Nr. ISS» Jahrgang Vienstog. IS. �pril IY2Z
Die Not in Serlin. Eine Darstellung vom Oberbürgermeister Böst.
Zur Beleuchtung des Mangels und Elends, die in Berlin herrschen und von Tag zu Tag härter die Bevölkerung drücken, hat der Berliner Oberbürgermeister Böß eine sehr beachtenswerte Leine Schrift verfaßt.(Böß, Die Not in Berlin , Tatsachen und Zahlen. Berlin 1923, Zentralverlag. 32 Seiten. Preis 9,39 M. mal Schlüsselzahl, die jetzt 2599 beträgt.) Der Zweck des Heftchens ist, über den bestehenden Notstand aufzuklären und die Gewissen wach- zurlltteln. Böß will auch die irrige Meinung obersläch- licher ausländischer Beobachter, die aus dem äußeren Glanz mancher Verkaufsläden und Gaststätten auf Ueberfluß und Wohlleben der Gesamtheit schließen zu dürfen glauben, durch Schilderung der wirklichen Berhältnisf« berichtigen. Aus seiner Kenntnis der Verwaltung bringt er eine reichhaltige Zusammenstellung von Tatsachen und Zahlen, für deren Wieder- gäbe er eine ungewöhnliche Knappheit des Ausdrucks gewählt hat. Sein Schriftchen gleicht einer Sammlung hingeworfener Notizen, die oft sogar auf Formung voller Sätze verzichten. Aber gerade wegen der gänzstchen Schmucklosigkeit seiner Darstellung wirkt mit um so stärkerer Wucht, was er über die Wirtschaftslage und die Ernährungsschwierigkeiten, über den schlechten Gesundheitszustand, über das furchtbare Kinderelend und über die nicht minder er- schüttelnde allgemeine Not mitteilt. Ein paar Proben mögen den Stil und die Bedeutung dieser Schrift zeigen. » In dem Abschnitt über die Wirtschaftslage spricht Böß auch von dem Rückgang der Milcherzeugung und sagt:„Vor dem Kriege eine Kuh normalerweise lährlich 2299 bis 2459 Liter Milch, gegen- wärtiger Ertrag nur auf 1599 Liter geschätzt— auch geringerer Fettgehalt der Milch. — Deutschlands Einfuhrüberschuß an Frisch- milch zurückgegangen, und zwar von 29 999 Tonnen<1913) auf 4999 Tonnen(1922), an Nahm von 44 359 Tonnen(1913) aui nur 123 Tonnen l1922)! Für Berlin Zufuhr und Bedarf an Milch vor dem Kriege etwa 1.2 Millionen Liter täglich — anfangs Dezember 1922 nur etwa 385 999 Liter, anfangs Februar 1923 gar nur 399 999 Liter täglich zur Ver- iügung, davon noch mehr als 59 999 Liter täglich wegen hohen Preises unverkauft und verbuttert und in Hotels nnd Gasthäusern von Ausländern verbraucht.— Demgegenüber anerkannt normaler Gesamtbedarf für Kinder, Schwangere, stillende Mütter, Krank« und alte Leute in Berlin rund 699 999 Liter täglich, ohne sonstigen Haus- Halts- und gewerblilben Verbrauch.� Der Abschnitt über den Gesundheitszustand entwirft erschreckende Bilder des El e n ds. Man lese folgende Prob«:„Be- sonders auffällig ist die Zunahm« des Hungerödems— Hunger, keine anerkannte Krankheitsform, tritt auch meist in Verbindung mit anderen Erscheinungen auf, daher keine verläßliche Kenntnis der Häufigkeit der Hungertodesfälle, solche ineist durch andere Todesursachen verdeckt— trotzdem Sterbefälle infolge von Hunger und Entbehrungen aus allen Tellen des Reiches ärztlich bekundet— in Berlin in den drei letzten Monaten des Jahres 1922 acht Hunger-Todes fälle nachgewiesen— vier Männer und vier Frauen, zum Teil alleinstehende Almosencmpfänger, aber auch verheiratete. mit dem anderen Ehegatten zusammenlebende Personen— dem Alter naib sieben über 59 Jahre— durchweg seit längerer Zeit er- werbsrnstShig.* Ausführlich geht Böß auf das kinderelend ein. Aus den schul- ärztlichen Untersuchungen teilt er mit:„Im Bezirk Pankow machte nach derartigen Untersuchungen im Oktober 1921 der törver- liche Zustand der Schulkinder bei 23 Prozent der untersuchten Fälle Einleitung von Hilfsmaßnahmen dringend notwendig— im Bezirk Schöneberg im Jahre 1922 von 1428 Schulanfängern 135, also fast 19 Prozent wegen schlechten Gesundheitszustandes vom Schulbesuch zurückgestellt(1913: 2,1 Prozent), davon 82 wegen Körperschwäche infolge Unterernährung— Konstitution der Schulanfänger dieses Bezirks als„schlecht" bezeichnet 1913 bei 13,9 Prozent der Untersuchten, 1922 bei 27,2 Prozent: mit„guter" Kon- stitution 1913: 45,1 Prozent, 1922: 15,8 Prozent— Untersuchungen der Lcrnansänger im Bezirk Neukölln ergaben ausgesprochene Fälle von Tuberkulose 1914 bei 9,5 Prozent der Kinder, 1929 bei IL Prozent, 1921 bei 2,5 Prozent und 1922 bei 3,2 Prozent." • Böß gibt an, was zur A b h i l f e getan wird. Am eingehendsten berichtet er darüber in dem Abschnitt, der die allgemeine Not be-
handelt. Er schildert die Fürsorge für Kriegsbeschädigte und Krieger- Hinterbliebene, für Sozialrentner und Kleinrentner, für Obdachlose usw. Aber er kommt zu dem Ergebnis, daß die Mittel der Geineinde nicht im entfernte st en ausreichen, nur der schlimmsten Not zu steuern. Mit Recht sagt er, daß seine Schil- derung der Zustände in Berlin ein Beitrag zur Beurteilung der Verhältnisse in Deutschland überhaupt ist. Die Zusammen- stellunz wurde im wesentlichen vor dem Beginn der Ruhrbesetzung abgeschlossen, sodaß die durch den Einbruch in das Ruhrgebiet herbeigeführte weitere Verelendung fast noch gar nicht berücksichttgt ist. Oberbürgermeister Böß schließt mit dem Ausdruck schwerster Sorge, die bei dem Gedanken an die Zukunft ihn erfüllt.
Die Schulzahnpflege. Ein untaugliches Objekt für Ersparniffe. Genosse Dr. Alexander Drucker ersucht uns um Beröffent- lichung der folgenden Zeilen: Di« Berliner Stadtverwaltung ist in ihrer wirt- schaftlichen Notlag« auf den Gedanken gekommen, die Zahnpflege durch die Berliner Schulzahnkliniken gegen einen Jahres- beitrug der Eltern durchführen zu lassen. Hierzu muß folgendes gesagt werden: Bis zur Uebernahme durch die Stadt hatten die Berliner Schulzahnkliniken eine recht sorgenschwer« Ver- gangenheit. Ein Privatverein hatte unter persönlicher Hin- gab« seiner führenden Mitglieder die Mittel für Gründung und Er- Haltung derselben herbeigeschafft und sich durch die Propagierung dieses sozialen Gedankens große Verdienst« erworben. Da die wirt- schastlich« Basis dieses Unternehmens, gegründet auf Wohltätigkeit und städtischen Beihilfen, sehr schlecht war, führte man das Abonnementssystem ein. Hierunter versteht man die Zah- lung eines Jahresbeitrages der Eltern für die zahnärztliche Ver- sorgung ihrer Kinder. Der wirtschaftlich« Ertrag aus diesem System war ein äußerst geringer, da ein großer Teil aus Unkenntnis, Gleichgültigkett oder Armut das Geld für ein Abonnement nicht zahlte. Die Mass« der Kinder sucht« deshalb die Kliniken nur auf, wenn sie von Schmerzen getrieben wurden. So kam es. daß nur «in paar Prozent der Berliner Schulkinder den zu erstrebenden Erfolg von dieser Einrichtung hatten In den Schulzahnkliniken herrschte ein ausgesprochen„wilder" Betrieb. Als die Stadt die Schulzahnkliniken in eigene Verwaltung übernahm, machte sie Anstrengungen, um die systematische Schulzahnpflege durchzuführen. Unter„systemattscher Schulzahnpflege" versteht man die Untersuchung der Zähne aller Schulkinder nach Eintritt in die Schul« und die Behandlung der Zahnkranten bis zur Sanierung. Daran schließen sich durch die Schuljahr« Untersuchungen und Be- Handlungen in regelmäßigen Zwischenräumen. Das Ziel der.syst«. matischen Schulzahnpflege" geht dahin, die Kinder beim Austritt au» der Schule mit gesundem Gebiß in ihren Beruf zu entlassen und sie serner während der Schulzeit so an die Zahnpflege zu ge- wähnen, daß sie ihre Zähne auch später nicht vernachlässigen. Aus all diesen Gründm. ist es kaum denkbar, daß die Stadtverwaltung bei der Absicht verharren wird, das Abonne- mentssystem wieder einzuführen. Leiden würden dar- unter gerade die Kinder der Aermsten.
Die Umlauffrist für Notgeld. Der Reichsfinanzminister hat, wie berichtet, das umlaufende deutsche Notgeld zum 5. Apr'l aufgerufen und die Einlösung des Notgeldes durch die Ausgabestellen binnen vier Wochen, also zum 3. Mai d. I., angeordnet. Ausgenommen von dieser Bestim- mung sind das Rheinland , Westfalen, Hessen- Nassau , die bayerische Pfalz , Hessen und Baden, in denen das Notgeld auch weiterhin mit unbestimmter Frist umlaufen darf. Für die Stadt Berlin ist der Endtermin auf den 5. Mai, für den Kreis Osthavelland auf den 5. Juli festgesetzt worden.
Zwei Morüe aufgeklärt. Der Schust über die Schulter— Das Komplott in der Wolföschlucht. Nachdem der Kriminalpolizei die AufLärung des Leichenfundes am Mühlendamm gelungen ist, wird jetzt gemeldet, daß auch der Mord an der Portierftau E r m i f ch, die in dem Hause Müller- straße 153/153» ermordet wurde, als sie in Gemeinschaft mit ihrem Manne Einbrecher überraschte, die in die Lagerräume einer Leder- Handlung eingebrochen waren, ebenso aufgeklärt ist wie der Mord an dem Wächter Heinrich M e w e s, der in der Neuen Friedrichstr. 1 ebenfalls überraschten Einbrechern zum Opfer gefallen war. Bei den Nachforschungen zur AufLärung dieser Kapitaloer- brechen war der Kriminalpolizei ein Pärchen in der Mulackstraße, das sich häufig zankte und schlug, aufgefallen. Es handelte sich um den dreißigjährigen Franz K a l i n o w s k i aus der Bremer Str. 47 und eine 26 Jahre alte Aufwärterin Charlotte A n g r e ß, seine Ee- liebte. Sie gaben nach längerem Leugnen zu, daß sie bei dem Ver- brechen in der Müllerstraße beteiligt waren. Nun gelang es auch, die anderen Mittäter, einen 22 Jahre alten Arbeiter Herbert T h a l k e, der bei seiner Mutter in der Hussitenstr. 42 wohnte, und einen 37jährigen aus Arnheim in Holland gebürtigen Kaufmann Heinrich P l e i m e s, der sich unangemeldet in der Diedenhofener Straße aufhielt, zu ermitteln und festzunehmen und alle vier zu einem Geständnis zu bringen. Thalke wußte in dem Hause Müller- straße 153» Bescheid und kannte dort das Lederlager von Hermann Springer, auf das die Verbrecher es abgesehen hatten. Er gewann Kalinowski und Pleimes dazu, mit ihm in das Lager einzubrechen, und die Angreß übernahm die Rolle der„Schmicrefteherin". Wäh- rend sie noch beim Zusammenpacken des Leders waren, kamen Ermisch und seine Frau nach dem Keller, um Badewäsche im Heizraum zum Trocknen aufzuhängen. Als einer der Verbrecher, Pleimes, in dem Kesselraum das elektrische Licht aufblitzen sah, gab er seinen Spieß- gesellen ein Zeichen, so daß sie augenblicklich von ihrer„Arbeit" ab- ließen. Pleimes wurde von Frau Ermisch gefaßt und festgehalten. Er ging mit Ermisch und seiner Frau aus dem Keller. Es gelang ihm jedoch, seine Pistole aus der Tasche zu ziehen. Ueber die linke Schulter hinweg gab er einen Schutz ab, der Frau Ermisch durch den Hals in die Lunge traf. Die Frau brach t o t zusammen. Die Ver- brecher blieben seitdem in ständiger Verbindung und haben ohne Zweifel noch eine ganze Reihe von anderen Ein- brächen aus dem Kerbholz. Mitteilungen nach dieser Richtung nehmen die Kriminalkommissare Galzow und Bünger im Zimmer 88 des Polizeipräsidiums entgegen. Die Verbrecher in der Neuen Friedrichstraße wollten das Lager der Gemeinnützigen Beamtenversorgung ausplündern. Sie waren gerade im Begriff, für 49 Millionen Leinenwaren und Stoffe weg- zuschaffen, als ihnen M e w e s auf seinem Konttollgange im Keller begegnete. Die Verbrecher warfen den alten Mann zu Boden. fesselten ihm die Hände auf dem Rücken und knebelten ihn, so daß er an Erstickung st a r b. Die von den Kommissaren G e n n a t und L i p i k geleiteten Ermittlungen haben jetzt das Verbrechen der vollen AufLärung nahe gebracht. Der Plan des Einbruchs wurde in dem dem Tatort nahegelegenen Lokal Zur Wolfsschlucht im l Stadtbahnbogen 72 an der Dircksenstraße ausgeheckt. Ein von der � Firma wegen Veruntreuungen enttassener Hausdiener Karl H i n tz � lernte in der Wolfsschlucht zwei andere Stammgäste„Emll" und ! ,Lurt" kennen und erläuterte mit ihnen in der Woche vor der Tat sehr eingehend den Einbruchsplan. Emil ist jetzt festgestellt als ein mehrfach vorbestrafter 38 Jahre alter Händler Emil Albrecht, der vorübergehend in dem Hause Sebastianstraße 3 ein Produkten- geschäst betrieben hat. Kurt ist ein 46 Jahre alter früherer Geld- schrankeinbrecher Kurt von der Heyden. Albrecht konnte fest- genommen werden, als er eben plante, nach Hamburg abzureisen. Ferner wurden der früher bei der bestohlenen Firma ebenfalls tätig gewesene Hausdiener Willi Schuck, der dort ebenfalls Warendieb» stöhle oerübte, der Wirt der Wolfsschlucht Georg Schäker und dessen Kellner Karl D i e s i n g verhaftet. wieder ein wordanschlag. Am Montag nachmittag gegen 11� Uhr erschienen in dem Tri- kotagengeschäft von Liebers in der Christburger Strsße 37 zwei junge Leute, angeblich um Hemden zu taufen. Die allein anwesende Frau Liebers erklärte, keinen Lorrat an Heniden zu haben. Darauf verlangten die beiden Männer andere Gegenstände zu taufen. Frau Liebers, durch das Verhalten der beiden jungen Leute g e- ä n g st i g t, slüchttte in einen Nebenraum. Als die beiden Burschen ihr nacheilten und ihr eine P i st o l e aus die B r u st setzten, rief sie um Hilfe. Darauf eilte ihr Mann, der in einem anderen Zimmer
(Rachdruck verboten. Der Matlk-Derlag, Berlin .) Drei Soldaken. 8ij Von John dos Passos . Aus dem omerikanischc» Manuskript übersetzt von Julian Sumper». „Ich glaube, ich habe heute mo-rgen vergessen, mir das Haar zu kämmen. Sie sehen, wie erregt ich war, mit Ihnen nach Chartres zu fahren, so allein. Ja, meine Mutter lehrte miä), Klavier zu spielen, als wir noch klein waren. Sie und ich lebten in einem alten Hause, das ihrer Familie in Virginia gehörte. Wie das von alledem, was Sie bisher erlebt haben, verschieden sein mag! In Europa wäre es unmöglich, so iso- liert zu sein, wie wir in Virginia waren. Mutter war sehr unglücklich. Ihr Leben war entsetzlich zugrunde gerichtet war- den... Jenes unbefreite, hilflose Elend, das nur eine Frau erleiden kann... Sie erzählte mir immer Geschichten, und ich setzte sie dann in Musik. Sie pflegte stundenlang wundervolle Kopien meiner Melodien zu machen. Meine Mutter ist der einzige Mensch, der je in meinem Leben eine wirkliche Bedeu- tung hatte... Aber ich entbehre das technische Training sehr." ,„Glauben Sie, daß das so wichtig ist?" fragte G�neviöoe und beugte sich zu ihm hinüber. „Vielleicht: ich weiß nicht. Aber ich glaube, es kommt immer früher oder später, wenn man nur intensiv genug fühlt. Aber es ist so entsetzlich, zu fühlen, daß alles, was man sagen will, einem entgleitet. Eine Idee kommt einem in den Kopf, und man fühlt sie wachsen und wachsen und kann sie nicht fassen. Es ist wie an einer Straßenecke stehen und eine ungeheure Prozession herankommen sehen, ohne in der Lage zu sein, sich ihr anzuschließen. Oder wie eine Flasche Bier zu öfkncn, daß der Schaum herausspritzt, ohne ein Glas zu haben, um es hineinzugießen." Gäneoidve brach in Lachen aus: „Aber Sie können doch aus der Flasche trinken," sagte sie mit leuchtenden Augen. „Ich versuche es ja," erwiderte Andrews. „Hier sind wir. Da ist die Kathedrale! Nein, man sieht sie noch nicht!" rief Gänevi�vc aus. Sie standen auf. Als sie den Bahnhof verließen, sagte Andrews:„Aber nach alledem: das Einzige, was wichtig ist, ist die Freiheit. Wenn ich erst aus der Armee heraus sein werde..
„Ja, Sie haben recht. Wenigstens, was Sie betrifft. Der Künstler sollte frei sein. Von jedem Hindernis." „Ich sehe keinen Unterschied zwischen einem Künstler und irgendeinem anderen Arbeiter," sagte Andrews ausgebracht. „Schauen Sie!" Von dem.Platz, wo sie standen, über den grünen Kronen eines kleinen Parkes, konnten sie die Kathedrale sehen, mit dem ernsten Turm und dem heiteren Turm, und dem großen Fenster dazwischen. Sie standen Schulter an Schulter und schauten sich an, ohne zu sprechen. Nachmittags gingen sie den Hügel hinunter zum Fluß, der zwischen Häusern und Mühlen, aus denen das Geräusch mahlender Räder kam, hindurchfloß. Ueber ihnen und über den Gärten mit in voller Blüte stehenden Birnbäumen stieß die Kathedrale in den bleichen Himmel. Auf einer engen und sehr alten Brücke blieben sie stehen und schauten in das Wasser, das blau und grün und grau schimmerte vom Himmel und von den ftischen Blättern der Weidenbäume, die am Ufer standen. Sie sannen, waren von der Schönheit des Tages und von der ungeheuren Herrlichkeit der Kathedrale erfüllt. Müde von alledem, was sie gesehen und gesagt hatten, sprachen sie von der Zukunft mit ruhigen Stimmen. „Alles kommt darauf an, zu arbeiten." sagte Andrews. „Man muß Sklave fem, um irgend etwas vollenden zu können. Es kommt nur darauf an, sich seinen Herrn zu er- wählen, glauben Sie nicht auch?" „Ja. Ich glaube, daß alle die, die das Leben der Men- schen irgendwie mitgeformt haben, in irgendeinem Sinne Sklaven waren." sagte Gönevidve langsam.„Jeder muß sehr viel vom Leben aufgeben, um irgend etwas tief leben zu können. Aber es lohnt sich." Sie sah Andrews voll in die Augen. „Ich glaube auch, es lohnt sich. Aber Sie müssen mir helfen. Ich bin wie ein Mensch, der aus einem dunklen Keller ins Licht koinmt. Bin fast zu verwirrt von der Helligkeit. Aber ich bin doch wenigstens aus dem Keller heraus." „Sehen Sie, da sprang ein Fisch!" schrie Gänevidve. „Ob wir nicht ein Boot mieten könnten? Glauben Sie nicht auch, es wäre schön, hier in einem Boot hinauszufahren?" Eine Stimme übertönte Göneviöves Antwort:„Zeigen Sie Ähren Paß her!" Andrews wandte sich um. Em Soldat mit einem runden»
braunen Gesicht und roten Backen stand neben ihm auf der Brücke. Andrews starrt« ihn an. Eine kleine Narbe oberhalb seines linken Auges stand weiß auf feiner braunen Haut. „Zeigen Sie Ihren Paß her!" sagte der Mann wieder. Er hatte eine hohe, quietschige Stimme. Andrews fühlte fein Blut in den Ohren pochen. „Sind Sie Militärgendarm?" „Ja." „Ich gehöre der Sorbonne-Abteilung an." „Was ist denn das für'n Dings?" fragte der Militär» gendarm lachend. „Was sagt er?" fragte Gänevfeve und versuchte zu lächeln. „Nichts. Ich muß mit dem Offizier sprechen und ihm er- klären," sagte Andrews atemlos.„Gehen Sie zu Ihrer Tante. Ich komme hin. sobald ich die Sache in Ordnung gebracht habe." „Nein, ich komme mit Ihnen. „Bitte, gehen Sie zurück. Es kann ernst fein. Ich komme so schnell, wie ich kann," sagte Andrews bestimmt. Sie ging den Hügel hinauf mit schnellen, bestimmten Schritten, ohne sich umzusehen. „Kein Glück gehabt, Iüngelchen," sagte der Militärpolizist. „Das Weib sah anständig aus. Hätte sie gern'ne halbe Stunde für mich allein gehabt." „Ich gehöre der Sorbonne-Schulabteilung an, in Paris , und ich bin hier ohne einen Paß. Was kann ich da tun?" „Die werden dir schon was beibringen, mein Lieber." schrie der Militärpolizist schrill.„Du bist doch nicht etwa ein Mitglied des Generalstabes in Verkleidung, he? Schnlabtei- lung! Bill Huggis, der wird lachen, wenn er das hört. Guter Witz, Bürschchen... Aber komm nur mit." fügte er ver- traulich hinzu.„Wenn du keinen Widerstand leistest, werde ich dir keine Handschellen anlegen." „Woher weiß ich, daß Sie überhaupt Militärpolizist find?" „Wirst schon bald genug wissen." Sie gingen eine enge Straße hinunter, zwischen grauen Stuckwänden, die mit Moos bewachsen waren. Auf einem Stuhl hinter dem Fenster eines kleinen Wein» ladens faß ein Mann mit einem roten Militärvolizeiabzeichen, rauichend. Er stand auf, als er sie kommen sah und öffnete die Tür, die eine Hand lauernd auf die Pistolentasche gestützt. (Fortsetzung solgt.)