grünsich und trans- parent. Er ist wahnsinnig— dachte Anselmus einen Augen- bück. „Sterbende sind wir alle." sagte Johannes flüsternd und ganz ohne Klang.„Ich bin siebzehn Jahre alt. Ich weiß nicht, wie satt sein ist: ich weiß nicht, wie Wein schmeckt; ich weiß nicht, wie Salz schmeckt; ich weiß nicht, wie ein Baum aussieht; ich kenne kein Weib. Und morgen bin ich tot. Ich muß heute noch viel lernen— Bruder." Anselmus ließ die Hände fallen, in ihm zerbrach eine letzte Anspannung. Wie mutlos sie all sind, wie verzweifelt. Nicht einer glaubt Daran, daß wir morgen noch leben könnten. Auch Ich glaube nicht mehr—. ,�Du hast recht, Bruder," sagte er unhörbar und wich zurück. Der Kreis der Trunkenen und Tanzenden entließ ihn. Wände schoben sich in die Weite, irgendwo lief dos Grammophon ab, komisch jammernd, und als es schwieg, kam düsterer Lärm von draußen. Die Luft bebte von Schüssen der lautlosen Geschütze tmd feindlicher Nähe. Das Grammovhon holte Atem und gellte von neuem los. Anselmus wich bis an das Fenster, er schlug die Lappen zurück und lauschte gedankenleer hinaus. Alle Fenster der Straße warfen den gleichen Wahnsinn in die Nacht hinaus wie dieses hier. Qual und Berauschtheit, Wahnsinn des Unterganges. Erdige Gesichter starrten da und dort aus den Fensterhöhlen, suchten den Himmel. Der Mond war ver- blüht, der Himmel gedunkelt. Die Armee war schon in der Stadt; vielleicht hatten sie schon den Brand gelöscht, die Feinde, vielleicht schlugen sie setzt schon Brücken über den Fluß, kamen schon, sagten schon nach ihm; nach ihm zuerst. Es war Zeit. Es war Zelt, das Werk zu retten: den Gedanken. Das Komitee hatte Johannes bazu auserseden, es in Sicherheit zu bringen, wenn Anselmus fiel. Aber Johannes hatte den Ge- danken verraten. Treu blieb heute keiner. Sie glaubten ja nicht mehr.... (Fortsetzung folgt.; Z