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Nr. öl 4 ZH. Jahrgang

Beilage öes vorwärts

SonnabenS, ZS. Dezember 1922

vierzigfache Irieüensmiete im Januar. sa,a4faclie Friedens miete als Vorausleistung.

Der Magistmt hat am 28. Dezember die Mietsätze nach dem Reichsmietengesetz mit Wirkung zum Neujahrstage zum drittenmal abgeändert. So hat Berlin in den vier Monaten vom Sep- tember bis Dezember vier verschiedene Mietsätze erlebt. Wenn während der zweineinhalbjährigen Geltungsdauer der chöchstmietenordnung auch nur vier verschiedene Höchstsätze in Wirkung gewesen sind<20 Proz. bis Juni 1921, 30 Proz. bis Ende 1921, 70 Proz. bis Ende März 1922, danach 120 Proz.), so waren die Verhältnisse damals beständiger und die Geldentwertung machte erst langsame Fortschritt«. Die galoppierende Markschwindsucht kann auch vor der Miete nicht haltmachen. Künstliche Treibereien von Materialpreisen, wie beim Holz, fördern den Ruin. Hohe Mietpreise, niedrige hypothekenzinsen. War für Oktober die Miete etwa dos Siebeneinhalbfache der Friedensmiete, so im Dezember bereits das Dreißigfache. Für Januar hat die Mieterschaft ein Drittel mehr, also etwa das Vierziafach« der Friedcnsmietc in ihren meist schon arg genug belasteten Haushalt einzustellen. Und noch find die H n p o- t h e t e n z i n s e n, die vor dem Kriege meist mehr als die Hälft« der gesamten Mieteinnahmen aufzehrten, erst so unbeträchtlich g e st i e g e n, daß noch heute zur Abgeltung dieser Steigerung ein Zwölftel der Friedensmicte ausreicht. Die Hypotheken- schulden selber einst in der Regel mehr als dreiviertel vom Werte des ganzen Housgrundstücks sind unter der schwindenden 5kaufkraft der im Nennwert unveränderten Mark zu einer Winzigkeit zusammengeschrumpft, dabei das Aktiv. vermögen des Hauseigentümers ohne sein Zutun immer mehr ver­größernd. Die drei neuen Slenderungen. Di« neue Bekanntmachung zeigt drei Aenderungen: 1. Die Zuschläge ergeben insgesamt ein Mehr von 1200 Proz. Grundmiete(g), das ist ein Mehr von rund dem Zehnfachen der Friedensmiet«<k), und zwar sind die feststehenden Pauschalsätze von �60 Proz.(g) auf 760 Proz.(g) heraufgesetzt, nämlich bisher Proz. g jetzt Proz. g Hhpothekenzinsen..... 10 10 regelmäßige Verwaltung? kosten 150 250 laufende Notinstandhallung.. 300 600 Heraufgesetzt sind ferner die Höchstgrenzen für Müll-

Wer also eine monatliche Friedensmiete von M. und ent- sprechend«ine Grundmiet« von 20 M. hat, zahlt 20 X 25,8 516 M. Da er mit einer Miete bis zum Vierzigfachen der Friedensmiet« (einschließlich großer Reparaturen), d. i. bis zum Fünfzigfachen der Grundmiete zu rechnen hat, so kann eine Nachzahlung in gleicher Höhe wie die Vorleistung in Frage kommen. Vernünftiger wäre natürlich gewesen, für die Vorschuß, bzw. Vorauszahlung runde Beträge festzusetzen. Es scheint aber beinahe, als ob Kräfte im Spiel sind, um die Mietenzwange. Wirtschaft durch unnötige K o m p l i z ie r u n g mög- lichst stark zu kompromittieren. Stadtrat B r u m b y.

tum haben so überhand genommen, daß ein besonderer Ueber- wachungsdienst eingerichtet werden mußte. Aber nur, wenn das Publikum selber Disziplin übt und zur Feststellung der Täter bei- trägt, kann dem Uebel gesteuert werden. Sicherlich trägt auch die allgemeine wirtschaftliche Lage, die diesen Dingen, die hier ent- wendet werden, einen besonderen Wert verleiht, nicht wenig zu dieser sehr bedauerlichen und verwerflichen Erscheinung bei."'

Die Staütbahnklagen. Das die Eifenbahndireklion sagt. Zu den vielen Klagen, die gegen die Unzulänglichkeit des Ber - liner Stadt- und Ringbahnverkehrs erhoben rvetden, teilt die Reichsbahndirettion Berlin folgendes mit: Der Andrang zur Berliner Stadtbahn ist weit über die Zahlen der Vorkriegszeit angewachsen. Die Stadt- und Ringbahn beförderte im Jahre 1908 rund 150 Millionen Reisende, im Jahre 1921 nicht ganz 165 Millionen und in diesem Jahre dürfte die Zahl von 300 Millionen Reisenden weit überschritten werden, dazu kommt der mit gleichem Schritt wachsende Vorortverkehr, der von 176,4 Millionen im Jahre 1913 aus 278,1 Millionen im Jahre 1921 stieg, so daß 1921 aus den Stadt-, Ring- und Vorort- strecken 559,4 Millionen Fahrgäste befördert wurden. Die Friedensleistung der Stadtbahn ist in den letzten beiden Jahren nicht nur erreicht, sondern vielfach überschritten wor- den; im Jahre 1913 wurden täglich etwa 1076 Züge gefahren, im Jahre 1921 waren es täglich 1172 Züge, also hundert mehr als in der Vorkriegszeit. Um des Andrangs Herr zu werden, wurde auch die Zugstärke vergrößert. Eine Steigerung beim Dampf- betrieb ist nicht möglich. E�st nach der Einführung des elektrischen Betriebes, an der emsig unter schweren wirt- schaftlichen Hemmungen gearbeitet wird, kann an eine Verdichtung der Zugfolge gedacht werden, da eine Verbesserung des Verkehrs auf Kosten der Sicherheit der Reisenden nicht verantwortet werden kann. Der Ausbau der Bahnhofsanlagen stößt auf

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Haftpflichtschaden, und zwar jene von 500 auf 1000 Proz., und diese von 150 auf 300 Proz.<g). Für große Reparaturen kann das Miet- cinigungsamt auf Verhandlung im Einzelfalle insgesamt 500 statt 300 Proz. g als Kostenbeitrag den Mietern auferlegen. D i e Kosten der laufenden Reparaturen jetzt das Vier- fache der Friedensmiete müssen, worauf wiederholt hingewiesen wird, in der zweiten Hälfte des Februar vom Ver- mieter nachgewiesen werden, wenn die Mietervertretung es verlangt. Das Verlangen des einzelnen Mieters, die Verwendung dieser Gelder nachgewiesen zu bekommen, kann der Vermieter zurück- weisen. 2. Die Abrechnung wegen der Betriebskosten, die bekanntlich nach dem Verhältnis der Grundmieten umgelegt werden, hat nicht mebr an jedem Monatsende zu eefolaen, sondern nur noch am Ende eines jeden Kalendervierteljahres. Maßgebend sind aber die ein- zelnen für jeden der drei Monate gültigen Höchstsätze. Rest- und Vorschußzahlungen der Dieter.

keit, und es fehlt vor allem an den Hunderten von Milliarden, die «in völliger Umbau verschlingen würde; trotzdem ist eine Reihe von Umbauten im Gange. Der Bahnhof Stralau-Rum- melsburg wird umgestaltet, auf dem Bahnhof Warschauer Straße entsteht eine ganz neu« Anlage mit zwei Bahnsteigen, auf Jannowitzbrück« werden die Sperrendurchlässe vermehrt und erweitert, aus dem Bahnhof Friedrich st raße wird demnächst ein neuer Stadtbahnsteig eröffnet, auf dem Ringbahnhof Pape- straß« wurden die Uebergangswege verbessert, und auf dem Pots- damer Ringbahnhof werden die Bahnsteige verlängert werden, um längere Ringbahnzüg« fahren zu können. Erschwerend für die rei- bungslose Bewältigung des Massenandrangs gegenwärtig werden täglich rund z w e i e in d r i t te l Millionen Reifende befördert! Ist das stoßweise Auftreten des Verkehrs; so werden im Streckenabschnitt Schlefischer Bahnhof-Janno- w i tz b r ü ck e zwischen 7 und 8 Uhr vormittags in einer Richtung nicht weniger als 36 000 Personen befördert! Und auf dem Pots- damer Ringbahnhof kommen im Laufe des Tages von Westend

3. Der selteneren Umlage, die dem Vermieter nur vierteljährlich 49 000, von Stralau-Rummelsburg 45 000 Fahrgäste an; etwa eben- nachher Mittel für die Betriebskosten zufließen lassen würde, ent-. soviel fahren ab, so daß auf dem Potsdamer Rinobahn- spricht es, daß der Magistrat dem Vermieter das Recht einräumt, auf hoftäglich rund 200000 Menschen abqefertigt werden,

die künftige Umlage Vorschüsse von den Mietern an den Miet Zahlungsterminen zu erfordern. Und zwar beträgt der Vorschuß 200 Proz. der aus Grundmiete und festen Pauschal- sähen gebildeten Gesamtsumme, d. h. zweimal(g+ 7,6 g)= 2 X 8,6 g 17,2 g oder 13,76 f. Insgesamt hat daher der Mieter Anfang Januar. Voraus- zahlungspflicht nach dem Vertrage vorausgesetzt, außerdemRest! geführt dcrUmlage(nach Belegen) für das ablaufende Vierteljahr vorweg> g a n z e

8.6 g+ 17,2 g 25,8 g oder 20,64 k zu zahlen.

die sich vor allem auf die Bormittagsstunden zwischen 6 und 9 Uhr und auf die Abendstunden zwischen 4 und 7 Uhr zusammendrängen. Der Wagenpark ist außerordentlich heruntergewirtschaftet, da er nicht nur während des Krieges gelitten hat, sondern er wird auch jetzt noch, infolge der ständigen Ueberfülluna dauernd über- mäßig beansprucht. Hinzu kommen die D i e b st ä h l e, die dazu haben, daß nicht nur Messingschräubchen, sondern auch Türschlösser und Messingfensterrahmen ge>

stöhlen werden. Diese Dieb st ähleamal lg«meinen Eigen-

Der Trick öer Säckermeister. Brokkarten. die zweimal benutzt werden. Umfangreiche Veruntreuungen eines städtischen Beamten spielten in einen Prozeß hinein, welcher gestern das Wuchergericht des Landgerichts II beschäftigte. Angeklagt wegen Schleichhandels und Vergehens gegen die Reichsgetreideordnung waren die Bäcker- meister Bree und K o tz a n. Bei der Brotmarkenoerteilungsstelle in Mariendorf war ein gewisser Philipp als Beamter tätig gewesen und Hatto diese Tätigkeit dazu benutzt, um außerordentlich umfangreiche Schie- b u n g e n zu verüben, die ihm einen Gewinn von mehreren hundert- tausend Mark einbrachten. Diese Angelegenheit hatte schon einmal das Wuchergericht beschäftigt. Philipp wurde damals zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt. Mehrer« andere Mitangeklagte, zumeist Galizier , erhielten empfindliche Gefängnis- und Zuchthausstrafen. Zu der gestrigen Verhandlung wurde Philipp aus der Strafhaft vor- geführt. Die jetzige Anklage behauptete, dag die beiden angeklagten Bäckermeister mit Philipp gemeinschaftliche Sache gemacht hatten, indem sie es duldeten, daß Philipp von ihnen die Brotkarten abholte und sie im Einverständnis mit einem anderen ungetreuen Beamten einer Nachbargemeinde, welcher an einem späteren Wochentage die Brotkartenabrechnung vornahm, wieder in den Verkehr(je- bracht hoben sollen, denn dadurch wurde es den Bäckermeistern mog- lich, große Posten Mehl zu beziehen, auf welche sie keinen Anspruch hatten. In der Verhandlung kam unter anderem zur Sprache, daß viele Bäckermeister sich auf folgende Weise in den Besitz größerer Mehlmengen gesetzt hatten, als ihnen eigentlich zustand: Da die Abzählung der einzelnen Brotkarten zu umständlich war, wurden die einzelnen Bündel lediglich abgewogen. Mebrere schlaue Bäckermeister feuchteten nun die Brot- karten stark an, so daß sie ein höheres Gewicht be- kamen und erreichten auf diese Weise, daß ihnen auch mehr Mehl zugewiesen wurde. Der Staatsamvalt beantragte nach mehrstündiger Beweisaufnahme gegen die Angeklagten je 8 Monate Gefängnis und 30 000 M. Geldstrafe. Die Verteidiger hingegen stellten unter Beweis, daß die Angeklagten von Philipp u n- bewußt als Werkzeug zu seinen Schiebungen miß- braucht worden seien. Das Gericht hielt das auch bezüglich des An- geklagten Kotzan für nachgewiesen und erkannte gegen ihn auf Frei- sprcchung. Dagegen wurde Bree wegen Schleichhandels und Vergehens gegen die Reichsgetreideordnung zu 30000 Mark Geldstrafe verurteilt._ Der neue Straßenbahntarif. Vom 2. Januar n. I. ab tritt bei der Berliner Straßenbahn folgender Tarif in Kraft: 1. Einzelfahrschein für Er- wachsen« auf den Stamm bahnen 70 M., im Bereich der Vorortbohnen(vorm. Spandauer , Köpenicker Straßenbahn, Teltower Kreisbahnen mit Grunewaldbahn) 60 M., für Kinder von 6 bis 14 Jahren, ferner(auf Berechtigungsschein) für Lehrlinge und Schüler von 14 bis 17 Jahren und für unbemittelte Studenten, sowie(auf Ausweis des Bezirkssür- sorge- oder Wohlfahrtsamts) für Kriegsbeschädigte und im Gehen schwer behinderte Personen 35 M. Di« Ein- kommensgrenze für den Bezug von Berechtigungsscheinen für Lehr- linge und Schüler ist aus 84 000 M. jährlich(einschließlich Natural- bezüge) erhöht. Die Aussertigungsgebühr für den Berechtigung?- schein beträgt 15 M. 2. Umsteigefahrschein, auch im Wechsel- verkehr mit der Hochbahn 110 M., im Bereich der vorgenannten Borortbahnen 70 M. Die zweite Fahrt muß innerhalb zweier Stunden nach der durch Lochung auf dem Umsteigefahrschein ge- kennzeichneten Stunde angetreten werden; gelocht wird die ange- fangen« halb« Stunde. Zu 1. und 2. werden die bisherigen Fahr- schein« mit niedrigerem Preisaufdruck aufgebraucht und zu den neuen Tarifsätzen ausgegeben. 3. Monatskorten, vom Monat Januar 1923 ab, Stammbahnen eine Linie 4000 M.. bis zu 3 Linien 6000 M., alle Linien 12 000 M. Im Bereich der genannten Vorortbahnen eine Linie 3000 M., all« Linien

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Die Welt ohne Sünde. Der Roman einer Dinute von vicki Baum.

Börries ist tot. Als das Strahlenfieber alle Welt er- griffen hatte und wir die Gefahr erkannten, versuchte er, sich selbst den Strahlen zu entziehen. Er starb nach dtti Wochen. Es erhob sich eine Sekte, die riß die Strahlenapparate von allen Dächern: da kam das erste große Sterben in das Land. Wer an die Strahlen gewöhnt war, der konnte nicht mehr ohne sie leben. Die Erde selbst war gereizt; ungeheure Wetter- wirbel schlugen in die Stadt, als wir die Strahlen nicht mehr hatten. Bürgerkrieg erhob sich; die Sekte wurde überwältigt, und die Apparate wurden neu aufgerichtet. Bald wurden die Menschen in den Dörfern krank, unfähig zur Feldarbeit. Alt und siech zogen sie zur Stadt, drängten ein Haus neben das andere, einen Strahlenfänger neben den anderen. Da leben sie nun. Das Land verfällt. Die Erde ist übermüdet und gibt nur Faulfrucht und taube Aehren her. Die Frauen gebären zweimal im Jahr und die Kinder sterben. Dann fiel die Seuche uns an. In der Stadt ist Hunger und Entsetzen. Sie kämpfen täglich dort und wissen nicht warum. Das Fieber und die Seuche macht sie wahnsinnig. Jeder Mensch ist jedes Menschen Feind. Die Guten sind tot... Michael?"Gestorben."Lorenz?"Getötet." Egidius?" Manche glauben, daß Egidius nicht stirbt", sagte sie leise. Bernward'?"Bernward? Väterchen! Bernward ist Kaiser ." Und du, Kornel?" Ich bewache die Glocke. Ich werde läuten, wenn es Zeit ist. Weißt du, daß die von Süden schon am Weg sind? Sie kommen, die Feinde, die Armeen kommen. Wer weiß, ob wir morgen noch leben." Leb wohl, kleiner Kamerad", sagte er unvermittelt und rührte flücbtig ihre Stirue an.Ich muß zur Stadt. Ich komme. Ich komme", gab er noch einmal einer Stimme Ant- wort, die hart in ihm heischte lind forderte. Ich gehe voraus, Väterchen", sagte Kornel leise. Das tauchte auf wie aus Brunnentiefen. Sie hatte es schon einmal gesagt. Vielleicht vor einer Ewigkeit, vielleicht vor einer Minute. Er folgte ihr. Dies ist die Stadt. Unter einem Himmel, den ihr Widerschein trank und

mißfarben macht, liegt sie wie ein Geschwür. Sie türmt Häuser auf, pfercht Menschen übereinander, klettert mit Schornsteinen den Wolken nach. Auf Dächern, schwindlig hoch oben, surren, rasen, tosen die Sttahlenfänger. Sie recken Stangenarme hinauf und reißen Kraft aus den Wolken, zerren an der Luft, fressen den Himmel leer und mästen die Stadt mit Fieber und krampfhaftem Lachen. Die Menschen sind ur- alt, sie haben Fieber und Haß und Angst in den verwelkten Augen. Sie lachen, obwohl sie aussehen wie Gestorbene. Sie jagen in Wagen hin und sehen nicht zu, wenn einer unter die Räder kommt. Aber wenn sie aneinander streifen, erschrecken sie und suchen am anderen Zeichen der entsetzlichen Krankheit: wuchernde Glieder, geborstene Wunden, Verfärbtes, Stinken- des.... Auch die Stadt ist krank. Auch die Stadt hat wuchernde Glieder, Straßen, die üppig sind, angeschwellt, platzend von verfallener Ueberreife. Da drängt Licht an Licht und Reiz an Reiz; der Genuß hat Schneidendes, ist voll Schärfe und Ueberdruß. Lasterstätten brechen auf wie Wunden am Leib der Stadt. Die Erde ist erstickt unter Stein und Mauer und Asphalt. In ihre reine Tiefe ist die Stadt gewühlt mit Netzen, Rohren, Schienen, Drähten, Kanälen. Unten fließt Gestank und Verwesung, unten pfeifen die riesigen Ratten, ziehen dicke, weiße Maden in langsamen Zügen durch Gänge. Dies sind die wuchernden Straßen der Stadt, an denen Krankhest sichtbar wird. Draußen, am Rand liegen die anderen, die armen, leergesogenen und verkümmerten; die Elendswinkel, mit Leichen in den Winkeln, mit Verhungerten hinter den Toren, mit sterbenden Kindern auf den Treppen. Eingekränzt ist die Stadt vom Wall der Fabriken. Ueber ihnen ist die Lust nicht mehr Luft, nicht mehr das, was Men- schen atmen läßt Brandiger, verdorbener Dunst wirft sich von den Fabriken her über die Stadt Weißglühend stehen sie da und ihre Säle sind voll vom Geschrei der Maschinen. Zwei Stunden arbeiten die Menschen unter den Apparaten, dann werden sie abgelöst. Man schleppt sie ohnmächtig von den Maschinen fort, gibt ihnen Einspritzungen. Sie alle sind ver- fallen? Kreise, und keiner von ihnen wird älter als zwanzig Jahre. Sie stürzen sich in den Wirbel der Stadt wie Wahn- sinnige, mit' aufgerissenem Mund und weiten Fieberaugen. Sie möchten das ganze Leben in einem Glas austrinken, so voll Gier und Unrast hat man sie gemacht. Mitten im Trunk, im Tanz, in der Umarmung fällt Tod sie an oder die Seuche. Verhüllt fahren Autos durch die Straßen, halten vor jedem Haus, sammeln den Menschenabfall von Stunde zu Stunde, werfen ihn am Flußufer hin, wo die Wellen ihn auf»

nehmen und die Böschung ein einziges, riesiges, gekalktes Grab ist. Doch im Theater werden am Abend tausend nackte Tänze- rinnen mit tausend nackten Knaben Liebesspiele aufführen. In großen Wirtshäusern bekommt man jede Lust zu kaufen, jeden Taumel und jeden Rausch. Gold und Platin strömt von einer Hand zur anderen, und nichts ist unkäuflich Dies ist die Stadt. Im Dröhnen der Straßen treibt Anselmus hin und rechtet mft der heischenden Stimme in seinem Innern. Du bist der Führer, sagt die Stimme. Wohin hast du geführt? Ich bin müde; ich bin müde, fleht Anselmus. Er hat ge- brochene Knie, Hunger zehrt ihn ganz auf, Fieber hüllt feine Gedanken ein, seine verbrannten Glieder schmerzen. Aber die Stimme in ihm ist ohne Mitleid. Wohin hast du geführt? War dies dein Ziel? Ich wollte das Gute. Ich liebte die Erde. Ich liebte die Menschen. Liebtest du? In Wahrheit: Liebtest du? Nein. Nicht in Wahrheit. Nicht genug.. Du hast gerastet, während deine Welt verfiel. Wo warst dtt, Führer Anselmus? Ich war in der Einsamkeit. Gott hat mich an sein Herz genommen. Er ließ mir sein Antlitz leuchten und schenkte mir den Frieden. In der Einsamkeit fandest du den Frieden. In der Welt fandest du die Verzweiflung. Vermessen ist es, Führer Anselmus, die Welt lenken zu wollen. Furchtbares hast du getan. Eine Welt hast du niedergerissen und eine neue aufgebaut, und wieder ist deine neue Welt den gleichen Weg gegangen, ist verfallen, muß niedergerissen werden, daß Neues erstehe. Mit unreinen Händen hast du Reines gewollt. Darum ist der Fluch der Vernichtung auf dir und deinem Werk. Mit kaltem Herzen hast du Liebe gepredigt, darum bist du allein. Eine Mauer ist um dich, die hast du nur im Traum durchschreiten dürfen, daß du dich kennen lernst, dich selbst im Bruder, im Kind, in der Frau; dich selbst im Tier, im Feind, im Mörder. Dich selbst in der Welt. Dich selbst in Gott .... Plötzlich steht ein Schrei in der Mitte der Stadt auf und wirft sich gegen einen Wagen. Anselm, zur Seite gedrängt, blickt auf, da jagt noch einmal das Auto vorbei, das er kennt. Darinnen sitzt Bernward, uralt geworden, gedunsen, krank, aber lächelnd. Und erst, da der Wagen verschwindet, sieht Anselm, daß eine Frau neben Bernward sitzt. Eine Frau, die schön ist. blühend, unverändert in allem Grauen des Zerfalls. (Schluß folgt.)