Nr. 409 ❖ 40. Fahrgang
!♦ Oeilage ües vorwärts
Evnntag, 2. September 192Z
Die Speifenkarte öer Jamilie. Gefahren der Unterernährung.
Die Kochkunst der Frau gehört seit Jahren mit zu den Grund- lagen eines guten Familienlebens. Aber heute schwindelt der Hausfrau der Kopf und das Herz wird ihir schwer, denn ihrer Kunst zu kochen fehlen tatsächlich die realen Unterlagen. Vieles ist über- Haupt nicht zu beschaffen und das meiste andere zu teuer. Die Hausfrau sieht schwarz in die Zukunft: ste fürchtet: geht es noch lange so weiter, dann erliegen wir wie im Kriege langsam, aber sicher der Unterernährung, der wir uns zunächst schon entronnen glaubten. Wir haben durch Umfragen festgestellt, aus welchen Gerichten sich heute der Speisezettel der Familie zusammensetzt. Dies das Resultat. Knochen ersetzen öas Kleijch. Das Fleisch fehlt fast völlig. Versteigt man sich mal zu einem Sonntagsbraten, so wählt man Eesrierfleisch. Ist es doch, obwohl es die weite, weite Reife über den Ozean machte, billiger als frisches Fleisch. Zudem ist es fetter, denn in Deutschland schlachtet man gegenwärtig befammernswert magere und junge Tiere. In der Woche aber gibt's Tag für Tag Snochenfuvpe. Alles und jedes wird auf Knochen gekocht. So z. V.die dicken Granpen. die söge- nannten Kälberzähne. Graupen und Knochen, mit etwas Salz abgeschmeckt, ohw Kartoffeln und Suppengrün, müssen oft ein Mittagessen vorstellen. Ebenso kocht man Knochen und irgend- eine Klotzort, und gibt,, wenn man hat, Kartoffeln hinzu. Rindsrherz, früher als„Arme-Leute-Esien" verschrien, gilt jetzt als Delikate sie. Ueberdiss ist es schwer zu bekommen und es muß auch lange schmoren. Mithin können seine Zubereitung sich nur Leute bristen, die sich rechtzeitig mit Kohlen eindecken konnten. Kuheuter wird als Sahnenichnitzel-Erfatz betrachtet. Seine Herstellung ist teuer, da Fett, Ei und geriebene Semmel kaum fehlen können. Lunge findet auf die verschiedenste Art Verwendung. So schneidet man beispielsweise Pellkartoffeln und Lunge in Würfel und richtet sie etwas säuerlich an. Speck wurde nach und nach sehr selten. Mit Speck kann man kaum mehr kochen, nein, man ist glücklich, wenn man kleine Speck- würfe! dem Essen zusetzen kann. So kocht man Gemüse, ohne irgendeinen anderen Fsttzusatz, mit winzig kleinen Speckwürfeln. Pellkarkoffeln und Hering gilt als Diner 1z für Papiermark- millionär. heringskartoffeln, falatartia zubereitet, kommen in einigen Haushaltungen auch zweimal in der Woche auf den Tisch. — Ferner wird der Hering auch mit Kartoffeln, Pfeffer, Gewürz, Zwiebeln und ein klein wenig Talg zubereitet. Heringslake aber holen sich ganz Arme, um Tunke für Pellkartoffeln zu ljcben. Heringsrogen und Heringsmilch gelten als beliebter Brot- aufstrich. Desgleichen der unter Zusatz einer Zwiebel gehackte .Hering. Und der mit einigen Scheibchen Salzgurke garnierte Heringsrogen nennt sich kurz und bündig italienischer Salatzersatz. Salate werden gegenwärtig wenig zubereitet. Das Oel ist zu teuer. Hin und wieder hilft man sich mit Margarine und Talg. Margarine ist zuweilen die einzige Ursache, daß sich in dem Essen noch ein Fettauge bemerkbar macht. Die Hausfrau ist mit- runter heilfroh, wenn sie dem Gericht«in walnußgroßes Stückchen Margarine beifügen kann. So. gilt doch heutzutage Margarine, Walser und dicke Graupen(Kälberzähne) als Mittagsmahl.. Sülze, als Fleischverwendungsmöglichkeit, erübrigt sich heute von selbst. Man fürchtet sich auch vor längerem Kochen, behaupten doch iatsüchlich Leute, bei den hohen Kohlen- und Gaspreisen seien sie gezwungen, ihr Essen nur angekocht und zuweilen halb roh zu genießen. Korlofselsuppc, die früher nur die Aermsten als Hauptmahlzeit aßen, und die vielen, vielen nur als Vorkost diente, ist jetzt allge- mein zu einer Mittagsinahlzeit geworden. Dabei kann sich die heutige Kartosfelsupxs keinerlei Zugaben rühmen.— Kartoffel. pufser, früher nicht als Mittagbrot gerechnet, sind nunmehr Leckerei. Rote Rüben kocht man mit Kartoffeln und Talg. Dies« Drei- einhsit muß eine Mittagsmahlzeit hergeben. Leinöl, im Voltsmunde spricht man ihm sehr viel Nährwert zu, mit Kartoffeln, dos heißt in diesem Fall«, man taucht die Pell- kartosfet in das Leinöl, ist als Mehlzeit zu vschuen.
Kohlrüben, von bösen Kriegswintern her unliebsam bekannt, werden meist wieder ohne Fett genossen. kohl wird sehr oft mit Talg angemacht. Da heißt es, schnell essen, denn mit Talg zubereitete Speisen erkalten recht bald und sind dann kaum genießbar. Kohlrabi, er beglückt« uns gerade mit seiner Anwesenheit, als der Kartoffelmangel solch großer war, wurde im Sommer 1923 viel mit Graupen gekocht. Als Fettersatz tat man einen Bouillon- würfe! hinein. Gemüsesuppen werden gern gegessen. Sie bestehen aus Mohr- rüben, Kohlrabi und einer Handvoll grüner Bohnen. Erlaubt es der Geldbeutel, kann man noch Blumenkohl und Tomaten hinzu- fügen. Wer frisches Gemüse nicht bezahlen kann und dennoch Ge- müsefuppe essen will, nimmt, wenn auch ungern, zum Dörrgemüs: seine Zuflucht.— Mangold und Melde ißt man anstatt Spinat. Hirse und Buchweizen werden mehr gebraucht als früher. Pilze könnten in der Ernährung eine groß« Rolle spielen. Man sah sie in diesem Jahre wenig, und werden sie auf den Markt ge- bracht, dann sind sie meistens unerschwinglich teuer. Das Selber- sammeln ist für viele nicht möglich, denn es gehören nicht nur Pilzkenntnis, es gehören auch Zeit und Fahrgeld dazu. Klöße finden des öfteren Verwendung: fei es mit Backobst, sei es mit Pflauncen. Birnenklöße macht man aus Brotüberresten mit Birnen. Statt Backobst wird zuweilen eine Marmeladensauce gereicht, wie es überhaupt Mode geworden ist, Mussaucen herzu- stellen. Brotsuppe als Mitlagsmahlzeit ist auch ein Zeichen der Not unserer Zeit. Ohne iroendwelche oerschönende Zutaten, ohne Nach- gcricht, muß sie den Magen füllen. Der Suppenwürfel ergibt zuweilen auch ein Mittagessen. Ein Stückchen trockenes Brot gesellt sich ihm dann bei. Süße Suppen, Grützen, Fruchtsuppen usw. sind nahrhaft, doch ist der Zucker nicht nur leuer. für gewöhnlich ist er auch knapp. Eierkuchen und Salat ist heute Sonnlagsesseu. Dabei wird der Pfannkuckxn bestimmt nicht zuviel Eier enthalten, wie überhaupt das Ei als Zutat zu Speisen aus zahlreichen Haushaltungen ver- schwinden mußte. Magermilch findet insofern Verwendimg. als sie zu Milchreis, aber auch zu Rührkartoffeln gebraucht wird: wobei nicht verschwiegen werden darf, daß Rührkartoffeln oft ohne Milch genossen werden, und manch« Mutter froh ist, wenn sie ihren Kindern ein« süß« Sauce dazu geben kann. Haserslockeu sind an und für ssch kein Elendsgericht, doch werden sie es bei uns unter den jetzigen Verhältnissen. Es fehlen doch fast immer Zucker und Milch bei ihrer Zubereitung. Die jedoch ist viel- seitig: so ißt man Haferflockensuppe, Haferflockenbrei, Haferslocken- koteletts usw. Roggenmehl findet auch wieder im Haushalt Verwendung. Namentlich als Roggenmehlsupp«, die Kasse- und T e«- E r s o tz sein muß. Um das Trinkbare ist es bekanntlich auch schlecht bestellt. Der deutsche Tee kommt nunmehr wieder zu Ehren. Man sucht Wiesen und Bäum« ab; trinkt u. a. Lindenblüten-, Kamillen- und Pfeife nrninztee. Letzteren rühmt man nicht nur wegen seiner Heil- kraft, nein, er hat Anhänger, dte behaupten, er sei das Mittel für ständiges Wohlbefinden. Alles in allem kann die Hausfrau, mag sie sich noch so gut zu helfen verstehen, nur«in mageres Essen auf den Tisch bringen. Es sind kaum die nötigen Zutaten vorhanden, um Wert auf den Wohl- geschrnack der Speisen zu legen..Wie stopf« ich die Münder, wie bekomme ich die Magen satt," das ist die Frag«, die täglich doch mindestens dreimal Antwort erheischt. Das Leben der einzelnen Familie hat sich gegen früher ungeahnt und ungeheuer verschlechtert, das geht aus der Spcisenkarte deutlich hervor. Wir alle vegetieren im Zustande der Unterernährung, und in der liegt eine schwer« Ge- fahr für das Volksganz«, denn der Mensch ist, was er ißt.
Ein neuer Riuseumsdiebstahl beschäftigt die Kriminalpolizei. Aus dem Museum für Meereskunde in der Georgen- straße 31— 36 wurden, wahrscheinlich von einem Besucher, eine bronzene Flügelmutter, eine silberne Taschenuhr und ein Doppel- fernglas im Werte von mehreren Millionen gestohlen.
Nächtlicher Spuk.
Kurz vor Mitternacht, am Sonnabend in der Friedrichstraßc. Die Kneipen sind soeben geschlossen, und nun flutet die Masse, deren Köpfe vom Alkohol erhitzt sind, und die eine Heiterkeit zur Schau trägt, die laut und weit in die Nacht hineintönt, über die Straße, deren Lichter langsam zu sterben beginnen. Die Gesprächsfetzeu, die man aus dieser vom Alkohol angefeuerten Masse Mensch aus- fängt, sind ein getreues Spiegelbild von der heutigen Umwertung aller Werte, oder noch besser, sie sind ein Beweis dafür, daß es Werwolles überhaupt nicht mehr gibt, daß alles nur Geld, Macht und Magenfvage ist.„Heut' Hab' ich fünfundzwanzig Millionen ver- soffen, aber morgen bring ich wieder vierzig Milli rann..."„Ach wissen Sie, die Devisenabgab«, na ja, schön. Ich kauf' mir ein Gut, und dann sind die Devisen muh gut angelegt..." Und alle sind sie noch ganz unter dem Bann des Genossenen und Erlebten in Kneipen, Bars, Dielen und Cafes, die übervoll waren Und man weiß: ein Glas Münchener Bier 240 000, eine Tasse Kaffee 300000 Mark, eine Flasche Wein ö Millionen, eine Zigarette 45 000, eine Zigarre 180 000 M. Hier und da steht einer in der Nische eines Hauses und er- leichtert den Magen von der zu großen Last an Alkohol, die er ihm aufgebürdet hat. Soll man die Moralposaune an den Mund setzen? Wird nicht häufig genug ein« gewisse Verzweiflung diesen und jenen in die Kneipe getrieben haben, dessen Magen lange schon keine genügende und stärkende Nahrung erhalten hat, so daß er von ein paar Tropfen Alkohol schon voll ist zum Ueberlaufen. In den Seitenstraßen der Friedrichstraße stehen Dirnen und locken mit ge- schminkten Gesichtern. Noch niemals sah man so viele von ihnen, wie heut«. Ist es wirklich nur Zügellofigkeit und Arbeitsscheu, oder ist nicht auch das ein Zeichen der ungeheuren Not? Aber Geld ist doch da, ungeheuer viel Geld in manchen Händen, die es gar nicht schnell genug loswerden können. Ein Zigarrenladen ist taghell er- leuchtet, und die Lichtfluten ergießen sich in breiten Strömen auf den Damm. Erstaunt steht man und schaut hinein. Maler und andere Handwerker klettern auf hohen Gerüsten umher. Mau hat ja so viel Geld und kann es sich leisten, den Laden mit Nachtübcr- stunden der Arbeiter einrichten zu lassen. Und man verdient noch viel mehr, als dies« Ausgaben bettagen, und der Arbeiter hat, wenn er es sich recht überlegt, umsonst gearbeitet! Und überall Bettler, Krüppel, Lahme, Blinde. Auf dem Pols- dam er Platz steht ein Mann mit einem Fernrohr. Der Himmel ist unwahrscheinlich klar, mit unendlich vielen Sternen, und das Mond- licht rieselt um die Giebel der Häuser. Der Mann ruft die Fußgänger an und ladet zur Besichtigung des Himmels ein. Betrunkene reißen faule Witz«, Rohe versuchen, ob das Fernrohr auch feststeht. Aber keiner sieht, daß der Mann vor dem Rohr müde zum Umsinken ist. daß die Not der Zeit diese Runen in sein Gesicht gegraben hat. Auch er ein Bettler, der heute nicht weiß, wovon er morgen mit seiner Familie leben soll. Nebenan aber haut man sich um Auto und Droschke, und jeder der Streitenden behauptet, zuerst am Ge- fährt gewesen zu sein. Nächtlicher Spuk. Jedes erklärende Wort könnte nur ab- schwächen. Und dos Elend und der Preistaumel, Wucher und Rück- sichtslosigkeit, die Sucht, sich auf Kosten anderer zu bereichern, rast weiter..... Neue Milch- und Kohlenpreisc. Für den Bereich der Stadt Berlin beträgt vom 3. Septem- der ab der Preis für Vollmilch 4 0 0 0 0 0(vierhunderttausend) Mark, für Magermilch 160 000(einhundertsechzigtausenb) Mark je Liter. Die-Z.-Mi Ich karten werden mit% Liter, die U-Milchkarten sowie die Karten für werdende Mütter(C-Karten) mit je Vi Liter Vollmilch beliefert.— Das Kohlenamt der Stadt Berlin teilt mit: Infolge der ab 1. d. M.«ingetretenen Erhöhung der Eisenbahn - gütertarife ist eine entsprechende Heraufsetzung der Kleinverkaufs- preise für Briketts und Koks erforderlich geworden. Die Preis« stellen sich mit Wirkung vom 3. September d. I. wi» folgt: Küchen- und Ofenbrand-Br i k e t ts: ab Lager 3 171 000 M. pro Zentner, frei Keller 3 314 000 M. G a s k o k s: ab Lager 7 774 000 Mark pro Zentner, frei Keller 7 939 000 M.
IS)
Kilian. Roman von Zakob Dührer.
„Haben Sie schon so Bitteres erlebt, mein junger Freund?" fragte sie mit warmer Anteilnahme. „Einiges," entgegnete Kilian verbissen. Plötzlich schleu- derte er seinen Blick in ihre Augen und sagte hart:„Ich bin nämlich gewissermaßen.direkt dem Zuchthaus entsprungenl" Die Frau machte eine kleine Bewegung. „Fürchten Sie sich?" höhnte Kilian. „Nicht im mindesten," lächelte die alte Frau,„aber ein wenig schonender könnten Sie einem so etwas schon bei- bringen." „Mordversuch!" stieß Kilian, ihren Scherz mißachtend, hervor.« „Ausgebrochen?" fragte Mademotfelle Naville. „Freigesprochen!" „Sie Renommist!" lächelte die Frau milde und legte ihre Hand leise auf Kilians Rechte. Das war zu viel. Die kleine Bewegung der Frauenhand! Sie warf Kilians Seele in den Staub. Der junge Mensch senkte plötzlich seinen Kopf über den Tisch und begann zu weinen. Die Frau stand auf, trat an seine Seite, legte ihre Hand auf seinen Scheitel und sagte liebevoll und gütig:„Weine, mein Kind, weine!" Kilian schluchzte laut. Durch sein Him zuckte der Ge- danke: Warum gibt es Richter und Gerichte und Zuchthäuser in der Welt, die verhärten, während solch gütige Menschen- Hände alles auflösen, Schuld und Bosheit, auflösen in Reue und Willen zum Guten? Nach einer Weile begann er zu reden, von allem, was hinter ihm lag. Und mit teilnahmsinnigen Fragen löste sie Bitterkeiten, Verschulden, Enttäuschungen. Er aber beichtete mit zuckendem Leib. Es war, als flösse das Blut in Strömen von seinem Herzen. Unreines, vergiftetes Blut! Sie hatte ihm nichts mehr zu sagen. Er durfte aber ihre Hand halten. Schließlich erhob er sich und sagte mit einem kleinen Lächeln:«Nun will ich gehen." An der Türe wollte er ihr danken. Aber er fühlte, es würde ihn von neuem niederwerfen. Er lief aus sein Zimmer und versank in einen guten Schlaf. Nach z'vei Stünden er- xoachte er, noch windelweich gestimmt, aber doch mit der Lust,
etwas zu unternehmen. Und da er sich die Augen gewaschen hatte, siehe, da flog ein gepfiffen Liedlein von seinem Mund. „Hoho!" sagte er,„da pfeift ja wieder einer." Und setzte sein Hütlein auf vor dem Spiegel und zog von bannen. Er stand am See und schaute eine Weile einem Fischer zu. Der Himmel hatte sich nämlich aufgetan, und die Märzsonne schien freundlich aus einem großen Wolkenloch. Ein leichter Wind warf ein Flimmernetz über das Wasser. Da war es denn weiter kein Wunder, daß sich trotz der frühen Jahreszeit hier und dort ein Boot ablöste, Ruderkahn und Segelschiff sich hinauswagten gegen die Wassermitte, wo das Sonnenglitzern rötlich wurde. Auf dem nächsten Bootsvermietungsfloß kniete eine Frau mit aufgeschürzten Röcken und schimpfte, weil sich die Kette eines Bootes nicht lösen wollte, auf das ein junges Paar wartete. Da besann sich denn Kilian nicht lange, hüpfte herzu und Lssnste den Kettenknoten. Das Pärlein stieg ins Boot, ruderte davon, und schon flimmerte das Wasser und die Luft um das Boot und die verliebten jungen Leute. Da sagte die Bootsvermieterin zu Kilian:„Zäerci dien, Monsieur!" Die beiden sahen sich an und hatten beide einen Widerschein von dem Lichtwunder da draußen in den Augen. Und Kilian dachte: Eine schöne junge Frau! Und die Frau gestand sich heimlich: Ein frischer junger Mann! Kilian wandte sich zu gehen: da fiel es ihm ein:„Brauchen Sie keinen Arbeiter?" Aber sie verstand seine Sprache nicht. Da mußte er denn seine Französischbrocken und die Zeichensprache zu Hilfe nehmen, und beide kamen darüber ins Lachen, und sie gefielen sich noch besser. Ueber dem kam ein Mann daher, ein sehniger Vierziger, mit blondem Triefbart, stahlblauen Augen und einem von Wind und Wein geröteten Gesicht. Schon von weitem rief er: „Was ist da wieder für ein lieber Vetter zu Gast, meine süße Toinette?" Als er aber den Sachverhalt vernahm, prüfte er Kilian kühl und eingehend vom Scheitel zur Sohle und sagte dann bestimmt:„Kon!" Von einem„Stauftsscrl, von einem Deutsch schweizer wolle er sowieso nichts wissen. Die junge Frau warf ihrem Gatten einen bösen Blick zu, stemmte die Hände in die starken Hüften, wiegte ihren Ober- körper ein wenig hin und her und sagte:„von!" Und zu Kilian:„Rein, mein Herr. Nichts zu machen!" Sehr bekräftigend wiederholte der Gatte:„damals.
Niemals!" Und dreiste M aus dem Absatz..:_ i JT-T
In diesem Augenblick gab die Frau Kilian einen leisen Stoß mit dem Ellbogen, flüsterte:„�.prös demain, übermorgen," streckte ihm die zehn Fiüger ins Gesicht und deutete mit dem Zeigefinger auf das Floß. Kilian zwinkerte mit dem linken Auge. Er würde über- morgen zehn Uhr feine Arbeit hier beginnen. Er lüftete sehr höflich den Hut und ging. Bei einem Zuckerbäcker erstand er einen Kuchen, den er am dreifarbigen Paketbändchen Made- moiselle Naville an die Türfalle hing. Für Kilian aber begann eine Zeit, wie sie nur die Spatzen wieder erleben, wenn die Kirschen reifen. Er fand in seiner Zimmervermieterin eine gute Fee, die ihn mit mütterlicher Güte umsorgte. Und was Kilian besonders schätzte: sie gab ihm Französischunterricht, und zwar— gratis! Das heißt, sie gab ihm eigentlich keinen Unterricht, sondern sie saßen abends zusammen und schwatzten. Schwätzten und strickten Kinderjücklein, Korsettschoner und Pulswärmer für ein Waren- haus. Auch er. Strümpfe stricken hatte ihn schon die Tante Ellstab gelehrt. Den Kunstgriff mit den beiden Holznadeln hatte er rasch los. So strickten sie denn und lehrten und lernten Französisch. Aber das war das Geringste. Sie machten Reisen rings um die Erde, auf Karten und auf einer kleinen Erdkugel. Sie fuhren durch alle Meere und viele Ströme, sie weilten in den ungeheuren Fabrikstätten Nordamerikas und wanderten über die Völkergräber am Euphvat und Tigris. Sie sahen die gewaltigen Gletscher übe, Europa kommen und gehen, und waren dabei, als der Erdtei! Atlantis ins Meer versank. Sie freuten sich über die Wunder- kraft des Bernsteins und staunten, wie Jahrhunderte nach seiner Entdeckung ein Funke dieser Kraft Menschenworte im S-kundenblitz um den Erdball trug. Sie reisten nach dem Mond und nannten viele Sterne mit Namen. Und wenn Mademotfelle Naville oder Mdre Juliette, wie sie Kilian bald nannte, von den Tieren im Wassertropfen er- zählte, oder von der neuen Lehre, wie im kleinsten Stoffteilchen eine ungeheure Bewegung lebendig sei, ähnlich vielleicht der Bewegung der Gestirne, dann erfuhr Kilian nicht aus ihren Worten Lehren und Weisheiten, wohl aber aus ihrer inneren Erregung, aus der ganzen sprühenden Wachheit dieser Greisin: das Leben ist Lust! ist Interesse! Und überdem fiel eine Blindheit nach der anderen von dem jungen Mann, und er fing an, ohne daß er es ahnte, in die Nähe jener ganz seltenen Ledensfürsten zu rücken, die sich den Luxus einer Weltanschauung leisten niöchten.
(Fortsetzung folgt.)