ttx. 433 ❖ 40. Jahrgang
1. Beilage öes Vorwärts
Sonntag, 10. September 1023
Das durchlöcherte Dach. Auch ein Zeichen unserer Not.— Die geflickten Schwindelbanteu.
Es wackelt. An viclen Häusern so stark, daß die Verwandlung fat ein Sieb schon eingetreten ist. Großstadtdächer haben im allge- meinen eine ziemlich beschränkte Lebensdauer. Schon in normalen Zeiten ist man auch an der Spree aus dem Dochflicken nicht heraus- gekommen. Dem geteerten Pappdach sind nur höchstens zwei Jahre ungetrübten Daseins beschieden, Ziegel und Schiefer halten nur wenige Jahre länger, wenn nicht sehr gutes Material verwendet ist. Die vielen Schwindelbauten, die jede Großstadt in Frisdenszeiten oft dicht beieinander in ganzen Straßenzügen hochstreben sah, zeigten ihre baulichen Mängel immer zuerst am Doch. Der Sturm findet an der Ungleichheit der Großstadtdächer die schönste Gelegenheit, in sausendem Zickzack wuchtig« Peitschenhiebe auszuteilen. Regen und Schneefall taten das übrige, mit allzuleicht gebauten Bedachungen «in böses Spiel zu treiben. Was im letzten Jahrzehnt getan wurde, den Verfall über unserem Haupte aufzuhalten, war nicht der zwanzigste Teil dessen, was getan werden mußte. So konnte das galgenhumoristische Schlagwort entstehen: Wir gehen mit dem Regen- schirm ins Bett! Wie sieht es aus l Das Aug« sieht den Himmel offen, das Herz schwelgt nicht in Seligkeit. Auch ohne Dachluken fleht man durch so manches Dach Sonne . Mond und Sterne leuchten. Zahlreiche MSrtelhöuflein zeich- nen die Spuren, wo der Sturmgeselle sich«in Loch riß. Ist erst das eine da, folgen die anderen bald zu Dutzenden. Der Wind setzt sich in den Hohlraum und lockert das ganz« Gefüge. Dauer- regen bilden Bäche, klein« Seen. Konservenbüchsen, Blcchkannen sollen chren Lauf hemmen, hängen wie Lampions an Drähten unter den Sparren. Es nutzt nicht viel. Das Wasser sucht sich neue Weg«, läuft eilfertig an den Sparren entlang, tropft auch in die Boden- kammern, dringt durch die lockeren Dielen in Wände und Decken des obersten Stockwerkes, frißt sich an den Giebeln und Rabitz- wänden nicht selten noch nach einem zweiten Stockwerk durch. Große Necke mit gelbbraunen Rändern zeigen die Verheerungen an. Die Tapeten lösen sich, der Putz bröckelt ab. Rohrwerk und Holzeinlagen werden bloßgelegt, breite Flächen sind überwuchert mit Schimmelpilzen,' die Gefahr der Schwammbildung in der Balken- und Dielenlage wächst. Die Rückwände der Möbel werden von der Nässe ergriffen, Bilder müssen abgebängt, Bettstellen in die Mitte der Zimmer gerückt, Teppiche entfernt werden. Die Bett- wüsche ist ewig feucht und im Winter hartgefroren. Auch hier in den Wohnungen stehen an den gefährdeten Stellen Töpfe. Kannen. Wannen, die das Trovfwasser auffangen. Alle Be- baglichkcit im Heim ist aufgehoben. Man ärgert sich jeden Tag„die Hucke voll", zankt sich mit dem Hauswirt oder Verwalter herum und itt doch eigentlicki machtlos, muß ohne nachdrückliche Hilfe mit der Faust in der Tasche zusehen, wie das Nebel immer größeren Um- fang annimmt und ein liebgewordene� Wirtschoftsstück nach dem anderen beschädigt wird. Warum keine grSnöliche Abhilfe l Eine ganz« Reihe von zwingenden Ursachen, die in der abnormen Zeiientwicklung liegen und allen Beteiligten über den Kopf ge- wachsen sind, spielen hier mit. Was der Dollarstand für den Mark- wert, die Reparationsfroge für den Staat, der Lohn für den Arbeiter, die Lebensmittelbeschoffung für die Hausfrau ist, das ist die Dachreparaturfrage fiir Hauswirt und Mieter. Alles geht von gleichen Urfackien aus, alles hat die wesensgleichen Auswirkungen. Wöhrend des Krieges fehlte es zur ordnungsmäßigenBJnstandfetzung der Dächer an Material, nach dem Kriege fehlte es a n Geld, das wieder vorhandene Material und die nötigen Arbeitskräfte zu bezahlen. Was aber auf diesem Spezialgebiet« der Rot ganz be- sonders gewirkt hat, ist die zeitlich lange Unterbrechung der Fürsorge. Es geht den Hauedächsrn heute genau so wie einem Paar Stiefel. das man lolange trögt, bis womöglich auch noch die Brandsohlen zerrissen lind. An ungszöblten Dächern von Mietskasernen haben bloße Flickereien nach dem Gniachlen von Sachverständigen nur einen ganz vorübergehenden Werl . Hundertfach ist auch in Groß-Berlin festgestellt, daß es durch notdürftig geflickte Dächer schon nach wenigen Tagen wieder durchregnete. Di« großen
rung des Zuschlages für große Instandsetzungen uienig praktischen Sinn. Wir können mit zehntausend Prozent Zuschlag genau soviel und genau so wenig reparieren lassen wie vor einem halben Jahr« mit tausend Prozent. Reu« Zahlen werden geschaffen, kein« neuen Werte. Der Verfall des Daches, unter dem wir hausen, ist nur noch aufzuhalten mit der gründlichen Aenderung unseres gesamten Wirtschaftslebens.
Kosten waren zum Fenster h.nausgeworfen. Sicher gibt es eine nicht geringe Anzahl von Hauswirten, die die Dachreparaturen und andere große Instandsetzungen schuldhaft verzögerten. Die subjektive Schuld ist aber meist nur schwer nachzuweisen, wenn man den behaupteten Geldmangel vom Rechtsbegriff des Verschuldens ausschaltet und für eine Sabotage nur auf Vermunttingen gestützt ist. Ebenso wenig läßt sich rechtssicher nachweisen, daß die Reparatur absichtlich aufgeschoben wurde, um die Festsetzung höherer Zuschläge abzuwarten. Zwar haben sich die Anträge auf Umlag« der Dach- reparaturkosten mit den höheren Zuschlägen ausfallend gemehrt, aber die nicht zu leugnende Tatsache, daß die Instandsetzung auf die lange Bant geschoben wurde, ergibt in der Praxis gleich wieder neue Schwierigkeiten durch die Geldentwertung. Die Beschaffung von Pappe und Teer. Ziegeln und Schindeln erfordert so enorme Summen, daß schon die Kosleu für kleinste Dachreparaturen gleich in die Millionen gehen. Es wird also gerade soviel repariert, als an Kosten aus den Taschen der Mieter herausgeholt werden kann. Di« gründliche Instandsetzung eines total verwahrlosten Daches kostet nach dem gegenwärtigen Preisstand« Zk> bis 60 Millionen! Das können auch die Durchschnittsmieter nicht aufbringen, selbst wenn sie dazu durch ein Buchstabengesetz verpflichtet wären, und so bleibt im wesentlichen, von fast nutzlosen Flickereien abgesehen, alles beim alten. Was öas Neichsmietengefetz sagt. Die gesetzlichen Handhaben, gegen Vermieter vorzugehen, welche notwendige große Instandsetzungen nicht vornehmen lassen, stehen fast nur auf dem Papier. Di« Baupolizei kann einschreiten und der Gemeindebehörde nahelegen, die Arbeit selbst auszuführen, aber—„woher das Geld nehmen, wenn nicht stehlen"! Auch die Gemeindebehörde kann die Mieter nicht mehr in Anspruch nehmen als der Hauswirt. Wer soll die rieflgcn Fehlsummen, die in die Milliarden gehen, bezahlen? Jeder weiß, daß die Gemeinden, die selbst jeden Tag mit dem Pleitegeier ringen, es nicht können. In sehr dringenden Notfällen kann der Hausbesitzer an die Gemeinde- behörde herantreten mit dem Ersuchen um Bewilligung eines Zu- schusses aus den Mitteln der Wohnungsbauabgabe. Begreiflicher- weise zeigen sich die Gemeinden hierbei ziemlich zugeknöpft. Sonst würde vielleicht dos ganze Geld, das der Gemeinde aus der Woh- nungsbauabgab« zufällt, nicht ausreichen, um alle Dächer instandzu- setzen. Am besten haben es noch Mieter in den Häusern, die noch dem 1. Januar löllO an Ausländer verkauft wurden. Hier ist der neu« Hausbesitzer wenigstens kapitalkräftig. Ein Teil dieser Ausländer hat billiges Baluiaqeld für große Instandlehungen her- aegeben, der größere Teil lüßk die Häuser auch weiter versallen. Nach Erlaß des Bodensperrgesetzes wird die Hinterlegung von Millio- nen für Instandsetzungen streng durchgeführt, bei den anderen Speku- lationskäufern gibt es, wenn sie böswillig oder sorglos sich um die Häuser nicht bekümmern, nur das Mttel der Zwongsverwaltuna. das noch viel zu selten angewendet wird. Ein großer Irrtum ist der Glaube, daß die Mieter für große Instandsetzungen in Häusern, die nach dem 1. Januar 1920 verkauft wurden, überbaupt nicht mehr zu zahlen haben. Das ist nur der Fall bei derartigen Schäden, die beim Erwerb des Gebäudes bereits vorhanden waren und die der Käufer gekannt hat oder kennen mußte. In Taufenden von Fällen find Häuser gekauft worden wie die Katze im Sack, vom Auto weg oder nach Bauzeichnungen und Photographien. Unter solchen Umständen konnte der Erwerber die Hausmängel nicht kennen lernen. Es ist daher immer durchschlagend, wenn Mieter die eidesstattlich« Versicherung abgeben können, daß der Vorbesitzer wegen der Mängel das Haus billiger verkauft oder den Erwerber auf die Mängel hin- gewiesen hat. Erfreulickierwsis« handeln einige Mieteinigungsämten nack dem Grundsatz: Die deutschen Mieter schühen, aber nicht die ausländischen Spekulanten! e- Auch das Beste, das der bei allen großen Fragen halb im Dunkeln tappende Gesetzgeber von heute im Auge hat, wird natürlich unter dem Druck unserer Lebensverhältnisse bald überholt. Damit muß man sich wohl oder übel abfinden, fo gut oder schlecht es eben geht, denn es ist unmöglich, Reichsgefetze ebenso schnell zu ändern, wie sich das Rad der Zeit dreht. Deshalb hat die fortlaufende Steige-
Nur noch Millionen! Brot:»'/«, Milch: 4,2, Gas:»,4, Strom:«,8, Wasser: 2, Hochbahn : 1, Stadtbahn: 2 Millionen. Die kommende Woche bringt der Bevölkernng Berlins , die in dieser Hinsicht ja schon an allerhand gewöhnt ist, die ungeheuer- lichstcn Preissteigerungen. Zu dem Markenbrotpreis von Z 250 OVO Mark kommt«in Milchpreis von 4 200 000 je Liter. Das Gas klettert bei der Stcmdaufnahme vom 16. bis 22. September auf Z 400 000 je Kubikmeter, die<lcktrizilSi auf 6 800 000 je Kilowattstunde und das Wasser soll mit 2 000 000 je Kubikmeter bezahlt werden. Das ist aber noch nicht alles. Ganz gewaltig und in bisher noch nicht gewohnter Weise steigen die Vertehrstarife. Im Berliner Stadt-, Ring- und Vorortverkehr be- tragen die Preise vom 18. September ab für eine Fahrtarte dritter Klasse in der ersten Zone 2 MMoneu Mark, für die Fahrkarte zweiter Klasse in der ersten Zone Z Millionen Mark. Di« Steigerung für jede weiter« Zone beträgt in der dritten Klasse 500 000 Mark, in der zweiten Klasse 750 000 Mark. Monatskarten zum alten Preise werden nicht mehr ausgegeben. Di« gelösten Monatskarten behalten ihre Gültigkeit. Ferner hat die Hoch- und Untergrundbahn darauf verzichtet, das billigste Ver- kehrsmittel zu sein. Sie steigert ihre Tarife um das Vierfache und sieht sich, wie sie mitteilt, wegen der neuerdings eingetretenen, ganz außergewöhnlich starken Erhöhung der Löhne und der Ma- terialpreise, namentlich der Kohlen, genötigt, am Dienstag, den 18. September, ihre Fahrpreise in folgender Weise zu erhöhen: S. Klasse 800000 und 1000 000 M., 2. Klasse 1000 000 und 1200 000 M. B l o ck s zu 10 Karten kosten: Z. Klasse 7 000 000 und 9000 000 M„ 2. Klasse 9 000 000 und 10 800 000 M. Wochenkarten zu 12 Fahrten für die ganze Strecke kosten 9000000 und 10800 000 M. Da auch die Gütertarife ab 18. eine lOOprvzentig« Er- höhung erfahren, so wird sich das bald In einer weiteren ungeheuer- lichen Steigerung aller Lebensmittel auswirken. Die gesamte Pveisskala steht jetzt nur noch im Zeichen der Millionen, und die fortfchrektende Geldentwertung bringt uns den Milliarden entgegen. Der Milchpreis noch zu gering! Wie wir berichteten, haben sich die städtischen Behörden ge- nötigt gesehen, auf Drängen der Landwirtschaft die Relation des Milchpreifes zum Butterpreis ganz erheblich zu erhöhen, um Berlin vor dem drohenden Zusammenbruch der Milchbekieferunq zu schützen. Aber auch diese Maßnahme hat nicht genügt, um die Pro- duzenten dazu zu veranlassen, sich auf geregelte Zufuhren festzulegen. Das neue Abkommen, das den achten Teil des Butterpreifcs für Frischmilch vorsah(an Stelle des S,öfachen), genügt der Landwirt- fchaft nicht, vielmehr hat sie diesen Vertrag gestern gekündigt, noch bevor er überhaupt in Kraft treten konnte. Die Landwirt« weisen darauf hin, daß die wöchentliche Festsetzung des Milchpreises sie nicht genügend vor der Geldentwertung schütze und fordern die zwei- bis dreimalige Festsetzung des Milchpreises in der Woche, entsprechend dem augenblicklichen Stande der deutschen Mark . Von unterrichteter Seite wird uns dazu mitgeteilt, daß diese Forderung der Produzenten sowohl in leitenden Kreisen der Stadt- Verwaltung als auch bei dem Milchhandel Entrüstung hervorgerufen Hab«, da sie die Aufhebung aller Verträge und Lieferungsverpflich- tungen bedeuten würde. Das M i l ch a m t behauptet, daß schon aus rein technischen Gründen eine mehrfache Preisfestsetzung in der Woche gar nicht durchführbar sei, und daß die Bevölkerung an keinem Tage der Woche dann wüßte, was sie für Milch überhaupt zu zahlen hat. Gleichzeittg verlangen die Landwirte aber auch— und diese Forderung geht besonders von den Landmolkereien aus—, daß die Milchbearbeitungsspannen für die ländlichen Meiereien er- heblich heraufgesetzt werden. Sollte diesem Derlangen nachgegeben
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Kilian.
Roman von Jakob Vührer. Und also ging man nach Hause,„weinbeschwert", wie die Dichter singen, und in gehobener Stimmung und war es zu- frieden, über eine saubcrgewichste Treppe zu steigen und auf einer gehäkelten Sofadecke und neben kunstvoll von„ihr" be- stickten Kissen ein Weilchen niederzusitzen und den Wein ein wenig aufstoßen zu lassen, bis man sich an den sauber ge- deckten Tisch setzte, um die Speisen zu oertilgen, die„sie" und Marie oder Suzanne oder wie die Magd gerade hieß, mit so viel Mühe bereitet hatten. Und dann hörte man ein wenig zu, was der Bubi heute für geistreiche Einfälle gehabt, und was „sie" für einen Hut kaufen werde, und daß die Magd der Madame Odier schon wieder gekündigt habe, daß die Tante Gertrud sich einen Zahn plombieren lasse... Auch gab es eine kleine Meinungsverschiedenheit, weil„er" am Samstag wieder einmal eine Sitzung hatte, statt mit ihr ins Konzert zu gehen, und sie formulierte eine Sentenz über die Einsamkeit der modernen Ehefrau. Und die Jahre gingen, und Madame Billwanger stickte neue Sofakissen, und ließ tagtäglich die Treppe wichsen und Suppe kochen und Braten richten und wählte einen neuen Hut aus und machte dem Bubi ein Matrosenkleidchen und neue kräftigere Sentenzen über das Los der Ehefrau, und ward über all dem dicker und älter, und stand manchmal am Fenster und sah in die Rue Morronnier hinab, und war irgendwie unglücklich und war voll von einem Haß gegen diese lang- weilige ewig gleiche Gasse, gegen diesen Mann, der sie ver- brauchte und verzehrte mit seiner Hauiljaltung, dieser Haushaltung mit den ewig gewichsten Böden und der allmonatlich wiederkehrenden Riesenwäsche. Ihre Schönheit, ihre Jugend, ihre ganze Gefühlswelt hatte sie hingegeben für den Glanz der Parkettböden!— Und was erhielt sie dafür? Wie anders war es zu erklären, daß feine Küsse so kühl und so selten ge- worden waren, und daß er überhaupt... ach ja, sa! Er mußte eine andere haben. Oder mehr als eine? Wer kannte denn die Männer, diese ausgeschämte Gesellschaft!— Und also zerquälte sich Madame Billwanger und sehnte sich: Wenn doch einer käme, und mich verführen wollte! Herrgott, ich könnte doch noch lieben! Ich könnte... Aber sie hatte zu Hause zu bleiben, wie eine Sklavin, während er ausflitzte, so oft ein Lüftlein durch die Gasse säuselte. Derart zerquälte sich Madame Billwanger, hatte oft Mi-
gräne und ward über alledem weder reizvoller noch siebens- würdiger in ihren Reden. Auch sie hatte das Ungeheuer am Wickel, auch ihr schrie es in die Ohren, dieser Musterhausfrau und Mutter: Bist du dazu in die Welt gekommen? Trotzdem ich das wußte, vermochte ich nicht zu verhüten, daß sie mir gleichgültig und schließlich verhaßt ward, als wäre sie mein bitterster Feind, als hätte sie schuld an der Ber- pfuschung meines Lebens! Denn mit der Ehe hatte es doch schließlich angefangen, jenes unsäglich Furchtbare, nämlich! daß man keinen Gedanken mehr zu Ende denken konnte, und daß man zu keinem Menschen mehr sagen durfte: Freund, du bist mein Nächster! Nein, dem war nicht mehr so. Nächster war nur noch die Familie, und nachher— fertig. Eine Mauer. Schluß. Nachher gab es nur noch Interessegemeinschaftler, Kerle, die einem halfen, die Interessen der eigenen Familie zu fördern, weil sie gleichzeitig damit ihre eigenen Familieninter- essen schützten. Eine grauenvolle Vereinsamung hatte be- gönnen mit dem Tage der Eheschließung. Keine' Frau durfte man mehr lieben! Keiner Fremden etwas sein. Und doch, was ist denn Schönheit? Besteht sie nicht zum großen Teil aus Geheimnis? Aus der Hoffnung, Unerhörtes zu hören, Unerwartetes zu erwarten? Ist das Alltägliche, ist das Ge- wohnte schön?— Wie bin ich alltäglich geworden meiner Frau gegenüber in dieser zehnjährigen Ehe! Verstehen Sie, M�re Juliette,. wenn just die Ehemänner so zahlreich zu den Dirnen schleichen? Sie folgen dem von der Moral und der Sikte verschütteten Drang, mit fremden Menschen Uebermenschliches, Uebersinnliches zu erfahren, ! irgendwie die Grenzen des Daseins zu sprengen. Denn, Mutter Juliette, und hier vertraue ich Ihnen meinen letzten � Gedanken an: Ich glaube, daß durch die Umarmung die mensch- liche Seele ihre feinste Vervollkommnung erfährt.— Dieses : dunkle Wissen aber zwingt die dunklen Ehrenmänner, nächtlich in Hintergassen ihre letzten Möglichkeiten zu verschwenden, zu ' verderben... Das ist alles, M(!re Juliette, was ich Ihnen zu jagen habe. Sie sehen, es ist nichts. Nichts, was nicht jedermann in der Rue Morronier erlebt. Seltsam ist nur, daß ich hier sitze, und dies alles erzähle. Seltsam ist, daß ich mir über dieses Schick- sal eines Kleinbürgers völlig im klaren bin, und am seltsamsten, daß ich ihm entrinne. Wie das gekommen ist? Da ist halt in der Rue Mor- ronnier an der unteren Ecke vor etwa drei Iahren ein Kine- matographencheater aufgetan worden, und seit etwa einem Jahr habe ich kaum ein Programm ausgelassen. Ich war in
dieser Zeit in allen Winkeln der Welt, ich stand an den Geistern von Neu-Seeland , ritt durch die Wüste Sahara , war mit Amundscn im Südpolarkreis, jagte durch die Wälder von Texas und durchfuhr den Pangtsekiang. Ich war auf dem Mond, und alles, was ich einst von Ihnen über die Wunder des Weltalls vernommen hatte, ward in mir wieder lebendig, und für Augenblicke erwachte die erstaunliche Wunderkraft, weit über mich hinaus zu denken, uninteressierte Gedanken zu Ende zu führen, trotz den Zweiern und Dreiern Rotwein und Weißwein und trotz der Tintenfarbe, in das die Parteipresse das Weltgeschehen zu tauchen beliebt. Aber das alles hätte nicht genügt, mich zu erlösen. Doch dann sah ich Charlot, diesen fröhlichsten aller Filmschauspieler, sah seine gottvollen Dummheiten, seinen herzhaften Unsinn, und ich konnte wieder lachen und begriff auf einmal die ganze Kindlichkeit und Dummheit und Tollheit des Menschenge- schlechtes, begriff blitzhaft, daß alles, was der Mensch Schlimmes tut, gar nicht so schlimm, sondern nur dumm ist, und da ge- stand ich mir, daß es auch gar nicht so wichtig sei, wenn ich mich scheiden ließe, wenn ich aufhörte zu trinken, aufhörte ein Bürger zu sein, dafür aber meinem angeborenen, leider ver- gessenen Trieb wieder gehorchte: etwas zu schaffen, was nie mehr zerstört werden kann.— Und so bin ich denn abgereist, habe gestern einen Ad- ookaten beauftragt, die Scheidungsklage einzureichen. Nach- her habe ich meinen letzten Rausch getrunken. So, und nun bin ich zu Ende!" „Was wollen Sie als Scheidungsgrund angeben?" fragte Mi-re Juliette, die mit gespanntester Aufmerksamkeit zuge- hört hatte. „Eben," kratzte sich Kilian in den Haaren,„der Advokat hat mir gesagt, die Sache sei kitzlich. Und er hat mir dann bewiesen, daß die Gesetze verlangen, daß wir Madame Bill- wanger moralisch herunterreißen, da sonst von einer Scheidung keine Rede sein könne. Doch sehe ich nicht ein, warum man schließlich nicht dem Gesetz den Gefallen tun und es ernster nehmen soll, als Charlot die Welt und das Publikum." „Und— was gedenken Sie nun anzufangen?" „Vorerst will ich Ihnen herzlich Dank sagen, daß Sie mit solch seltener Kunst, zu schweigen, dagesessen sind. Ich fühle mich erleichtert, gestärkt, um wieder einmal ein neues Leben anzufangen. Ich grüße Sie, meins liebe Mi-re Juliette, und ich will gelegentlich von mir hören lassen." Damit erhob sich Kilian und schüttelte der alten Frau herzlich die Hand.(Fortsetzung foszt.)