Nr. 429 ♦ 40. Jahrgang
Seilage öes Vorwärts
Lreitag, 14. September 1925
�Generalstreik"' Nachtlang im Rathaus. Die Umgestaltung der Straßenbahn. — Eine Abfindung für die Entlafienen.
In der Berliner StodtoerordnetenversammLung führte eine Anfrage der Deutschnationalen zu einer langen Debatte über den verunglückten„Generalstreik"', mit dem die Kam- munisten den sich vollziehenden Regierungswechsel begleitet hatten. Der Redner der sozialdemakratischen Fraktion, unser Genosse R e i- mann, benutzte die Gelegenheit, eine gründliche Abrechnung mit den Kommunisten zu halten. Er zeigte, daß die freien Gewerkschaften mit ihrer Stellungnahme zu dieser Aktion der Kommunisten den Interessen der Arbeiter am besten g« dient haben.— Den bei der Umgestaltung der Stro'ßenbahn nicht wieder eingestellten Arbeitern und Angc- stellten soll eine Abfindung gezahlt werden. Di« Dringlichkeit?- vorläge des Magistrats wird noch den Haushaltsausschuß beschäf- tigen, doch wurde der Magistrat ermächtigt, die Beihilfe von je 40 Millionen Mark für jeden Entlasienen sofort auszuzahlen. Oberbürgermeister Büß versprach schleunigste Auszahlung. & Die gestrige Sitzung wurde mit einer ziemlich gereizten Aus- «inandersetzung zwischen den Stadtvv. Lange(Z.) und Merten �Dem.) eingeleitet, wobei es sich um die Stellungnahme des Zen- trums zur Verankerung der sogenannten Entwertungsklausel im Stadthaushalt handelt. Die Demokraten werfen Herrn Lange und «einen Gesinnungsgenossen so etwas wie Bruch einer gegebenen �Lenden Zusage vor und drohen mit einer Revision ihres Verhält- nisies zum Zentrum innerhalb der Arbeitsgemeinschaft. Ob dieser „Sturm im Glase Wasser" noch weitere Wellen schlagen wird, bleibt abzuwarten.— Auf die Frage der Entlassung von Straßenbahnern bezogen sich eine dringliche Magistratsvor- läge und ein Dringlichkeitsantrag der Deutschnationalen-, es wurde beschlossen, die Sitzung im Lause des Abends zu unterbrechen, um den Fraktionen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.— Auf ein« Anfrage der Deritfchnationalen wegen des letzten„wilden", nicht einmal von den Gewerkschaften gebilligten Generalstreiks erwidert Stadtrat Koblenzer, der Magistrat gehe mit den Jnter- pellanten darin einig, daß es nicht angängig sei, städtische Betriebe zum. Tummelplatz solcher Betätigungen werden zu lassen. Der Magistrat habe sich alsbald mit den zuständigen Behörden in Verbindung gesetzt; man sei allseitig der Auffasiung.gewesen, da� eingegriffen werden müsse, daß auch aus den städtischen Werken die Elemente entfernt werden müssen, die dauernd für Unruhe in den Betrieben sorgen. Es sei die Bekannt- machung ergangen, daß die Streikenden bei Strafe der Entlassung bis zu einem bestimmten Termin die Arbeit wieder aufzunehmen hätten. Das sei auch geschehen; zu beachten sei, daß damals auch die Buchdrucker streikten und die Arbeiter nicht rechtzeitig von dieser Aufforderung erfuhren. Diejenigen Elemente, denen man berechtigte Vorwürfe machen konnte, seien nicht wieder in die Betrieb« hinein- gekommen; 144 seien draußen geblieben, später 1ö davon wieder eingestellt worden. Alle Betriebsräte, die gestreikt haben, hätte der Magistrat nicht einfach entlasten können; er mußte sich an die ge- setzlichen Vorschriften halten. In der Aussprache ging noch Aeußerungen von Dove(Dem.) und Frau Branerk(Dnat.) Dörr(Komm.) auf die politische Si- tuation, wie sie sich um den 8. August herum gestaltet hatte, ausführlich ein, um die Berechtigung des Generalstreiks nachzuweisen. Leider habe die Berliner Arbeiterschaft nicht genug Aktivität gezeigt: freilich habe sie auch alles gegen sich gehabt, die Polizei, die Reichs- wehr, das faschistische Gesindel, den ganzen Apparat des Klassen- ftaates. Bon Stadtbaurot Adler sollen den Gewerkschaften 100 Mil- lionen zugewendet worden sein, habe Herr Müller-Franken verbreitet. Welche Gewerkschaften feien gemeint, und habe es sich dabei nicht vielleicht um«in plumpes Kaufmanöver gehandelt? Der Streik sei zu früh abgebrochen worden.— Genosse Reimann hielt den Deutsch - nationalen entgegen, daß sie den Ausgangspunkt der Streikbewegung, den ungeheuren Dollarstur, der die ganze Wirtschaftsführung der Arbeiterschaft übÄc den 5>auf«n warf, nicht voll ersaßt und gewür- digt hätten. Die ungeheuren Ernährungsnöte, die Folg« dieser Mark- katasttophe, ließen die
Erregung der Arbeitermasscn nur zu verstandlich erscheinen. Diese Erregung legte den Kommunisten nahe, es wieder einmal mit dem Ausrufen einer Räte- oder Sowjetrepublik zu ver- suchen. Ueber den Notarbeitsvertrag habe auch bei den Arbeitnehmerorganisationen nicht eitel Freude geherrscht; man habe im Gegenteil gegen die Gewerkschaftskommisfion deswegen Vorwürfe erhoben. Wir"wußten, daß wir damit von den Arbeitern ein Opfer verlangten, das aber im Interesse der arbeitenden Bevölkc- rung gebracht werden müsse. Wenn die nationale Organisation nicht zugezogen worden sei, so genügt der Hinweis auf die Aeußerung des Reichsarbcitsministers, wonach diese als tarifliche Organisation nicht anerkannt ist. Auch könne man doch den ausschlaggebenden Orga- nisationen nicht vorschreiben wollen, mit wem sie paktieren sollen. Zu dem Verttagsabschluß sei man geschritten, weil man wußte, daß auch die Technische Nothibse die Stadt nicht vor Schaden bewahren kann, daß ihre Herbeirufung aber auch keineswegs beruhigend wirkt. Die Teno fei eine durchaus überflüssige Einrich- tung. Im Punkt« der Hundertmillionen-Schenkung fei Herr Dörr genau unterrichtet: es handele sich um die Unlerstühung alier invalider Straßenbahner. Radek habe diesen Generalstreik oerurteilt. Es sei durchweg so ge- kommen, wie er(Redner) vorausgesagt habe. Manchem stehe ja freilich der Goldsttom von Moskau höher als das Wohlergehen des deutschen Volkes.(Lärm bei den Kommunisten.) Im Falle eines bewaffneten Konflikts würden die Kommunisten für ihre Sowjet- ropublik höchstens die Mark Brandenburg behalten. Redner schließt: „Für eine solche Politik haben wir kein Verständnis; höher als die Partei stehen uns die Leiden des deutschen Volkes!" Streiier(D. Vp.) bedauert« den schlechten Umgangston, dessen sich Dörr bedient. Die Haltung des Magistrats gegenüber den Teilnehmern am letzten Generalstteik sei doch mindestens sehr weitherzig gewesen; man habe auch die Arbeiter wieder ein- gestellt, die erst 24 Stunden nach dem ihnen gesetzten äußersten Termin sich eingefunden hätten. Oberbürgermeister Vöß stellte aufs Bestimmteste in Abrede, daß irgend welche Entlassene in einem anderen städtischen Be- ttiebe wieder eingestellt worden sind. Damit schließt die Aussprache. Im Schlußwort ersucht Dr. Steiniger, in einem Ausschuß die Frage des Notarbeitervertrages noch weiter zu verfolgen.— Der bezügliche Antrag der Deutschnationalen wurde mit 93 gegen 86 Stimmen angenommen. Um-�8 Uhr erfolgte die Unterbrechung, gegen?L9 Uhr die Wiederaufnahme der Sitzung. Verhandelt wurde die S( raßenbahnerfrage. Dörr(Komm.): Warum quälen wir uns überhaupt noch stundenlang mit diesen Dingen ab, nachdem der Magisttat unfern Beschluß vom vorigen Donnerstag absolut ignoriert hat und seinen eigenen Weg zur«Sanierung" der Straßenbahn gegangen ist, Er wird auch unsere weiteren Beschlüsse ignorieren. Er wird dett Schlag, den er gegen die Sttaßenbahner geführt hat, auch gegen die Arbeiter der Werke führen: Das ist kein« Vermutung, sondern ein Eingeständnis des Oberbürgermeisters.(Hört, hört! im Saale und auf der Tribüne.) Di« vom Magisttat eingerichtete Bettiebs- gesellschaft für die Straßenbahn hat keinerlei gesetzliche Grundlage. Man hat an den Berliner Straßenbahnern«inen schmählichen Be- trug verübt.(Stürmische Zustimmung aus der Tribüne.) Für d>e vergewaltigten Sttaßenbahner muß die gesamte Arbeiterschaft ein- treten.(Lebhafter Beifall, auch auf der Tribüne.) Oberbürgermeister Böh: Der Magistrat stand vor der bitteren Notwendigkeit, dem Beschluß der Versammlung die Zustimmung zu versagen, wenn er nicht einen akuten Notstand über Berlin her- ousbeschwören wollte. Der Magistrat ist nicht ein geschästssührender Ausschuß der Versammlung; wir sind gleichberechtigte Körperschaften. Die heutig« Dringlichkeitsvorlag« sucht im Rahmen des Möglichen den entlassenen Straßenbahnern entgegenzukommen. Schon morgen soll den Entlassenen ein Betrag von je 40 Millionen ausgezahlt worden. Wir sehen auch in der neuen Gesell- schast kein Ideal, aber wir behaupten, daß es mit dem Verkehr, wie der verringerte Betrieb ihn bewältigt, leidlich so geht.(Wider- spruch.) Wir haben den Achtstundentag nicht abgeschafft, wir haben nur dafür gesorgt, daß auch 8 Stunden gearbeitet wird.(Unruhe.)
Clajus(Soz.) verwahrte seine Fraktion gegen die von Dörr erhobenen Vorwürfe; sachlich werde ihm im Ausschuß geantwortet werden.— Es wurde b efchlosfen, den Magistrat zu ermächtigen, schon am 14. September die je 40 Millionen zur Auszahlung zu bringen; im übrigen wurden die Vorschläge der Dringlichkeits- vorläge nebst den Anträgen der Kommunisten auf Wiederherstellung der Rechte und der Arbeitsbedingungen der Straßenbahner der Ausschußberatung überwiesen. In später Stunde wurde noch ein Antrag der Demokraten zu den Werkkarifen angenommen. Der Antrag lautete:„Die Werktarifs werden bis auf weiteres von der Werkdeputation oder d:m von ihr eingesetzten Unterausschuß am Ende jeder Woche auf Grund der Selbstkosten der Werke für die nächste Woche er- rechnet. Auf Grund dieser Errechnung wird für alle Ablesungen der folgenden Woche eine Schlüsselzahl festgesetzt, mit welcher die mittleren Vorkriegstarife zu multiplizieren sind." Ferner soll der Magistrat ersucht werden, zu erwägen, wie den Konsumenten Vorauszahlungen auf ein Werths- ständiges Konto gestattet werden könnten Dieser Antrag gelangte mit einigen vom Stadw. v. Eynern vorgeschlagenen Aenderungen und Zusätzen zur Annahme. Schluß 10 Uhr.
Vie Schneckenpost.
Bei dem Wettlauf der Behörden, die dem notleidenden Reich Einnahmen verschaffen möchten, will die Post nicht zurückstehen. Auch sie geht jetzt mit Energie daran, die laufenden Gebühren mit „einer für die Post erstaunlichen Schnelligkeit einzutreiben. Vor uns liegt ein« Rechnung für Fernsprechgebühren für den Monat Juli, die schon am 9. September zugestellt ist und Bezahlung innerhalb 8 Tagen fordert. Die Rechnung, auf vornehmer Doppel- Postkarte gedruckt und ausgefertigt, lautet über ISO M.(einhundert- undfünfzig Mark) für„Ortsgespräche". Wir sparen uns die Rech- nung darüber, was Formular, Ausfertigung und Zustellung dieser Forderung verschlungen haben. Wir sind aber gespannt, was für Zwangsmaßnahmen die Post im„Nichtbeitreibungsfalle" ergreifen wird, um zu ihrem„Gelde" zu kommen. Die Post folgt ja offen- bar dem schönen alten Grundsatz:„Mark ist Mark" und wird sich glücklich schätzen, schließlich die Gesamteinnahme des Reiches um 150 M. erhöht zu habcn. Wir haben unlängst hier einen ähnlichen Fall aus der Steuer- Verwaltung des Reiches berichtet und sind darob grob angefahren worden, weil wir offenbar nicht gewußt hätten, daß die so arbei- tenden Beamten durchaus den gesetzlichen Bestimmungen ent- sprechend gehandelt hätten. Wir zweifeln keinen Augenblick, daß auch die Post nach ihrer Meinung gesetzlich verpflichtet ist, die „einhundertundfünfzig Mark aus dem Juli noch im Septembcr" einzuziehen— koste es was es wolle. Wir möchte� aber endlich einmal erfahren, ob denn in unseren Behörden nicht auch der g e- sunde Menschenverstand gesetzlich vorgeschrieben ist. Sollte das nicht der Fall sein, so wäre es höchste Zeit, das nachzuholen. Denn ohne eine solche Mahnahme, die eventuell diktatorisch ver- fügt werden sollte, können die Finanzen des Reiches trotz Goldnoten und Devisenkommissar nun einmal nicht gesunden. Heute Stratzeubahn«00 000 Mark. Die Direktion der Straßenbahn hat sich genötigt gesehen, die Tarife erneut z» erhöhen. Es wurde beschlossen, für den Umsteige- fahrschein 790 000 M.. für den einfachen Fahrschein 600 000 M. zu nehmen. Die O m n i b u s- A.- G. hat dementsprechend ihre Fahrpreise auf 80 0 00 0 M. für die ganze Fahrt und 6 00 0 00 Mark für die Teilsttecke festgesetzt. Der Grund für die neue Erhöhung ist in erster Reih« in der Verdreifachung der Kohlcg- preise und der damit verbundenen Heraufsetzung der Stromtarife zu suchen. Weiterhin mußte ein Ausgleich für die neue Lohn- erhöhung geschaffen werden. Im übrigen hat sich die Benutzung der Straßenbahn durch das Publikum in den letzten Tagen wieder in aufsteigender Linie bewegt. Für die Berliner Kohlenhilfe hat das Bankhaus Mendelssohn u. Co. einen größeren Betrag in wertbeständiger Form zur Der- fügung gestellt.
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Kilian. Roman von Zakob Rührer.
„Rien ne tns plus!" Ein kleines Vermögen lag im Spiel. Eine Summe, die genügt hätte, aus einem Burschen einen Arzt zu machen, der ohne sie als Handlanger seelisch oerelendete und dann im Alkohol oerkam. „Rouxe!" Kilian schleuderte mit seinem Eisenrechen die Einsätze vor sich hin und zahlte mit flinkem Schwung die paar Gewinne aus. Nie, wie jetzt empfand er die ganze Verrücktheit des Augenblicks: wie Mabel, der Anarchist und Todfeind des Kapitalismus, dessen schlimmsten Auswuchs sich dienstbar machte, das Glücksspiel dirigierte, die tolle Möglichkeit, ohne Arbeit zu hohem Gewinn zu kommen!... „Rien ne vag plus!" Eine leise Alarmdute erklang: die Polizei! Schnell— schnell! Alles verlief sich eilig in den anstoßenden Salon, wo ein Sänger sofort eine Arie plötzlich irgendwo in der Mitte zu singen begann, während sich die Spieler um Teetischlein niederließen. Kilian versank geräuschlos mitsamt dem Roulettespiel in einen Zwischenstock. Gleichzeitig kam von oben ein neuer Fuß- boden für den Spielsaal; als dieser schloß, saß Kilian völlig im Dunkeln. Nach einer langen Weile flüsterte er ängstlich den Namen Mettler. Aber er bekam keine Antwort. Er wagte sich nicht zu rühren und verging fast vor Angst. Es dauerte eine Ewig- keit, bis er irgendwo ganz leise eine Tür gehen hörte. Gleich darauf flüsterte jemand ganz leise seinen Namen. Und jetzt noch einmal. „Esther?" „Ja!" „Wo?" „Hier!" Er tastete durch das Dunkel, am ganzen Leibe zitternd. Seine Seele war nur noch eine ängstliche, sehnsüchtige Schwingung: Esther! Da berührte er sie an der Schulter. „Komm," sagte sie leise! „Esther." flüsterte er,„ich habe Sie so lieb!" „Fort jetzt." „Ja, fliehe mit mir! Verlaß die Anarchisten! Ihr Weg ist nicht der rechte! Verlaß die Anarchisten!" „So einer sind Sie?" sagte sie scharf, wenn auch ganz ge-
dämpft.„Psui, vorwärts, kommen Sie und schämen Sie sich!" Sie zog ihn hinter sich her. Schließlich öffnete sie eine kleine Pforte, die in einen Garten ging.„So, hinaus!" befahl sie. „Werde ich Sie wiedersehen?" „Das weiß ich nicht.„Mon Repos" wird geschloffen. Wir verreisen noch beute." Die Türe fiel ins Schloß. Eine graue farblose Dämmerung lag über der Vorstadt. Lautlos und versteinert standen Bäume hinter hohen Garten- mauern. Kilian legte seine Rechte ins Kreuz und stöhnte: „Man hat mir das Rückgrat gebrochen." Sech st es Kapitel. Einige Tage später trat Kilian Billwanger in der Rue Morrinnier in Lausanne in ein kleines Schmuckwaren- geschäft. Sofort erschien aus der hinteren Türe eine zierliche, vielleicht fünfundzwanzigjährige Dame, die Kilian auf den ersten Blick sehr wohl gefiel. Er wünschte einen Herrenring zu kaufen und ließ sich alles umständlich zeigen, was in diesem Artikel vorrätig war, wobei er mit der hübschen Verkäuferin in ein angeregtes und verbindliches Gespräch geriet. Schließlich zögerte Kilian nicht länger, und gestand, daß er eigentlich nicht gekommen sei, einen Ring zu kaufen, sondern vielmehr um auf ihren Brief zu antworten und die Frage zu prüfen, ob er gegebenenfalls die in ihrem Inserat geforderten zehn- tausend Franken in dieses Goldwarengeschäft hineinstecken dürfe. Daß Kilian die Besitzerin— wie das Inserat weiter verhieß— unter Umständen heiraten könne, diese Frage war von seiner Seite bereits in bejahendem Sinne entschieden worden. Ein wenig errötend lud die anmutige Verkäuferin Kilian ein, näher zu treten und von ihren Büchern Einsicht zu nehmen, sofern er ernstliche Absichten hege und im Besitze der nötigen Barmittel sei. Er setzte sich an ein Tischlein, machte lange Zahlennotizen aus den Büchern, die ihm die Dame eilig herbeischleppte, beschlief die Sache drei Nächte lang und warb dann um die Hand der Besitzerin, worauf ihm diese tief er- rötend und glücklich in die Arme sank. Volle neun Jahre später kloofte es eines Abends gegen zehn Uhr an Fräulein Navilles Türe. Pochte und läutete sehr stark und hastig, bis die Uebelhörige es schließlich inne ward. Als sie öffnete, gewahrte sie einen Menschen, der sich gegen die Türpfosten stemmte und den Hut tief im Nacken trug. Plötzlich erkannte sie ihn, und sie schrie leise auf:„Kilian!" und nahm ihn am Arm und führte ihn aufs Sofa. Er sagte:„Grüß Gott M�re Juliette, gib mir einen Kaffee, IuliAte, ich habe einen Bombenrausch. Aber das tut nichts. Tut gar nichts!— Ich will ein wenig schlafen und dann..
Sie war schon in der Küche. Als sie wieder hereinkam, schlief Kilian fest. Am Morgen deckte sie den Frühstückstisch, und bald saßen sie sich gegenüber wie in alter Zeit. Nachdem er sein Scham- gefühl etwas überwunden hatte, sagte er:„Mdre Juliette, ich bin zu Ihnen gekommen, damit Sie mich anhören. Sonst verlange ich gar nichts. Weder Hilfe noch Trost. Nur Gehör." „Reden Sie, mein Freund!" sagte die alte Frau. „Daß ich mich verheiratete, habe ich Ihnen, glaube ich, angezeigt," begann Kilian.„Warum ich das tat? Warum heiraten junge Leute? Weil sie glauben, sie müßten endlich einmal festen Boden unter die Füße bekommen. Weil sie wünschen, daß der unsittliche Lebenswandel, den sie führen, vielleicht zu führen gezwungen sind, endlich aufhöre. Weil... was weiß ich. Jedenfalls heiratete ich mit der bestimmten Ab- ficht, ein neues Leben zu beginnen. Herauszukommen aus Verhältnissen, wie das mit Madame Favre, zu fliehen vor alledem, was die gute Gesellschaft verabscheute, Sünde und Verbrechen nannte. Ich hatte meine fünsundzwanzigtausend Franken im trockenen damals und dachte, daß man damit ein gesittetes und wohlanständiges Leben führen könne. Der Hauptgrund aber, warum ich damals Genf verließ und mich in die Ehe hineinstürzte, war, daß ich mit Teufelsgewalt Re- volutionär werden sollte, wozu ich gar kein Talent hatte. Man verlangte von mir, daß ich Taten vollbringe, Bluttaten unter Umständen, man verlangte von mir, daß ich irgend jemand töte. Nun weiß ich ja wohl, daß der Staat das von seinen Bürgern auch verlangt, nämlich daß sie unter Umständen irgend jemand töten, der ihnen nie ein Leides angetan hat. Aber ich bin nicht Soldat, ich habe dieses Gefühl nie erlebt. Ich wurde nie zum Mörder Ausgebildet.— Ich begriff aber damals gefühlsmäßig, ohne es mit dem Kopf zu verstehen, daß man von mir ein Gleiches fordere, wie der Staat von seinen Soldaten. Einer sagte zu mir:„Würden Sie trotzdem die Revolution in der Schweiz gutheißen, auck, wenn fünfzigtausend Ihrer Landsleute auf der Strecke blieben?" und ich bejahte die Frage, obschon ich innerlich erstarrte. Damals ging es dunkel in mir auf: es ist nichts mit den Revolutionären! Aus ihnen spricht derselbe Haß und dieselbe Feindschaft wider alles wahrhaft Lebendige, wie aus Leuten, die Krieg führen oder wirklich Soldaten sein können. Und damals rettete ich mich in Angst und Not aus der Ungesetzlichkeit meiner Lebens- anschauung in die gesetzliche Weltordnung des wohlhabenden Bürgers, wobei ich am sichersten und mühelosesten mein Aus- kommen finden würde. Das war der tiefste Grund meini?r Heirat. In Wirklichkeit ist jede Heirat eine Bejahung der bürgerlichen Weltordnung.(Fortsetzung folgt.)