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Nr. ZS7 40. Fahrgang

Seilage ües Vorwärts

Vkenstag, 21. /lvgust 102?

öesthweröen

Das unzufriedene Herlin

Vorschläge

vrei Monate ohne Hasablesung. Zu den vielen Klagen, die in letzter Zeit über die Bezahlung des Easpreises auftauchen, verdienen die folgenden der Deffent- Itchfcit mitgeteilt zu werden. Nachdem 7 Monate lang der Gasabnehmer regelmäßig iassieren kam und regelmäßig feine Bezahlung erhalten hm, ist er feit 3 Monaten nicht bei mir erschienen. Anfänglich legte ich keinen großen Wert darauf, da die Gaswerke bekannt machten, daß infolge ilrlaubs der Angestellten die Gasabnahme nicht regelmäßig erfolgen könnte. Bor 14 Tagen schickte ich meine Frau zur Revierinspektion, damit endlich jemand den fälligen Betrag einkassiere. Innerhalb 3 Tagen sollt« der Kassierer kommen. Als nach Ablauf der Frist keiner kam, schickte ich'meine Mutter mit Geld, pro Kubikmeter 6000 M., hin. Der Gaspreis war inzwischen aus 20 000 M. erhöht. Das Geld wurde nicht abgenommen und ihr gesagt, daß am IS., 16. oder 17. August der Einkassierer kommen würde/ Auch diese Zeit ist jetzt verstrichen, ohne daß jemand erschienen ist. Nebenbei bemerkt ist das die übliche Zeit, in der sonst das Geld kassiert wurde. Inzwischen ist der Gaspreis auf 60 000 M. erhöht. Wie ich nunmehr lese, kostet das Kubikmeter 200 000 M., so daß ich, da ich für alle 3 Monate den jeweiligen Preis zu zahlen habe, ungefähr IS 000 000 M. für Gas zu entrichten habe. Es ist mir dieses unmöglich. Für meinen Bezirk kommt die 3 2. R e» v i e r i n f p e k t i o n, W o l d st r. SS, in Frage. Ich sche keinen anderen Weg als die Flucht in die Oeffentlichkeit. Hochachtungsvoll........ Berlichingenstr. 20. Eine zweite Zuschrift lautet: Di« letzte Bestandausnahme bei mir erfolgte am 2 8. Juni d. I., die nächst« wird also vermutlich am 2 8. A u g u st erfolgen zu einem Zeitpunkte, für welchen nicht vorauszusehen ist, was das Gas dann kosten wird. Würde die Bestandaufnahme heute ersol- gen(der Brief dotiert vom 18. d. MO. so hätte ich für bisher ver- drmichtes Gas, da ich bis gestern zirka 30 Kubikmeter verbraucht babc, 30 X 60 000 1 800 000 M. zu zahlen. Bei Aufnahme in der nächsten Woche würde der Preis sich auf da ich sicherlich noch S Kubikmeter benötige 35 X 200 000 7 Millionen Mark stellen. Nehm« ich nun an, daß ich bis zum 28. August vielleicht 40 Kubik- meter verbraucht haben werde und der Preis 200 000 M. bleibt, bann würde sich mein« Gasrechnung also auf 40 X 200000 ~ 8000000 M. stellen. Das ist eine Summe, die ich nicht be- zahlen kann. Ich betrachte aber vom rechtlichen Standpunkt aus das Vorgehen der Gaswerke gegen die guten Sitten verstoßend, vor a-llem gegen Treu und Glauben und bin gewillt, es auf das Aeußerste ankommen zu lassen. Ich bedaur« nur schon heut« die Einnehmer. Mit Parteigruß G. St. Aus die rechtliche Seite der Angelegenheit geht ein« andere Zuschrift ein, in der es heißt: Der Magistrat hat die Gaslieferung zu festen Preisen, die sich allerdings von Woche zu Woche ändern können, übernommen. Er ist dann aber auch verpflichtet, jede Woche den Per» brauch feststellen zu lassen. Kann er dies aus technischen oder anderen Gründen nicht, so ist er keinessalls berechtigt, den Preis dem Konsumenten einfach pauschal zu berechnen, den er die letzt« Woche festsetzt. Speziell im Fall« der jetzigen Gasrechnung gen liegt eine Mißachtung von Recht, Gesetz und Moral vor, die geradezu hahnebüchen ist. In unserem Viertel läuft die Zeit vom 13. Juli bis 12. August. Davon haben die ersten beiden Wochen 6000 M.. die zweite 9000 M. und die letzt« 20 000 M. pro Kubik- meter gekostet. Nachgesehen wurde hier am 13. August und aus» rahmslos 60 000 M. in Ansatz gebracht. Der neue Preis von 60 000 Mark ist am 12. August in Kraft getreten. Vom 11. August mittags ist aber durch den Streik überhaupt kein Gas mehr geliefert worden ui d damit der Beweis erbracht, daß das Gas vor Inkrafttreten de? 60 OOO-M.-Preises verbraucht ist und dann allerhöchstens mit 20 000 Mark berechnet werden darf. Am Montag ist der Bestand festge- stellt und am Mittwoch schon läßt der Magistrat die Beträge ein- -icben. Wer nicht bezahlen kann, dem wird erbarmungslos der Gasometer verschlosien......_ Th. S. Sonderbare Geschäftspraktiken. Bekanntlich haben die Berliner Großbanken zur Behebung der Zahlmittelnot Schecks ausgegeben, die als vollgültiges Zahlungsmittel in den Verkehr geflossen sind. Zum Schaden der Bevölkerung, die diese Schecks an

Stelle von Bargeld von ihren Arbeitgebern annehmen muß, hat ein großes Warenhaus am Alcxanderplatz eine Praxis ein- geführt, die auf keinen Fall geduldet werden kann. Das Waren- Haus nimmt zwar den Scheck entgegen, zahlt aber keinerlei über- schießenden Betrag heraus: zwingt also auf diese Weise den Käufer, im Warenhaus in der vollen Höh« des Scheckbetragcs Einkäufe zu machen, auch wenn der Käufer gar nicht will. Hat der Käufer durchaus keine Lust, zum vollen Betrag einzukaufen, so bekommt er einen Gutschein auf den Restbettag. Käufern, denen derartiges zugemutet wird, sollten sofort den ganzen Kauf rückgängig machen. Die Geschäftsleute aber warnen wir dringend, sich' derartig« Ge- pflogenheiten zu eigen zu machen. Härten beim Strafvollzug. Es war bis vor kurzem Sitte, daß der Mensch, welcher aus einem Grunde mit dem Strafgesetze in Konflikt geriet, als Ab- schreckung für weitere Vergehen oder Gesetzcskonflikte zur Sühne bestraft wurde, und diese Sühne galt als Buße. Der moderne Straf. Vollzug, welcher mit der Nr. 2S desReichsgefetzblattes" bekannt- gegeben wurde, bezweckt nun nicht mehr, für Vergehen in der Sttafe eine Buße zu erblicken, fondern der Verurteilte wird als E n t- g l e i st e r betrachtet und soll erzogen werden. Er soll sowohl zur Arbeit erzogen werden, es soll sein Ehrgefühl nicht nur beim Sttafoollzug geschont, sondern es soll erweckt werden und gestärkt werden, wie§ 49 dieser neuen Strafvollzugsordnung sagt. Wie es hiermit aber in Wirklichkeit aussieht, mögen folgende Tatsachen dar- stellen: Bor einigen Wochen hatte ich auf einem Amtsgericht zu tun. Ich wurde auf einen Schwärm Menschen aufmerksam, der hinter zwei Gefängnisbeamten und einem gut gekleideten Menschen hinter- herströmte. Auf eingezogene Erkundigungen erfuhr ich. daß es«in Inhostierter sei, der sich zum Gericht führen ließ und nur das Schau- objekt der neugierigen Menge wurde. Der Betreffende ging mit niedergeschlagenen Äugen zwischen seinen beiden uniformierten Be- gleitern, und ich erfuhr noch, daß es ein junger Kaiismann sei, der einige Monate Strafe bekam und nun diese niederdrückende Tortur der Verletzung jedes Ehrgefühls durchmachen mußte. Das ist meiner Ansicht nach kein moderner Strafvollzug, sondern diese Handhabung muß auf? strengste verworfen werden. Einige Tage später hotte ich in der Nähe der Neuen Schönhauser Straße zu tun. Dort wieder dasselbe Schauspiel. Zwei uniformierte Beamten mit einem Menschen in Zivil als Begleiter desselben. Jedermann sah sofort, daß es sich um einen Gefangenen handelte, und die Leute jener Gegend hatten auch nichts anderes zu tun, als ihre Meinun-- mit den Worten: Mensch, türme doch, wir decken dich" usw. kundzutun. Wozu findet nun seit neuerer Zeit diese Schauausführung statt? Dos Ehrgefühl des Verurteilten wird dadurch verletzt, und Leute, die nicht unbedingt ausgeführt werden müssen, ertragen lieber groß« Opfer, als daß sie sich dieser Schaustellung vreisgeben, wie ich von den Beamten, die ich sprach, erfuhr. Diese Verordnung soll neu sein. Früher durften Gefangene innerhalb Berlins nur von Zivilbeglestern ausgeführt werden. Die jetzt beliebte Art der Preisgebung der letzten Spuren von Ehrgefühl ist kein moderner Strafvollzug und muß schnell wieder verschwinden. Sie läßt sich nicht mit der Verordnung vom 27. Juni vereinbaren. Weshalb findet«ine unauffällige Aus- führung nicht statt? Es fehlt nur noch, daß dem Mann est, Schild auf die Brust geheftet wird mit dem Vermerk feines Vergehens. _ G. L. Wie öer»5ahrpreiswicrwarr� entsteht. Zu den AusführungenFahrpreiswirrrrarr im Fernverkehr" möchte ich Ihnen, lieber Schreiber, die so dringend gewünschte Auf- klärung geben:Vor allen Dingen, so nehme ich an, dürfte«s Ihnen nicht unbekannt sein, daß es nach Osterode i. O st p r. zwei vor- schieden« Weg? gibt. Der ein« über Schneidemühl -Thorn mit 813 Kilometer, der ander« über Konitz-Marienburfl mit 531 Kilometer. Am 29. Juni d. I. kostete eine Fabrkarte 3. Klasse im O-Zug fiir ein? Strecke von S13Kllometcr laut Ei'enbahnpreisberecheiungs- tafel 29 000 M.. für sin« Streck« von S31 Kilometer 30 000 Mark. Sie ersehen also daraus, daß lediglich eine Verwechslung der beiden Wegevarschriften vorliegt. Aus welcher Seite di« Schuld hierfür liegt, will ich nickt weiter ergründen. Jedenfalls hätten sie sich all diese Miibe mit Leichtigkeit ersparen können, wenn Sie ein wenig korrekt verfahren wären, und zum mindesten von den so wunderschönen Einrichtungen der Eisenbohnverwaltung zur B«-

quemlichkeit der Reisenden und vor ollem zur Vermeidung sämtlicher mündlichen Differenzen am Fahr- karte nschalter Gebrauch gemacht hätten. Ich gebe Ihnen daher für di« Zukunft folgenden Rat: Auf jeden: Bahnhof befinden sich Stationstafeln, auf denen die Kilometerzahlen ange- geben find. Auch aus Fohrplänen oder Kurstafeln fassen sich die Kilometer ermitteln. Dann sind in unmittelbarer Nähe eines jeden Fahrkartenschalters Preisberechnungstafeln angebracht, nach denen Sie mit Leichtigkeit den Fahrpreis ftir die betreffende Kstometerzahl ermitteln können. So vorbereilet sind Sie in der angenehmen Lage, Ihr zu entrichtendes Fahrgeld, wenn auch nicht ganz, so doch wenig- stens einigermaßen vorher abzuzählen, was bei den hohen Preisen und den vielen verschiedenen Geldscheinen für beide Teile nur von Vorteil ist. Sie ersehen also daraus, daß Sie es selbst in der Hand haben, derartige Irrtümer von vornherein unmöglich zu machen. Viel Zeit und unnötiger Aeraer bliebe erspart, wenn jeder Reisende so, wie eben geschildert, verfahren wüvde. Es erfordert doch wirklich nur ein ganz klein wenig Mühe und liegt nur im eigensten Interesse eines jeden, lind dann, meine Herren, ein wenig mehr Rücksicht nehmen auf seine Mittnenschen! Auch der Beamte hinter dem Fahrkartenschalter ist nur ein Mensch. Oder meinten Sic vielleicht etwas anderes? Auch er ist nicht von Irrtümern und Fehlern frei. Haben Sie schon einmal ein klein wenig darüber nach- gedacht, wie schwer es auch für«inen Fahrkartcnverkäussr ist, wenn sich dauernd die Preise ändern und schier ins Unermeßliche steigen? Dazu dies« Papiergeldflut und der immer stärker werdende Andrang an den Schaltern. Jedenfalls bleibt auch der Schalterbeamte nach wie vor nur ausführendes Organ seiner vorgesetzten Behörde." _ Eine Fahrkortenausgeberin. Behördliche Zeitvcrjchwendung. Ihnen zu antworten, Herr Dr. W. I., ist darum sehr noiwendig. weil das Publikum in gleicher Unkenntnis wie Sie in Dingen des Fernsprechwesens Ihnen zu leicht Glauben schenken dürste und der Grund zu gegenseitiger Verbitterung hierdnrch nicht beseitigt wird. Wir würden den Beamten der Oberaufsicht oder Beschwerdestelle eines Groß-Berliner Amtes als Rarität bestaunen, der solch einen Fall wie sie den Ihrigen darstellen den Gerichten übergäbe. Tatsächlich hält auf jedem Amt der vorgesetzte Beamte solange die Partei eines jeden Beschwerdeführers, bis die Schuldfrage geklärt ist. Da kommt es gar nicht so selten vor, daß wir Beamtinnen verurteilt find, noch ehe man uns gehört hat. Wie Sie da von behördlicher Zeiwerschwendung unseretwegen schreiben können, das empfinden wohl meine gesamten Kolleginnen mit mir als Provokation. Ich könnte Ihnen hier eine Blütenlese von dem veröfsentlichen, was wirt ä g l i ch" stumm und wehrlos schlucken müssen, ohne daß sich ein Mensch für uns verwendet. Die meisten dieser Schinutzereien kamen von Anschlüssen, deren Inhaber sich zu den gebildeten Mitteleuropöern rechnen. Jedem Unzufriedenen upd Verärgerten kann ich nicht dringend genug empfehlen, das betref- sende Amt in der Hauptbetriebszeit zu besichtigen. Schriftliche An-~ Meldung einen rssp. einige Tag? vorher bei der Amtsleitung sind* erforderlich, damit für Führung gesorgt werden kann. Bis jetzt habe. ich immer gefunden, daß große Unkennlnis des Publikums über A r t der Arbeit und vorkommende Störungen die Haupt- quell« jener unliebsamen Spannung zwischen Teilnehmer und B»- amten ist. E. E., Telegraphengehilfin. Der Sandberg in Heiligensee . Seit einer Reihe von Iahren steht im Mttelpunkt der Er- holungsbedürftigen, Ausflügler und Einwohner der Sondberg in Heiliqcnse«. Alt und jung tummeln sich auf dem weißen, brandendurgischen Schnee. Selbst di? Schulen pilgern des öfteren zu dieser so chorakte- ristisch gestreckten Höhe. Jetzt soll dos Betteten des Sondberges verboten und der Freude e n Ende bereitet werden. Bäum? werden?' in der Umgebung gefällt und Arbeit?« sind bemüht, die Bäume zp entrinden, um die Pfähle zur Einfridigung zuzurichten. Der Sand- berg soll eingezäunt und mit Stocheldraht umgeben werden. Sa verliert die Umgebung Berlins ein Stück Ramantik, denn der ein- gezäunte Berg soll bepflanzt werden Es liegt nun im Interesse aller, dagegen zu protestieren und der Stadt Berlin (Bezirk Reinicken- dors) auf diesem Wege zu zeigen, daß dieser Sandberg st, Heiligen- sc« jung und alt zur weiteren Benutzung mehr ans Herz ge- wachsen ist, als jede Anpflanzung einer natürlichen Erholung?- und Vergnügungsstätte Nachschrift d. Red. Aps Anfrage im Bezirksamt Rcinickendorf wird uns mitgeteilt, daß die Düne infolge großer Sandsntnahnn? und viclfacken Besteigen-, immer mehr an Höbe und damit an natürlicher Schönheit eingebüßt hat. Die in der Zuschrift bemängelte Maß- nähme ließ sich al!o le'dcr nicht umgeben: sie dient dem Zweck, die Düne zu befestigen und zu erhalten. Ob die Abschlaqung der alten Baumbestände, die das Dünenbild charokterist sch machen, notwendP war, ist allerdings zu bezweifeln.

(Copyrielii 1923 by Orethleln 4 Co., Q. m. b. H. Leipn's)

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Kilian. Roman von Jakob Lührer.

Kilian läuft eilig davon mit seinem lahmen Rad. Wer geht da vorn� Ein Mann in einer Uniform. Warum schlägt Kilian das Herz so laut? Was liegt an einer Uniform! Sie ist das Staatskleid. Staat und Helvetia ist das denn nicht dasselbe? Das selige Vertrauen ist von Kilian abgefallen, wie der Schneezauber von den Bergtannen fällt, wenn der Föhn bläst. Eine heillose heimliche Angst jagt Kilian den Schlotter in dte Knie. Was hätte gefehlt, daß ihn der Mann im Staatskleid verfolgt, gefangen und eingesperrt hätte in ein Staats- gefängnis! Es war also im Grund eine unheimliche Geschichte mit dem Staat und der Helvetia . Man mußte aufpassen, wie ein Hastenmacher. daß man an der Ordnung und am Gesetz vor- bcikam- Es war, wie in der tollen Schlucht. Wunder mußten geschehen, wenn man sich beil am Abgrund vorbeischlängelte. Plötzlich ertönte eine Orgel...An der Donau muß man leben". Ueber seinem Schreck und Sinnieren ist Kilian un- Versehens mitten ins Dorf Stäfa gekommen. Und da steht aus einem hohen Gerüst, unter einem Zeltdach, eine Orgel. Es wird da eine Jahrmarktsschaukel gebaut und nebenan eine Schießbude, und dort ein Panoptikum, und weiter sieben noch zwei, drei Hüttengestelle da, von denen man zurzeit nicht weiß. was sie beherbergen werden. Aber mitten aus den Stangen- und Leinwandhütten ragt ein Denkmal auf: Auf einem Stein- sockel steht ein Mann aus Bronze: sein Oberkörper ist nackt. und er schreitet vorwärts in starker Bewegung. Auch hat er um beide Fäuste eins Eisenfessel, aber die Kette, die die Fesseln verband, ist zerrissen, und sie hängt in zwei Stummeln her- unter. Der Mann hat die Kette wohl gesprengt. Kilian geht langsam an diesen Seltsamkeiten vorbei, bis ji'N ein Mann anredet, der ein grobmaschiges Leibchen auf schwarzbehaartem Oberleib trägt, und seine Hosen etwas zweifelhaft unter einem Spitzbauch an einen Riemen ge- hängt hat. Suchst du Arbeit? fragt er und speit etwas Schwarzes irgendwohin. He?" sagt Kilian.'

Schöne Arbeit, leichte Arbeit!" fährt der Mann fort und gibt seinen Hosen einen Ruck nach oben.Hier, bei der Reit- schule, Gebrüder Wetli-Biel. Fünf Franken im Tag und Kost und Logis. Greif zu!" Ist die Kost gut?" fragt Kilian. Sehr gut sogar, mein Sohn." Dann könnt' ich es- ja einmal probieren." Bon, komm mit!" Kilian führt sein Velo zu einem der Wohnwagen und ist im Nu aus seinen Sonntagsgewändlein und in ein blaues Ueberkleid geschlüpft, das ihm ein Mädchen brachte. Gleich darauf geht er mit noch einem Arbeiter und dem, der ihn ge- dingt hat, daran, Stangen aufzurichten, Schrauben anzuziehen, Leinwand anzuhängen. Alles geht im Hui, und wenn man eine Arbeit nicht kennt, muß man sehr aufpassen. Auf einmal sagt der Meister:So, jetzt machen wir Feierabend." Es war noch früh am Tag und Kilian wollte es nicht glauben. Aber gleich darauf kam das Mädchen, das ihm die Ueberkleider gebracht hatte, mit einem Topf und gab ihn dem Nebenarbeiter. Der winkte Kilian mit dem Kopf, daß er ihm folge, und nun sitzen sie auf der Dcnkmalstreppe unter dem Bronzemann, den Topf zwischen ihnen und löffeln daraus einen wohlschmeckenden Hafermusbrei. Während Kilian lang- sam satt wird, betrachtet er seinen Arbeftsgenossen. Er gefällt ihm nicht. Diese Nase! Und krumme Beine hat er auch. Ist es ein Jude? Aber wann hat man gehört, daß ein Jude gewöhnliche Arbeit verrichtet? Die treiben doch Handel. Machen Geschäfte! Kilian fragt:Du, was ist das eigentlich für einer?" Welcher?" Der auf dem Stein? Der Mann aus Eisen?". Ach der? Ein Dummkopf." Warum?" Weil er denkt, er hätte die Kette zerrissen, und hat sie doch nur ein bißchen länger gemacht." Wer ist es denn?" Das solltest du besser wissen. Du bist dach ein Schweizer . Hast du nie davon gehört, daß vor etwa hundert Jahren einige fiandwertslelite eingesperrt und getötet wurden, weil sie die Meinung hegten und aussprachen, es hätten alle Menschen die gleichen Rechte?" Was? Und deshalb sind sie getötet worden?"

Ja." In der Schweiz ?" In Zürich ." Wann? Vor fünfhundert Jahren? Als noch die Vögte herrschten?" Nein. Die Vögte waren schon lange vertrieben. Bor hundert Jahren!" Dann... gabs doch nur noch Eidgenossen... das ist doch ganz unmöglich." Es ist doch so." Eidgenossen hätten Eidgenossen getötet, weil sie sagten: Alle Menschen haben die gleichen Rechte?" Gewiß." Das ist einfach nicht wahr. Das ist gelogen. Denn wenn das wahr wäre, so wäre ja alles andere gelogen, alles, was man einem in der Schule von der Geschichte gesagt hat." Das wird wohl so sein." Nein, das ist nicht so! Du lügst! Du bist so ein ver- dammter Ausländer, der die Schweiz schleckst macht! Bei uns kann jeder denken und sagen, was er will." Nur nichts Nachteiliges über die Schweiz ." Halts Maul, oder..." und Kilian holt mit der Hand zum Schlag aus. Der andere zuckt die Achseln und geht davon. Kilian bleibt erzürnt sitzen. Nach einer Weile schlendett er die Dors- gasse auf und ab: kopfschüttelnd liest er eine Inschrift an einem .Hause und kehrt schließlich zum Wohnwagen zurück, wo er seine sieben Sachen hat. Dann tut er noch ein paar Schritte an den See. Da sitzt einer und angelt. Sein Nebenarbeiter, der Jude. Kilian tritt zu ihm und sieht ihm zu. Er fragt:Hast du schon oft gefischt? Fischt man viel in deiner Heimat? Wo bist du zu Hause?" Zu Hause?" sagt jener, und wendet die freie Hand mit sanftem Schwung von oben nach unten.Geboren bin ich in..." und er nennt den fremdklingenden Namen einer Stadt in Rußland . Kilian fragt weiter. Und jener erzählt, ohne den Blick von der Angel zu lassen, daß seine Eltern bei Judenversol- gungen umgekommen und er selber als Verbannter in Si- birien gewesen sei. Warum? Nun, weil er eine Meinung gehabt und sie ausgesprochen habe.(Fortsetzung folgt.)