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Heilage öes Vorwärts
Irettag. y. NSrz 1�23
Der Streit um öen Königsplatz. Stltrm in der Stadtverordnetenvevsammlnng.— Wieder eine aufgeflogene Sitzung.
Gestern sollten die Stadtverordneten über die Straßen- und Platzum nennungen beschließen, um die in der vorher- gehenden Sitzung so hitzig gestritten worden war. Weil die Kom- rnunisten mit ihrem Antrag auf Tenennung von Straßen nach Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg allein blieben,' stimmten sie nachher gegen Erzberger und Rathenan. Die Forderung, bestimmte Straßen nach Erzberger und Rathenau zu benennen, wurde von allen Vürgerlichen abgelehnt, svHar vom Zentrunr. Aus den umständlichen Abstimmungen kam schließlich nur heraus, daß eine etwa mal neu zu benennende Straße nach R a t h e n a u benannt werden soll. Für Erzberger war selbst mit dieser aus die Zukunft vertröstenden Einschränkung kein« Mehrheit zu- sammenzubringen. Bei der Abstimmung über den sozialdemokratischen Antrag auf Ilmnennung des„Königsplatzes" in Platz der Re- publik prallten die Gegensätze scharf aufeinander. Als der Bor- steher Caipari den Antrag für„abgelehnt" erklärte und die geforderte Auszählung verweigerte, erhob sich stürmischer Wider- spruch der Linken. Die Kommunisten erweiterten ihn zu einem regelrechten L ä r m k o n z e r t, das den Vorsteher nötigte, die Sitzung zu unterbrechen. Als er sie nach langer Pause wieder er- öffnete und das erneute Verlangen nach Auszählung unbeachtet lassen wollte, setzte neuer Lärm ein. Auch die Mahnung unserer Ge- nassen Dittmann und che i mann, den Einspruch der ansehn- lichen Minderheit zu respektieren, blieb erfolglos. Der Vorsteher Easpar! und der sekundierend« Demokrat Dave begriffen nicht, daß ein Präsidium, das einseitig aus Bürgerlichen zusammengesetzt ist, sich nicht auf„Ueberein- st immun g" berufen kann. Infolge des andauernden Lärms mußte die Sitzung abgebrochen werden. * In der gestrigen Sitzung hat die Versammlung hinsichtlich der Umbenennung von Straßen folgende Beschlüsse gefaßt: Der Ausschußantraa, die Berliner Straße in Chor» lottenb�irg in E r z b e r g e r stra ß e umzubenennen, wurde mit 122 gegen 77 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen abgelehnt. ebenso mit 122 gegen 78 Stimmen der Ausschußontrag, die Ber» liner Straße in Tempelhof in Walter-Rathcnou» Allee umzutaufen. Sodann wurden die Anträge, je einer dem- nach st umzubenennenden Straße die Namen Erzberger - bzw. Walter-Rathenau-Straße zu gaben, mit 108 gegen 85 Stimmen, bzw. mit 105 gegen 86 Stimmen ebenfalls abgelehnt. Darauf kam d-r Antrag, einen neuen großen Stroßenzug noch dem Reichsminister Erzberger zu benennen, zur Wbstim. mung: die Auszäblung ergab die Ablehnung mit 99 gegen 98 Stimmen. Dogea -m gelangte der Antrag, einen neuen großen Straßenzug noch Walter Rathenau zu be» nennen, zur A n n a h m e. Zuvor waren die Anträge der Rechten, die Umbenennun» gen bis zur Entscheidung des Landtags über die Reform dem Ge- letzes Grvß-Berlin auszuheben, bzw. zunächst die Bezirksämter darüber zu hären, abgelehnt worden. Für den kommunistischen Antrag, die Straßen auf die Namen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu taufen, hotten nur die Antragsteller gestimmt. Als nunmehr der Antrag der Sozialdemokraten aus Umtaufe des Königsplatzes in „Platz der Republik" zur Abstimmung kam. erhoben sich dafür sämtliche anwesenden Mit- glieder der Linken. Nach der Gegenprobe erklärte der Vorsteher den Antrag für abgelehnt. Diese Konstatierung ries auf der Linken einen stürmischen Protest hervor, und die verlangte Aus- zähluna wurde von einem Teil der Mitglieder auf der linken Seite des Sitzungssaales so nocbdrücklich mit Getrampel und Klappern unterstützt, daß sich der Vorsteher außerstande sah, die Abstimmungen fortzusetzen, und die S i tz u n g um 814, Uhr unterbrechen mußte. Vom Zentrum lag ein anderweiter Antrag vor,„einen hervor- ragenden Platz Platz der deutschen Republik zu nennen".
Im ersten Teil der Sitzung war hauptsächlich das Orksstakuk für die Berufsschulen in Berlin beraten und verabschiedet worden. Es gelangte im wesentlichen nach den Auss6)ußvorschlägen zur Annahme. Der Ausschuß hatte mit seiner aus den Bürgerlichen bestehenden Mehrheit als entscheidendes Berwaltungs- und Aufsichtsorgan statt der„Deputation für das Schulwesen" die„Deputanan für das Fach- und Fortbildungsschul- wesen", in das Stawt hineingcschrieben, die es noch gar nicht gibt, die mithin hier sozusagen von hinten herum eingeschoben werden sollte. Trotzdem auch der Oberstadtschulrat Paul'sen eindringlich ersuchte, das Statut nicht mit diesem Streitpunkt zu beschweren, setzte sich die bürgerliche Mehrheit durch, deren Woxtsübrer Merten (Dem.) einen sehr stegcsgewissen Ton anschlagen zu müssen glaubte. Gen. K u ch e n b« ck e r, der die Notwendigkeit eines einheit- lichen Statuts nachdrücklich betonte, bemühte sich ebenfalls vergeblich um die Ausmcrzung einer Anzahl von Verschlechte- r u n g e n, die die Avsschußmehrheit an dem Magistratsentwurs vorgenommen hatte. Allerdings gelang es auch der Deutschen Volks- parte! nicht, einige weitere von ihr beantragte Abschwächungen der Ausschußfassuna durchzusetzen. Einen starr abiebnenden Stand- punkt nahmen die Deutschnationalen und die Wirtschastspartei ein. Dem Abschluß eines Vertrages mit dcni Deutschen Tierschutz- verein wegen Bestellung eines Nießbrauchs am Tierheim in Lankwitz hatte die Versammlung ihre Zustimmung gegeben. Der Schluß der Sitzung. Länger als eine halbe Stunde währte die Beratung des Aeltestenausfchusses, der nach der Vertagung der Sitzung zusamm enget reten war. und erst um. 9 Uhr erklärte der Vorsteher Dr. Ea spart die Sitzung für wiedereröffnct. Sofort wieder- holten sich bei den Kommunisten die stürmischen Rufe:„Auszählen!" die jetzt noch durch Trommeln und Pfeifen unterstützt wurden. Easpari erklärt« die beanstandete Abstimmung durch seine Konstatierung, der auch dos ganze Bureau sich angeschlossen habe, für erledigt und wollte in den Abstimmungen fortfahren. Gen. Dittmann appellierte demgegenüber an den Gerechtigkeitssinn des Borstehers, der doch auch nicht unfehlbar sei und sich irren könne: der Vorsteher solle durch Auszählung zweifelsfrei seststellen lassen, wo die Mebrheit wor bzw. ob er sich geirrt habe oder nicht. Man dürfe als Präsident mit der Autorität des Präss- deuten nicht spielen, am wenigsten hier, wo es sich um eine blaße Formalie bandle. Gen. ch e i m o n n schloß sich ausdrücklich d>n Worten Dittmanns an: Dave(Dem.) vertrat dagegen die Auf�ssung(lasparis und meinte, wenn man davon abweiche, komme man zum polni- scheu Reichstag. Als dann Fabian(Dnail.) unter Berufung auf den Text der Geschäftsordnung sich zu längeren Ausführungen anschickte, wurde der von der äußersten Linken vollführt« Lärm dermaßen betäubend, daß an eine geordnete Fortführung der Verhandlung nicht zu denken war und der Vorsteher um 9 Uhr 10 Minuten kurzerhand die Sitzung schloß. ** £ Sofort noch Schluß der erregten Sitzung wurde der sozial- demokratische Autrag, den„Königsplatz" in PlatzderR«publik umzunennen, u e u e i r ge b r a ch t. Er kommt auf die Togesord« nung der nächsten Sitzung, so daß nochmals über ihn abgestimmt werden muß. chiermit wird eine zuverlässige Feststellung des Ab- stimmungsergebnisse» erzwungen.
Ein schwerer Unglücksfall ereignete sich gestern in den Nach- Mittagsstunden auf der Laubenkolonie Marienthal zu Baumschulen- weg. Dort versuchte in seiner Laube der Handelsmann Michaelis einen Zünder, den er in Cummersdorf gefunden hatte, zu öffnen. Der Zünder explodierte und riß dem Mann die linke Hand ob, während die Beine zerfetz: wurden. Ferner er- hielt der Unglückliche noch einen Brust- und Handschuß. Die in dsr Röhe befindliche Ehefrau verlor«in Auge und erlitt Der- letzungen an beiden 5)ändsn und Armen. Die Derletzten fanden im Britzer Krankenhause Aufnahme. Laubenkolonisten nahmen sich ihres dreijährigen Kindes an.
Ak» Al» Al» Al» Das ist kein Rätsel, auch nicht etwa ein Preisrätsel, für dessen richtige Lösung, nun sagen wir, nur fünf Dollar<der Dollar steht ja so niedrig! jammern olle Schieber und Spekulanten) ausgefegt sind. Rem! Das ist vielmehr die ebenso schöne wie sinnvolle Abkürzung des Namens einer Firma, die als erste auf der ersten Seite des neuen Telephon buches verzeichnet fteht. Man muß ge- stehen, es sind ein bißchen viel Aos auf einmal, und als dieser T«ze jemand die betreffende Firma telephonisch anrief und fragte, ob er auch genügend Aas gesagt habe, antwortete eine liebenswürdige Frauenstimme:„Ist Ihnen besser oder soll ich einen Krankenwagen holen?" Aber diese vielen Aos scheinen doch ein Rätsel zu sein, denn nach der Erklärung, die sich in Klammern hinter den Aas be- findet, sollen sie bedeuten: adäquate Anfertigungsstökte aller Amput. anzul. Ausrüst. Appar. Und was das heißt, kann man wirklich nicht raten! Auf dieser ersten Seite des neuen Telephonbuchcs scheint über» Haupt eine wahre Aaseuche zu herrschen. Nach den sieben kommen vier Aas, die bedeuten Akzidenzdrucks Anfertigung aller Art, dann kommen drei Aas(A. A. A. Reklame) und dann achtmal zwei Aas, die eine Aabo-Gefellschaft bedeuten und ein Abschreibebureau Aat und andere merkwürdige Dinge mehr. Man kann au? diesen geradezu blödsinnigen, das Sprachgefühl beleidigenden und durch nichts ge- rechtfertigten Abkürzungen klar erkennen, wie weit der Snobismus führt. Das sogenannte abgekürzte Verfahren hat, um Zeit, und bei Telegrammen, Geld zu sparen, im kaufmännischen Leben und Be- trieb gewiß Berechtigung. Aber es muß doch immer ein gewisser Sinn in allen diesen Dingen liegen. Man wird es verstehen, wenn sich zum Beispiel«ine Aktiengesellschaft für Anilin: Asa nennt, oder eine Kreditgesellschoft auf Aktien: Kada!, wenngleich diese gcwolt- samen Abkürzungen die Sprache grausam genug malträtieren. In- dessen dieses Allerneueste mit den vielen Aas, das geht denn doch über den grünen Klee. Der reinste Bolschewismus der Sprache. Außerdem auch nicht ganz ohne Risiko. Denn wenn jemand, der mit einer dieser also abgekürzten Firmen ein Geschäft abschließen will, ein Telegramm zu diesem Behuf an die Firma sendet und ein Aa zu wenig auf die Telegrammadresse setzt, erhält die telegraphische Anweisung auf einen großen Austrag nicht die Firma, die gemeint war, sondern eine andere, mit zwei Zlas weniger im abgekürzten Firmenschild. Worau? man ersehen kann, daß die leidige Aageschichte viel Aerger und Schaden anrichten kann, so daß schließlich noch ein — Arzt geholt werden muß. Oer. neue Srotpreis. Das Alarkenbrok 900 3!T., die Markenschrippe 30 IN. Dos Ernährungsamt der Stadt Berlin teilt folgendes mit: „Der Entschluß der Reichsregierung, trotz der Vervirlsnchung des llmlsgegetreidepreises die Mehlobgabcpreise der Reichs- getreidestelle gegenwärtig nicht zu erhöhen, macht eine grund- legende Aenderung des Brotpreiscs entbehrlich? jedoch lassen sich kleinereörtliche Erhöhungen durch Steigerung der Löhne oder sonstiger Kosten in den einzelnen Kornmuiich nicht vermeiden. In Berlin tritt in den Bäckereien mit dem 12. März ein n e u e r Lohntarif in Kraft, der gegenüber dem bisherigen eine Steige- rung von etwa 3 0 Proz. bringt: zu Beginn des Monats sind außerdem bekanntlich Erhöhungen der Ausgaben für Licht, Strom, Miete usw. in den Bäckereien cinaetrcten. Ferner wußten die Derwaltungskostcn, die zuletzt im Januar berechnet waren und seitdem unverändert geblieben sind(so daß angesichts des Emporschncllens der Preise im Februar die Stadt seit Wochen mit erheblichen Zuschüssen belastet war), dem gegen- wärtigen Stand der Preise angenähert werden. Eine Neufest- setzung des Drotpreises war somit unabweisbar, da da» Reich nicht in der Lage war, unserem Antrage auf Uebernahme der Mehrkosten zu entsprechen. Der neue Brotpreis beträgt vom 12. März d. I. ab für das K o n, jnii n a l g r o ß b r a t 9 0 0 M., für die K o m m u n a l s ch r! p p e 3 0 M. Zum Vergleich sei erneut darauf hingewiesen, daß zurzeit die Kommunalportion von l900 Gr. in freiem Brot 2816 M. kostck, also das freie Brot mehr als dreimol so teuer ist wie das Kommunalbrot. Die Elnäscherungsgcbühr ist. wie der Ausschuß für Purk--und Bestoitungswesen mitteilt, mit Wirkung vom 10. März 1925 von 50 000 M. auf 58000 M. erhöht worden.
Drei Soldaten.
3#] Don John dos Posfos. Zluz dem omerikanilchcn Mani'slript übersetzt von Zulia » Sumper». Er begann plötzlich zu husten. Endlich konnte er schwach mit seiner kleinen, dünnen Stimme sagen:„Ja, nun bin ich hier, und mit der Demokratie.. „Demokratie ist... Das ist Demokratie: wir essen stinkigen Gulasch, ün' dieses fette Weib geht mit dem Oberst aus und frißt Chocolat souffls... Wahre Demokratie! Aber ich will euch was sagen. Man darf nicht immer Schlachtvieh sein.. stotterte Appelbaum heraus. „Es gibt mehr Schlachtvieh auf der Welt, als irgend etwas anderes", sagte Andrews. Appelbaum in seiner Uniform, die in Falten um seinen mageren Körper hing, ging unsicheren Schrittes zur Tür hin- aus, von den neidischen Blicken aller begleitet. „Der denkt woHH er wird bald Präsident sein", sagte der Leichenoestatter bitter. „Wird's auch wahrscheinlich werden", meinte Andrews. Er machte sich wieder m seinem Bett zurecht und versank wieder in die dumpfe Kontemplation des bohrenden, kriechen- den Schmerzes, in dem die zerrissenen Sehnen seines Schen- kels sich langsam nueder aneinander knüpften. Er versuchte verzweifelt, den Schmerz zu vergessen. Es gab doch soviel. «n das er denken wollte, wenn er nur vollkommen ruhig liegen und die zerfetzten Enden von Gedanken, die auf der Oberfläche seines Bewußtseins hcrumsäjwammen. aneinander. stücken könnte. Er zählte die Tage, die er nun im Hospital war. Fünfzehn. Konnte es wirklich so lange schon sein? Bis jetzt hatte er noch nichts gedacht! Bald würden sie ihn, wie Appelbcrtlm gesagt hatte, in die Klasse A versetzen und in die Tretmühle zurückschicken, und er würde noch nicht seinen Mut und die Beherrschung seiner selbst wiedergewonnen haben. Welcher Feigling war er doch gewesen, sich zu unterwerfen! Der Mann neben ihm hustete weiter. Andrews starrte für einen Augenblick auf die gelbe Silhouette des Gesichtes auf den Kissen mit der spitzen Nase und den kleinen, gierigen Augen. Er dachte au das glänzende Leichenbestattcrgeschäst, an die schwarzen Handschuhe, an die langen Gesichter, an sanfte, taktvolle Stimmen. Dieser Mann und sein Dater vor!
ihm hatten davon gelebt, von sich Dinge zu behaupten, die sie njcht fühlten, Realitäten mit Gerank van Krepp und anderem Flitter vorzutäuschen: für diese Leute starb nie jemand; man schied hinweg, man ging hinüber. Trotzdem, es mußte ja Leichenbestatter geben. Dieser Beruf war in keinem Sinne schmutziger, als irgendein anderer. Und um sein Geschäft nicht zu verderben, darum war der Leichenbestatter freiwillig eingetreten, und auch, um der Welt die Demokratie zu erkämpfen. Diese Phrase trat Andrews an wie ein« Flut von Volksliedern, von patriotischen Nummern auf einer Laudert illebühne. Er erinnerte sich an die großen Flaggen, die triumphierend über der fünften Avenue wehten, und an die Massen, die Pflicht- gemäß„hoch" schrien. Aber das waren ja nur güllige Gründe für einen Leichenbestatter. Waren es für ihn, John Andrews, triftige Gründe? Nein, er hatte keinen Beruf. Er war nicht in die Armee hineingetrieben worden von der öffentlichen Met- nung, er war nickst hineingeschwemmt worden von irgendeiner Woge kritiklosen Vertrauens in die Phrasen gekaufter Propa- gandisten. Er hatte eben nicht die Kraft zu leben. Ein Ge- danke kam ihm ins Bewußtsein. Wie viele hatten doch während der langen Tragödie der Geschichte sich selbst lächelnd geopfert um der Reinheit ihrer Idee willen! Er aber, er hotte nicht den Mut gehabt, einen Muskel nur zu bewegen für seine Freiheit. Er hatte fast freudig sein Leben als Soldat gewagt für eine Sache, die er für vollkommen sinnlos und verbrecherisch hiell. Welches Recht zu existieren hat überlzaupt ein Mensch, der zu feige war, um für das, was er dachte und fühlte, einzustehen, für seine ganze Art, für alles, was ihn unterschied von seinen Mitmenschen, um nicht ein Sklave zu sein, um mit der Mütze in der Hand dazustehen und zu warten auf irgendeinen stärkeren Willen, der ihm gebieten sollte, zu handeln. Ekel stieg wie plötzllche Uebelkeit in ihm auf. Sein Be- wußtsein hörte auf, Phrasen und Gedanken zu formulieren. Er lieferte sich dem Ekel aus, wie ein Mann, der zu viel ge- trunken hat, der bis jetzt aber fernen Willen fest an der Kan- dare hatte und sich plotzllch Hals über Kopf der Trunkenheit überläßt..- Er lag sehr still mit ge'chlossenen Augen, horchte auf die Geräusche des Saales, die Stimmen der sprechenden Männer und die Hustenanfälle, die über den Mann neben ihm her- fielen. Der stechende Schmerz quälte monoton. Er fühlte sich hungrig und dachte, ob nicht bald Abendbrotzeit sei. Wie wenig bekam man doch in diesem Hospital zu essen! Er rief den Mann im gegenüberliegenden Bett an:
„Heh, Storky, wie spät ist es?" „Es ist Essenszeit. Hast wohl guten Appetit auf ein Becf» steal und Zwiebel und gebratene französische Kartoffeln?" „Hall's Maul." Ein Klappern von Ziimgeschirr am anderen Ende dos Saales veranlaßt« Andrews, sich weiter in seinen Kissen.auf- zurichten. Nachdem er gegessen hatte, nahm er wieder die„Ten» tation de Saint Antoine" auf, das Buch lag auf seinem Bett neben seinem unbeweglichen Bein; er vertiefte sich darin, las die prächtig formulierten Sentenzen mit gierigem Eifer, als ob das Buch eine Medizin sei, aus der er tiefes Bergessen trinken könne. Er legte das Buch nieder und schloß die Augen. Sein Bewußtsein war voll eines seltsam fließenden Glanzes wie der Ozean in einer wannen Nacht, wenn jede Welle sich blaß und glänzend bricht und geheimnisvoll«, milchige Lichter wie von Ewigkeiten her an die Oberfläche aus dem Dunkel des Masters heraufsteigen und glimmen und verlöschen. Seltsame, fließende Harmonien durchströmten sein Fleisch, wie ein grauer Himmel beim Hereinbrechen der Nacht plötzlich mit endlos wechselnden Flecken von Licht und Farbe und Schatten sich fillll. Als er dann versuchte, seine Gedanken zu fasten, ihnen einen definitiven musikalischen Ausdruck zu geben, war er plötzlich leer. Wie in einem tiefen Wasser eine Sandbank, die eben noch voller kleiner silbriger Fische war, plötzlich dunkel und leer erscheint, wenn ein Schatten über das Wasser fällt und man statt schimmernder beweglicher kleiner Körper nur noch die Reflexion seiner eigenen Gestalt im Wasser sieht. John Andrews wachte auf und fühlte ein« kalte Hand auf seinem Kopfe. „Fühlst du dich wohl?" hörte er eine Stimme in seinem Ohr. Er sah hinauf in ein puffiges Gesicht von mittleren Jahren mit einer mageren Nase und grauen Augen und starken Schatten darunter. Andrews fühlte die Augen, die ihn forschend ansahen. Er sah das rote Dreieck auf dem Kakhi» ärmel des Mannes. „Ja," sagte er. „Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich«in wenig mit dir reden." (Fortsetzung folgt.)