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Nr. 571 ZH. Jahrgang

2. Seilage öes Vorwärts

Sonntag, 5. Dezember 7922

Offenen Muges öurch Sie Weltstadt. Kaschemmen und das Scheunenviertel.

Mit hochgeschlagenem Mantelkragen, die Hände fest in die Taschen vergraben, steure ich über den nebelseuchten, glitschigen Asphalt, in dem sich grell und flackernd die Bogenlampen des Alexanderplatzes widerspiegeln, zur Berolina. Fröstelnd hetzen müde Menschen vorüber; im Zockeltrab stolpern arme, abge- magert« Droschkengäule mit ihrer Leiberfracht vorbei; Autos bremsen hupend um die Ecke; Elektrische bimmeln und kreischen in den Gleisen, und dazwischen schieben und schlängeln sich Krümperwogen und die Karren der fliegenden Händler. Die Normaluhr drüben leuchtet wie eine lebendige Scheibe durch den Abendnebel; noch fünf Minuten und ich werde mit einem ortskundigen Kriminalisten vom guten Stamm, der in den armen Geschöpfen, über die er zu wachen hat, nicht Hetzoieh, fondern arme Verunglückte sieht, einige Stunden durch die Kaschemmen und Pennen des Viertels streifen. Srutstätten üer Not. Es ist cm trauriges Wissen, das man auf den Gängen durch die Verbrecherasyle sich sammelt, die das Dunkel, um das kein« Weltstadt herum kann, in manchmal grauenhafter Weise aufhellen. Milieu der Hintertreppenbelletristik und modernen Kriminalfllme, kennt der Laie ihre Spelunken nur in der romantischen Ausmachung, die mit Versenkungen, Geheimtüren, verborgenen Gängen, tech- nischen Signaleinrichtungen, als Mörderhöhlen von überhitzter Phantasie erzeugt es in Wirklichkeil kaum gibt. Dem Kundigen zeigen sie sich anders: als Sammelstellen sozialen Jammers, Orte letzter Verzweiflung, Schlupfwinkel armer durch psychische Grenzzuständ« getriebener Individuen, Wolsshöhlen gerissener Ler- brechcr aus freiem Willen, Brutstätten grauenhafter Laster, schwerer Vergehen gegen die Gesellschaft meist auf Grund eines geistigen Defektzustandes, einer meist angeborenen Minderwertigkeit, die dem Verbrecher allen Zusammenhang mit und olle Verpslich- tungen gegenüber der Gesellschaft raubt, ihn antisozial werden läßt, und letzten Endes als Brutstätten körperlicher und geistiger Krank-- hellen. Es ist ja in den A f y l- K a s ch e m m e n meist der zweit- klassige, minderwertige Durchschnitt, der sozial bedauernswerte, der sichtbar ist. Ihre erstklassigen Kollegen, gewissermaßen Genies unter ihnen, die in einem bürgerlichen Leben unter anderen Umständen sehr wohletwas Großes" hätten werden können und die selbst als Geldschrankknacker, Juwelen-, Gold- und Warenhausdiebe, Hoch- stapler, Betrüger und Taschendiebe die Bewunderung ihrer Fach- genossen erregen, meiden oft die Kaschemmen, in denen sie nament- lich in unserer Razzienperiode die Aufsicht der Polente und den Ver- rat der Achtgroschenjungs, der Vigilanten, zu befürchten haben. 3m Cafe Dalles Eines der Berliner Hauptasyle ist das Cafe Dalles, zu dem wir in die Neue Schönhauser Strauße, wo wir unsere letzte Wanderung bei der Pfandkammer abgebrochen hatten, einbiegen. In Dalles haust, was kein« Bleibe, keine Braut, keine Hoffnung mehr hat; in Dalles landet, was ohne Zaster aus dem Zettchcn kommt. Hier werden die noch zachen Neulinge keß oder mürbe, die Halbwüchsigen haltlos. Das Bild, das einen drinnen angrinst, ist erschütternd. Zwei Tische lassen einen schmalen Eingang in das langgestreckte Lokal; hier löst man die Einlaßkarte für fünf Mark, die später auf das Nerzehrte angerechnet werden. Da aber die Kunden von Dalles meist der Dalles selbst schon verzehrt, haben sie dazu nichts und Nathan Vulkan, der Kaschemmenbesitzer, mutz auf feine Kosten kommen. Drinnen drängen und stoßen sie sich; an 500 werden es wohl sein. In der Mille derselben langen Wand, an der Schilder künden, daß der Wirt sich Singen und Ruhestörung, sowie den Eintritt der Jugendlichen verbittet, ein uralter Klimperkasten, auf dessen Klaviatur ein Musiker einen Gassenhauer hämmert, trotz der grauenhastenVerstimmung" des blechern klirrenden Jnstru- mentes nicht ohne Talent, beinahe genial. Drei Typ Boden- und Äellerdiel)stahl sausen vorüber. Ich höre noch:Mensch! Dct is n Tipp! Iibt'ne dicke Marie!" Hinter mir sitzt oder vielmehr liegt einer bei Bohnen mit Spitzbein.Seine" neben ihm starrt ihm gierig auf den Teller und die Bissen, dieer" verschlingt. Zag- hast greift sie sich aus seinem Teller ein Spitzbein, während er auf- knurrt, knabbert den Knochen ab m?d kramt aus ihrer Tasche die letzten Scheine, mit denen sie sein Essen bezahlt, von dem sie einen Knochen hatte abnagen dürfen. Ich gehe rückwärts; da verschachert ein alter Kunde seine Schuhe am Leibe. Die Hyänen aus der Dra- gonerstraße bieten: er lacht, schlägt sie dann für S00 los, zieht sie

aus, lacht halb betrunken, halb idiotisch und bestellt sich barfuß ein Bier und ein Essen. In der Ecke, wo sie mit glitzernden Dingen handeln, werden sie nicht handelseinig; es gibt Krawall. Die Schweren. Man trifft sie, die schweren Jungs, selten in den Kaschemmen. Sie haben schon ihre ganz bestimmten Lokale und feinere Passionen, darunter besonders die S p j e l l e i d e n s ch a f t. Sie aufzuspüren, heißt Glück haben. Ob wir es haben._..? Wir bununeln dem Scheunenviertel zu. In der Alten v ch ü tz e n st r a h e ist ein Cafe, wo die gerissenen Jungs Geldschrankknacker und bessere Zuhälter öfters anzutreffen sein sollen. Wir pirschen uns lang- fam an. Aha, vor der Tür lauert der Spanner, cm bekannter, alter, schwerer Junge, Geldschrankknacker von Berus . Er spinkst um die Ecke, an uns vorbei; rin in die Kartoffeln! Vorne im Lokal ein paar, die futtern, und Stammgäste beim Bier. Nanu...?!? Dafür stellt man doch keinen so gewiegten Spanner aus?!? Oder sollte da hinten...?!? Nun durch die Küche und vor uns sehen wir die Garde, die wir suchten, alle schwer, schwerer, am schwersten, mitten beim Spiel, beim lieben, gemütlichen Spielchen. Sie merken nichts, so sind sie dabei. Zirka 50, so sitzen und stehen sie da dicht gedrängt um den improvisierten Bac-Trog paar anein­andergereihte Tische primitivster Art, aus denen nur eines nicht primitiv ist nämlich die Summen, die oben liegen, schöne, nied- liche, neue Tausender, und Hunderter. Päckchen. Sie merken immer noch nichts, aber auch gar nichts. Sie spielen ruhig weiter. Der Bänker, ein wie aus Zoppot hergezauberter Croupier- typ, will wohl gerade auszahlen; er hält seine Hondbank zwischen den Fingern, gut 50 Mille, vielleicht auch mehr, da reißt der Spanner die Tür auf, stürzt hinein:Psssst! Die Krimi" und siebt Brumme unddas Wort erstarb ihm im Munde"! Man sieht uns scheu von der Seit« an: wir sehen auf den Tisch und tuen so, als wüßten wir von nichts. Die Spieler stutzen:Lampen? Polente? Kriminal? Die da...?" Einer lacht; ein anderer ruft Weiterspielen!" Da tritt der Spanner näher; wir grinsen und tuen wie Waisenkinder: da begrüßt uns der Spanner, der in dem Krimi- nalbsamten einen altenFreund" erkannt hat:N' Abend, Herr Kommissar! Auch wieder mal auf Tur ? N' bißchen Razzia...?" Jetzt wissen sie Bescheid, die schweren Jungs, und langsam meine Tante, deine Tante! Dreh dich nicht rum, der Plumpsack Aeht um! verschwinden die Scheine, schöne weiße, braune, karierte, Qubere, dreckige, aber alles Geld. Geld. Geld, dos sie auf chre Bahn gebracht hat und das sie auch noch weiter, tiefer bergab bringen wird. Da verschwinden auch wir. Jetzt ist hier doch nichts mehr los. Das Geschäft haben wir ihnen vermasselt-, und während wir, scheu beäugt, das Lokal verlassen, verkrümelt sich einer nach dem anderen: Bank gesprengt!_ Die Küche in öer Keithftraße. Das 4aus K e i t h st r a ß e 11 beansprucht fest Tagen ein be- sonderes Interesse. Hier sind die Bureaus der Bühnenge- n o s f e n f ch a f t. hier sitzt Tag und Nacht das Präsidium und die Streikleitung, hier in den vielen Zimmern und auf den ein wenig engen und dunklen Fluren drängen und drücken sich Schauspieler und Schauspielerinnen. Hier ist das Große Hauptquartier des Schauspielerftreiks. In schönem SvlidarstSisgefühl und mit einer Einmütigkeit, die etwas Ideales hat, halten alle zusammen, tritt einer für den anderen ein, und aus diesem Zusammengehörigkeitsgefühl heraus hat man nun auch eine gemeinschaftliche Küche eingerichtet. Es ist eine beiondere Küche, weil besondere Köchinnen, die sonst auf der Bühne stehen und alle möglichen Rollen tragieren, vor dem Koch- Herd an Töpfen und Tiegeln geschäftig sind. Frau Neville, Frau List und viele andere haben sich in den Dienst der guten Sache ge- stellt und sorgen tatkräftig dafür, daß auch der Magen der Männer, die für die Genossen in ermüdender Arbeit und angestrengtester Tätigkeit sinnen und sorgen und die kaum Zeit finden, ein Nestau- rant aufzusuchen, auf seine Rechnung kommt. Keiner wird seine Sympathie den tapferen Frauen der Streikenden versagen. Diese gemeinschaftliche Küche steht unter der Leitung der kleinen, munteren

Lotte Fließ, die mit Umsicht und Energie ihres Amtes waltet. Und die Schauspielsrinnen, die jetzt Köchinnen sind, haben es wahrlich nicht leicht. Gekocht wird in der nur kleinen Küche des Portiers im Souterrain. Zur Ergänzung und Vervollständigung gewisser- maßen des Kochherdes haben Kollegen des Deutschen Theaters einen Grude-Ofen und einen Gaskocher gestiftet. Ein anderer, der ungenannt bleiben will, hat Töpfe, Teller, Tassen und Bestecks ge- liefert. Kohlen müssen besorgt, Lebensmittel eingekauft, Kartoffeln und Gemüse geputzt werden. Alle Arbeiten werden freudig aus- geführt, denn jede weiß, daß auch sie an ihrem Teil im sozialen Interesse tätig ist Letzthin lieferte die Küche zum erstenmal Essen: Wirsingkohl mit Rindfleisch. Und keiner fand an dem Menü etwas auszusetzen. Für die Männer der Streikleitung mit ihrer nervenzersetzenden Arbeit wird außerdem stärkende Bouillon gekocht. Für das Mittagessen nimmt man nur hundert Mark, während die baren Auslagen auf mindestens 175 M. für die Portion veranschlagt werden müssen. Vorläufig wird nur für fünfzig Personen gekocht, die in der Küche und in der guten Stube des Portiers speisen. Man hofft ober bald eine bedeutend größere Anzahl beköstigen zu können. Jedenfalls ge- btthrt den Schauspielerinnen aller Dank dafür, daß sie mit rascher Energieumgelernt" hoben, Köchinnen geworden sind und dafür sorgen, daß die Männer, in deren Händen ihr soziales Schicksal liegt, nicht hungern. Tie neuen Kohlenpreise ab Montag. Da? Kohlenaint teilt mit: Auf Grund der bereits am 1. d. M. erfolten Heranssetzung der Produktionspreise und der ISOprozentigen Erhöhung der Babnfrachten ist eine entsprechende Heraufsetzung der Klcinvertanfspreise für Briketts und Kohlen erforderlich geworden. und zwar gelten diese neuen Preise mit Wirkung vom 4. Dezember: Küchen- und Ofenbrand VrikeitS je Zentner 1492 M. ab Lager. lböO M. frei Keller, GaSkokS 2099 M. ab Lager, 2770 M. frei Keller, bei subrenweiser Lieferung Briketts 1692 M. ab Lager, 1545 M. frei Keller, GaSkokS 2099 M. ab Lager, 2701 M. frei Keller.____. vom Offizier zum Hochstapler. Hochgradig geistig minderwertig". Ein ehemaliger Fliegeroberleutncmt Max E n g e l s ch a l l hatte sich wegen mehrerer in Deutschösterreich begangener Straf- taten vor dem Strafrichter zu oerantworten. Das deutsche Reichs» strasgesetzbuch enthält einen ebenso unbekannten wie auch fetten an­gewandten Paragraphen, nach dem ein Deutscher wegen Straf, taten, die er i m Auslande begangen hat, auch in Deutschland bestraft werden' kann, wenn die fraglichen Delikte auch nach dem deutschen Strafgesetzbuch strafbar sind. E. machte schon einmal von sich reden, als er bei einer Konsul- tation des Rechtsanwatts Dr. Frey dessen goldenes Ziga- r e t t e n e t u i entwendete. E. war im Kriege Offizier und wurde in Frankreich abgeschossen. Er erlitt dadurch«ine schwere G e- Hirnerschütterung. Nach seiner Entlassung begann er. da sein« Familie sich von ihm lossagte, ein Abenteurer- und H o ch st a p l e r l e b e n, das ihn auch wiederhott mit dem Straf- gcsetzbuch in Konflikt brachte. Im Februar d. I. war E. wegen ver- schiedener in Berlin begangener Straftaten nach Tirol gegangen. Hier fand er im Hause eines Hauplmaims a. D. häusige Aufnahme. Er dankte dies damit, daß er seinen Gastgeber erst um 3909 M. be- schwindelte und auf dessen Namen überall Schulden machte. Ferner entwendete der Angeklagte einem dortigen Hotelbesitzer 5 2 000 Kronen und goldene Schmuckgegenstände im Werte von zwei Millionen Kronen. Aehnliche Straftaten verübte E. auch in anderen Städten. Der Staatsanwalt beantragte ein Jahr drei Monate Gefängnis. Das Gericht sah die Sache milder an. da der Angeklagte nach dem Gutachten des vernommenen Sachverstän- digen ein hochgradig gel st ig minderwertiger Mensch sei. Das Urteil lautet unter Einbeziehung einer schon vorher er- kannten Gefängnisstrafe auf 10 Monate Gefängnis.

Sem Umzug der Arbeltcrabstioenlen. Die Polizei muckt dar- auf aufmerksam, daß der für heute geplante Umzug der Arbeiter- abstinenten durch Schöneberg nicht zugelassen werden kann. Bor einiger Zeit wurde ein generelles Verbot gegen Umzüge und Demonstrationen unter freiem Himmel erlassen, da« beule noch fortbesteht. Die Polizei sieht, wie wir hören, keine Möglickleit, bei der Veranstaltung der Abstinenzler eine Ausnahme zuzulassen.

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Die Welk ohne Sünde. Der Roman einer Rlinule von ViSi Baum.

Die Baracken find von Gärten umgeben und die Gärten von hohen Mauern. Das Tor ist versperrt. Zwei Pförtner wechseln in der Wache ab. Die Frauenbaracke liegt eine Stunde Wegs von der Männerbaracke entfernt. In der Männerstation smd keine Säuglinge, aber sie ist überfüllt. Die Betten stehen dichtgedrängt, einer lebt im Dunstkreis des andern, einer haßt den andern auch hier. Es ist wenigst Weinen in diesen Sälen. aber mehr Geschrei, Empörung, Streit. Ein Land, in dem die Mörder frei herumlaufen, und die Buben, wenn sie ihre Kinderkrankheiten durchmachen, gefangen gehalten werden! Fäuste auf Tischplatten geschmettert: Lärm. Sie haben hier alte, häßliche Schwestern, denen dennoch jeder Blick die Kleider abreißt. Zwei Bäume von Wärtern sorgen handgreiflich für Ordnung. Dazwischen stille, schlaffe Menschen, die stumm herumsitzen in den Gärten oder über Büchern, die beflissen ein- nehmen, salben, impfen und gesund werden wollen. Schuster Egge ist unter den Stillen. Manchmal trüben sich seine Augen ganz plötzlich, das ist, wenn er an Dorine denkt. An einem Abend, da Egge im Garten die Beete goß, hörte er aus der Welt jenseits der hohen Mauer ein Lied, dos er kannte. Er schwang sich auf die Mauer, da stand Dorine unten. Dorine mit dünnem Haar, erloschen und den- noch brcimend, und flüsterte ein paar Worte. Dann kam ein Wärter und holte Egge von der Mauer herunter; es war im Grurch verboten, hinaufzuklelleru. Egge ging still zu Bett und lag die ganze Nacht wach. Dorine also war ausgebrochen, war dem höllischen Krankensoal bei Nacht entwichen, war geduckt wie ein Tier heimgelaufen zu ihrer Hütte, hatte die Barackenkleidung gegen die eigene farbenfrohe vertauscht, war von morgens bis abends unter der Mauer gestanden, und hatte manchmal ihr kleines Lied vernehmen lassen. Sie war gesund. Dorine, so sagte sie. Sie wollte zu ihrem Mann. Es war nicht viel Denken in ihr. nur Wollen. Am nächsten Tag stand sie wieder unter der Mauer und rief. Diesmal fing man sie und brachte sie zurück in die Baracke. Sie biß um sich. Egge, der«inge- sperrt war und es nicht sehen konnte, wußte es: sie biß wie ein Tier. Gisttge Wunden biß sie Schwestern, Wärtern und

Doktoren, die sie in die Hölle zurückschleppten. Wenn Egge an sie dachte, konnte er nicht atmen. Und zugleich raste es böse und wild über ihn weg. Wenn er die Augen schloß, sah er Weib und Weib. Vielleicht schlug man sie. Gewiß schlug man sie. Immer knurrten in den Baracken Gerüchte von Schlägen. Mißhandlungen, Vergiftungen mit Serum, schreck- lichen und scheußlichen Experimenten an Kranken. Egge brach seine Stummheit entzwei, und als er zu reden begann, peitschte er wilder als die andern. Sie schliefen kein« Nacht mehr in seinem Saal und tags duckten sie sich zusammen und raunten. Es wurden oierundzwanzig völlig Geheilte entlassen in dieser Woche. Leonhard lieferte«ine Statistik ab; er hoffte bei strenger Durchführung der Jnternierung, Anzeigepflicht, Impfung und Behandlung in zehn Jahren die Seuche im Staat völlig zum Erlöschen zu bringen.... Im Morgengrauen tat Egge einen langgezogenen Schrei. Der Wärter kam, beugte sich über ihn, da warfen sich von hinten her Arme um seinen Hals, ein Kissen knebelte ihn. Sie warfen ihn auf ein Bett, schnürten ihn fest. Der Saal brüllte, Egge riß eine Eisenstange vom Fenster a5 unb raste den Män­nern vorauf. Schrei und Empörung warfen sie durch alle Räume, aufgerissen taumelte Saal auf Saal hoch. Die Eisen- stange schmetterte über den anderen Wärter hin, Blut stürzte ihm aus dem Mund. Hinter der Türe blieb er liegen. Kampf. Dann Sieg. Zwei schlaffe Menschenbündel mit hängenden Glied- maßen in den Garten geschleppt, auf die Mistbeets geworfen. Laß sie wieder aufstehen, wenn sie können oder laß sie ver- faulen, die Zuchthäusler. Zuchthaus nennt das Volk die Va- rocken. Das Tor ist versperrt, der Schlüssel fehlt, die eisernen Ketten liegen quer vor den Tordalken. Suchen, Fluchen, Streit. Die ohnmächtigen Wärter werden nach den Schlüs- seln abgetaster, im Pförtnerhaus suchen«die zerfetzten Aus- brecherfäuste alle Winkel ab. Dann heiseres Geschrei. Einer hat mit Ellenbogen an den Kontakt gestoßen, der die Ketten schloß, sie springen rasselnd zu Boden. Egge ist es, der das Tor zuerst aufreißt und dann atmet, als wären die Monate nur ein Kampf mit dem Ersticken gewesen. Morgensonne über der Stadt. Ohne ein Wort der Verständigung ziehe«

sie ihren Weg zur Frauenstation. Wer eine Frau hat oder eine Geliebte, der weiß sie in der Baracke, zur Behandlung oder zur Untersuchung. Die Frauenstation war in Fieber. Seit Dörmens Aus­brechen und Wiederkommen schlich eine stumme Raserei in den Sälen herum, unterirdisch und in nichts zu beschwichti- gen. Ueberreizte Nerven ahnten Befreiung. Ein Wort glitt aus, unflätig und voll Haß, oder eine Hand, aufgehoben gegen das sanfte Gesicht der verbindenden Schwester. Stummsein in den Nächten und dann wieder plötzliches Aufschreien. Leonhard selbst schlief in der Baracke, war immer zur Hand, bei solchen, die litten und solchen, die simulierten. Es starb eins von den Kindern, ein süßes kleines Mädchen, das zur Impfung da war. Es erkrankte an Bräune, wurde iso- liert, starb. Im Morgen kamen verworren viele Männerstimmen da- her und stießen an die Mauer, rückwärts, wo Stadt und Ba- racke in wüstes Vorland verliefen. Die Frauen lagen wach in den Betten und stellten sich schlafend. Sie hörten wohl, was da kam, Gebrüll oder Gesang, sie verstanden den rauhen Chor und warteten wie Katzen. Als die Männer über die Mauer kamen, einer auf den Schultern des anderen, brach Schrei aus allen Sälen. Sie stürzten auf, vorwärts, überrannten Hindernisse: Betten, Türen, Schwestern, Aerzte. Im Garten fanden sich Männer und Weiber; Leonhard ward in den Knäuel ihrer Umarmungen gerissen, sie traten ihn beiseite, schlugen ihn, brüllten ihm Schnmtz und Fluch in die Ohren. Taumelten zum Tor, warfen die Pförwer mit den Köpfen an die Mauer, öffneten den Kontakt, diese verfluchte Erfindung des Gift- Mischers Börries. Da war ein Name und eine Rache.Zur Fabrik!" brüllte es,Börries soll sein Serum saufen!" Voraus dem Zug taumelten die luetischen Gespenster, die der Tag der Empörung aus ihren Winkeln gerissen hatte. Die Fabrik war abgesperrt. Um das Geviert ihres Kam- plexes lag das Gitter mit Elektrizität gefüllt, jeden tötend, der es berührte, jedem bekannt, seit es die staatlichen Maga- zine schützte. Sie wichen zurück, schrien in einem einzigen heiseren und wutvollen Schrei aus. standen unschlüssig, dann sanken da und dort Paare hinter Mauerresten zueinander hin. (Fortsetzung folgt'