Nr. 95 41. Jahrgang
Beim Arzt.
2
nuterflingel. Freundlichkeit fell eine der vornehmsten Tugenden " Darf ich biffen? Das flingt anders als die verärgernde Mi
In den Wartezimmern der Kaffenlöwen" alter Garnitur wird angebracht und auch nicht möglich. Mit dem Gede der Kaffenmit es leer und leerer. Die Herren haben in Groß- Berlin die Streif- glieder fell nicht geschleudert werden. Was vorherrscht und gefällt, schlacht, die sie in allzu sehr gehobenem Selbstbewußtsein schon ge- ist Gediegenheit und peinlichste Sauberteit. Rot oder dunkelgrün wonnen glaubten, glatt verloren und müssen blutenden Geldbeules polierte Tische, ebensolche Lehnfesse, Sigplaz auch bei starkem Anzusehen, wie„ tie Ratten das sinkende Schiff verlassen". Schon rang. Gedämpftes elektrisches Deckenlicht, Vorhänge an den lange vor dem Lehandlungsstreit hatten die Kassenpatienten die Art Fenstern, Linoleum auf den Fußböden, alles diftiert von hygienischen Gesezen mit Antlang an Gemütlichkeit. Auch höhere Ansprüche beder Behandlung bei den Kassenärzten, deren Zahl durch das System friedigt das Ambulatorium in der Klosterstraße. Leicht der freien Arztwahl allein für Berlin in die Taufende ging, herzlich hingeworfene, auf den 3med bes Ortes distret zugeschnittene Male. fatt. Sie brachten einer beschränkten Reihe von Kassenärzten, tie reien ziere die Wände. Gleichzeitig finden mindestens fechzig Krante auch unter schwierigsten Verhältnissen sich stets von strengem Bflicht- bequemen Sikplak. Täglich werden von zwölf Aerzten ohne gefühl leiten ließen, berechtigtes Vertrauen entgegen, ftanden aber Haft und Schwierigkeit bis zu fünfhunder. Kranfe in den fechs Abgegenüber der Mehrzahl seit vielen Jahren unter dem niederteilungen abgefertigt. Im Gegensatz zu den fleineren Ambulatorien, drückenden Gefühl, weit mehr Objeft als Subjett mo täglich auch schon hundert und mehr Patienten vorsprechen, wird der Behandlung, und zwar einer ins Groteste gestiegenen hier nach Nummern aufgerufen. Schnellbehandlung zu sein. Der vielerzählte Wig vom Kaffenarzt, der in einer Stunde fünfzigmal auf den elektrischen Knopf trückt, un in gleicher Zeit ebenso viele Patienten abzufertigen, reichte start an die Wirklichkeit heran. Von einer auch nur einigermaßen genügenden und das Vertrauen festigenden Untersuchung fonnte in ungezählten Taufenden von Fällen feine Rede sein. Das ärzt liche Konsultationszimmer war zum Laden ge worden. Mit der Aufsässigkeit der Kassenärzte gegen die Krankenfaffen schmolz die Patientenzahl zusammen, weil viele Kranfe in dieser Zeit wirtschaftlicher Krife gar nicht mehr in der Lage waren, das für die Konsultation auszulegende Sonorar aufzubringen. Die Raffenärzte machten trotzdem noch ein glänzendes Geschäft und faßen auf dem hohen Roß. Das Faß mußte aber den Boden verlieren. als die Honorarforderungen mit der juristischen Spißfindigkeit des „ vereinbarten" Honorars den Rahmen des Angemessenen beträchtlich überstiegen und deshalb von den Krankenkassen vielfach nicht mehr in voller Höhe dem Batienten erstattet wurden. So war die Ein richtung zahlreicher, über ganz Groß- Berlin verstreuter Ambulatorien, in denen wieder ohne Bezahlung behandelt wird, eine Tat, nicht lediglich eine Tat der Not und Selbsthilfe. Was längst in dieser Form geplant und nur durch wirtschaftliche Nöte zurückgestellt war, zwang der Aerztestreit ins Leben. Es ist das Verdienst der streifenden Aerzte, sich für eine gute Sache als unfreiwillige Ge burtshelfer erwiesen zu haben. Ein neues, fräftig aufsproffendes System ist da und ein neuer Geist.
Der Warteraum.
Leitfah war: auch hier schon mit Altem und Minderwertigem brechen. Wohltuende Umgebung wirkt doppelt angenehm ein auf jeden Kranken. Psychologen wissen das. Aerzte wissen es auch. Bei den meisten Kaffenärzten spürte man wenig oder gar nichts davon. Das schlechteste, winfligste, lichtärmste Zimmer war gerade gut genug zum Warten. Abgesessene Bänke und Stühle. Ein Tisch mit zerlesener Literatur Cangweiliger, oft anrüchiger Sorte. 3erfeyte Tapeten, schlechte Wandbilder in schlechten Rahmen. Ungenügende sy Hand stehen, bis Blak wurde, oft auf falten Serridoren. Hier und Kleider- und Schirmablagen. Viele mußten mit dem Hule in der aa jogar eine soziale Scheidewand und das gemütvolle Plakat: Für Raffenpatienten Aufgang über die Hintertreppe! Ein Wunder, daß dorthin gedankenlos überhaupt noch Rassenpatienten gingen. Wer sich viel bieten läßt, dem wird viel geboten. Da wird das Warten zur Qual. Bergebens fudjten Auge und Seele nach Ablenkung zu Schönem. Kalt und ungemütlich schon der Vorraum zum Allerheiligsten. Wird der Aestulap da trinnen ebenso froflig fein? Es war Zeit, zu beweisen, wie auch der ärmste kassenpatient Anspruch erheben darf, fein Denken und Fühlen gewürdigt zu sehen. In den Vorräumen der Ambulatorien findet es lebendigen Ausdruck. Sofort besticht der erste Eintrud. Neu sieht alles hübsch aus. Dennoch- hier hat noch anderes gewaltet, feines Empfinden für die Geistesverfassung des Kranken, beuhigendes Hinüberleiten zum Spruch aus ärztlichem Munde: Trachtet nach Licht für die bedrängte Seele, wo Schatten ist im franten Körper. Lasjet nicht alle Hoffnung draußen, die ihr hier einfehrt... tommt mit dem Gefühl, daß wir euer Bestes wollen, nach Pflicht und Gewissen geht nicht von dannen mit Groll im Herzen! Eleganz war nicht
85]
--
Mußte der Student denn nicht zusammen mit der Arbeiterschaft eintreten für die Freiheit des Gedankens, wenn er nicht sich selbst aufgeben wollte in seinem geistigen Beftande? Und was sind die Ursachen der Schande, daß er es nicht tat?"
Suchend nach den Ursachen saß er an dem als Schreibtisch bienenden Küchentisch. Das Licht von links. Freute sich des Tages über das Licht von links und in den stillen Nächten an dem Gasarm, den er durch eine Rohrverlängerung mit Hilfe eines feiner Genossen über den Schreibtisch montiert hatte. Wenn alles schlief und nur das Gaslicht summte, spielten im Hofe die Ratten, läutete fein das Glöckchen, das ein Proletarierjunge einer Ratte um den Hals gehängt hatte.
" Und im Zimmer nebenan aimet Katharina, die ich liebe. Biel mehr Glüd kann man vom Leben nicht erwarten!" Er berührte den Bleistift zärtlich mit den Lippen. Weil Katha rina ihn vielleicht einmal in die Hand nehmen würde. In diesen nächtlichen Stunden, da das Glöckchen in die Stille flang und die Sätze ihm gelangen, fühlte Jürgen sich und sein Ich organisch eingereiht in das Geschehen.
Der Staatsanwalt hatte gegen die drei jungen Genoffen und Katharina, denen es damals gelungen war, durch die Polizeifette durchzuschlüpfen und, unter Hohn und Prügel feitens der Studenten, Flugblätter zu verteilen, Anklage erhoben, ebenfalls wegen Störung der öffentlichen Ruhe, in Berbindung mit Aufreizung zum Klaffenhaß. Die drei hatten je fechs Monate Gefängnis bekommen und faßen schon. Katharina, deren Vernehmung und Schlußrede als Sensation von den Zeitungen abgedruckt worden waren, verbrämt mit Bemertungen tiefsten Bedauerns für Herrn Geheimrat Lenz, follte am nächsten Tage in das Gefängnis.
Jürgen schrieb bis in den Morgen hinein. Erst als er Das Klapperr bes Waschgeschirrs vernahm, flopfte er. Ratharina war noch nicht angekleidet. Und wie beide, stehend, in Der Umarmung verharrten, erhob sich in der Ede Katharinas schmutziggelber, langhaariger Schnaus, fchritt langsam herbei
tes Arztes fein. Nehmen Sie, bitte, Blog!" Das mebt beffere Gefühlsfäden als das herrische: Seken Sie sich!" Mensch gegen Mensch. Hilfe gegen Not, ohne Rücksicht auf Nam' und Ari. des foll beim Arzt regieren. Freimd der Kranten soft er sein. Nicht Diener als Angestellter einer Roffe, aber auch nicht Beherrscher. Geschicies Burchen, ein louniges Wort, ein gelegentlicher quter Bik bringt. die Binde des Kranten seinem Arzte näher. Grobheit und foaenonnte Schneidiateit stehen ihn ab. In den Ambulatorien bahnt inzin richtig ist des nach den monal langen Dranofalierungen der fich dieser Geist gegenseitigen Verstehens und Vertrauens schnell an. Merficherten durch Merate, deren erfte rane mar: oben Sie auch Geld mitgebracht?" Bemerkenswert ist der starke Zuftrom von Erwerbslofen. Die Aerzte führen das aber weniger auf Unterernährung zurück. Sie meinen, her Arbeitslofe finde mehr 3eit, zum Arzte zu aehen. Nur eine oefteinerte objektive Nervosität, ohne fubjektive Reizbarfeit mar bei faft allen zu beobachten. In jedem Ponsultationszimmer ist eine Strantenschwester tätig, für Schreihemert. leichte Verbände, Einsprikungen unt ähnliche medianiche Berrichtungen. Das erfpart dem Arzte viel Zeit, gibt ihm die Möglichkeit, volferes Intercife der Srentbeit selbst zuzuwenden, ehe er verordnet. Auch jedes fleinere Ambulatorium hat ein für den Anfang ausreichendes Jnifermentarium und verstellbaren Unterfuchungsffvhl. Weiterer Ausbau rein ärztlicher Natur, besonders zu Laboratoriumszmerten, ist beabfichtint, um Untersuchungen des Blutes. Irins, Sputums, Monfaftes. der Faeces ufm. aleich an Ort und Stele vorzunehmen. Wie es im Chorafter solcher Behand fungsstellen fiest, müssen natürlich zahlreiche Ueberweisungen an andere Institute, die mit reicherem Behandlungsmaterial, mie Röntgen, Höhenfonnenapporoten und dergleichen, ausgerüstet mie Röntgen-, Höhenfonnenapparaten und dergleichen, ausgerüstet find. vor allem auch nach den chirurgischen, zahnärztlichen und orthonädifchen Instituten, stattfinden. In etwa der Hälfte der 26 Amtufatorien ist einfimeilen gewöhnlich nur ein praffischer Arzt tätig, in zweien( Chauffeeftr. 128 und Treptow . Effenstr. 2) auch eine Aeratin, in den übrigen neben dem praktischen Arzt eine Reihe interbrochen von 9-1 1hr, verschiedentlich sogar bis 2 1hr, außer von Spezialisten. Die Behandlumnszeit ist überall wochentäglich undem bei mehr als zehn Ambulatorien an amei er drei Tagen auch noch nachnittens. Das ermöglicht die Behandlung einer großen Anzahl von Patienten, stellt aber auch hohe Anforderungen an die für die nene großzügige Einrichtung mit befonderer Vorsicht ausemäh'ten Vorzte, von denen deshalb findlich gehässige Angriffe der ftreifenden Aerzte abfallen.
Was die Patienten sagen.
Bitte, reden Sie ganz offen, was Ihnen an dem Ambulatorium nicht gefällt. Wir leren grökten Wert auf die Meinung unserer Kranten, möchten allen erffffbaren Wünschen entgenentommen." Und sie redeten ganz offen. Wie ein bunter Faden zog sich durch die meisten Aeußerungen em fleiner Unmut über das lange Warten. Ja, das ist richtig. So schnell wie beim bisherigen Kaffenarzt geht es nicht mehr, soll es nicht gehen. Sofort nichten die Kranten beifällig. wenn der Vrat ihnen fagte:„ Das Warten wird aufgewogen durch eine beffere Untersuchung. Las Sie für sich felbft wünschen, ist auch der Wunsch und der Vorteil der vor Ihnen
und blieb, als gehöre er zu allem, was geschah, dazu, vor ihnen stehend, den Blick zu Boden gerichtet.
Es war erst fünf Uhr. Schon fiel der erste Sonnenstrahl auf das Fenstersims, brach sich, huschte schräg an der Wand entlang und verfing sich in der Ecke.
Um acht Uhr mußte fie im Gefängnis fein. Sie faß, im Hemd, auf ihren Händen auf dem Bettrand. Der Schnauz war im Hofe bei den Ratten.
Später sprachen sie von anderen Dingen. Er solle sorgen, daß für die drei Genossen gesammelt werde. Des einen Mutter habe nichts zu essen, solange der Sohn im Gefängnis sei.
-
Nach dem Eramen nehme ich sofort eine Stellung an als Berwaltungsbeamter in einem großen Betriebe. Dann merden auch wir eine bessere Wohnung haben und regelmäßige Einfünfte. Und ich werde obendrein noch enger bei den Arbeitern sein als jeßt. Wir werden heiraten, um unötige Scherereien zu vermeiden... Ueberhaupt ein Glück haben wir, ein Glück!... Es wird ein Jahr vergehen, es werden fünf Jahre, groanzig Jahre vergehen, und immer werden wir zusammen sein. Was wir alles erleben werden! Ungeheuer viel! Wir sind Lebensgefährten. Katharina, welch ein Glüd! ... Sofort nach dem Examen nehme ich eine Stellung an." Katharina, die schon als Siebzehnjährige, anstatt Blumen malen zu lernen und für Buddha zu schwärmen, begonnen hatte, das Mehrwertgefeß und die Kapitelstonzentration zu studieren, sagte, wie er, der als linksgerichteter Sozialiſt be fannt sei, dessen Name schon so oft in den Zeitungen geftanden habe, ernstlich glauben könne, in irgendeinem Großbetriebe angesteut zu werden.
Nun, dann eben nicht!" Sie blickten einander an, bis das selbe Lächeln in beider Gesichter entstand und sie wieder gleich auf gleich waren.
" Deine Augen, Katharina, ach, deine Augen!"
Wie unsagbar glücklich das eine Frau machen kann, dachte Katharina. Auf dem Wege bis ror das Gefängnistor erlebten sie eine Stunde vollkommensten Berbundenseins, wie nur zwei Menfchen es verstattet sein kann, deren Liebe vertieft ist durch die gemeinsame Hingabe an die selbe Idee. Sie schritten in ihrem Gefühle.
leber alle Begriffe fchön fann das Leben sein." In ausbrechender Freude schlug fie die Arme um ihn. Wandte
Dienstag, 26. Februar 1924
Wartenden." Andere wieder sagten, das Warten falle nicht mehr so schwer, weil ja nun der Warteraum einen so gemütlichen Einbruck mache. Manche beklagten sich, daß es nicht immer nach der Reihe gehe, waren aber beruhigt mit der Erklärung: Die Bevorjugten find stillende Mütter, schwangere Frauen und frisch Unfallverletzte gewesen." Sonst waren fie ausnahmslos mit der Systemänderung sehr zufrieden. In den Wartezimmern ist man ja im allgemeiner nicht sehr mittei sam. Hier aber bricht doch immer wieder die Freude durch über das Aufhören von Zuständen, die ven Woche zu Woche unhaltbarer geworden waren.
Nach aiter Erfahrung ist die beste Einrichtung, das beste Bollen nicht gegen Kritik gefeit noch dazu bei Kranten hat alles Gefühlsleben eine individuelle Grundlage. Was der eine lobt, tatelt der andere, ohne daß man es ihm arg übelnimmt. Hier den Ausgleich zu finden, ist Sache des Arztes, der die Fähigkeit besigt, auch tie Seele zu fondieren. Denen aber, die aus eigensüchtigen Beweg. gründen wie Wespen nicht an den schlechtesten Früchten nagen, gilt das Dichterwort:
Fühl dich nicht von Keinlichem Tadel Ungebärdig beleidigt;
Groß ist nicht, wer gegen die Nadel Mit dem Schwert sich verteidigt.
Das Krantenfaffen- Ambulatorium Trep'ow befindet sich Elienstraße 111( nicht Elienstr. 2, wie uns amtlich mitgeteilt wurde). Den ärztlichen Dienst haben ein praktischer Arzt und eine Kinder ärztin.
Die Versorgung der Rentenempfänger.
Bon der Fürsorgepflichtverordnung erwarten sie nichts Gutes. Die kurz vor Ablauf des Ermächtigungsgefeßes noch heraus. gekommene Reichsverordnung über die Neuregelung der Fürsorgepflicht bringt einschneidende Aenderungen der Fürsorge und des Rentenwefens. Zur Stellungnahme gegen diese Berordnung fand am Sonntag in Berlin eine vom Zentralverband der In validen und Witwen Deutschlands einberufene sozial. politische Reichskonferen 3 statt. Sie war start besucht von Delegierten der Organisationen für Sozialrentner und für Kleinrentner aus allen Teilen Deutschlands , auch aus dem besetzten Gebiet. Sozialdemokratische und kommunistische Abgeordnete beteiligten sich an der Tagung, aber Arbeitsministerium und Wohlfahrtsministerium hatten teine Vertreter entsandt.
Genosse Johannes Lüneburg vom Hauptvorstand des Zene tralverbandes referierte über die Fürsorgepflichtverord nung. Das Reich lehnt durch sie die Fürsorgepflicht ab und überläßt sie den Ländern und Gemeinden. Darin liegt eine große Gefahr für die teilweise oder ganz Erwerbsunfähigen und daher Hilfsbedürftigen, für die Invaliden und Alten. Denn die Beschaffung der Mittel wird für die Gemeinden, die jetzt selber Not leiden, schr schwierig sein. Die Fürsorgeverbände, zu denen die Gemeinden sich zusammenschließen sollen, fönnnen für die Aufbringung der Mittele cine breitere Grundlage schaffen. Sie erinnern aber an die alten Orts- und Landarmenverbände und deren Geist tönnte leicht in ihnen wieder zur Herrschaft gelangen. Schuß vor dieser Gefahr ver. sprechen sich die Arbeitsinvaliden von einer Angliederung an die Kriegsbeschädigtenfürsorge. Unter lebhafter Zustimmung der Berfammelten erklärte der Referent, daß die Fürsorgepflichtverordnung abzulehnen sei. Die frühere Regelung durch das Reich sei beizubehalten und weiter auszubauen. Wenn aber die Berordnung nicht zu Fall gebracht werden kann, verlangen die Sozial- und Kleinrentner gewisse Sicherungen. Unter anderem hält Lüneburg für unerläßlich. daß sie in Beiräten und auch in einem Reichsfürsorgeausschuß durch von ihren Organisationen entfandte Vertreter an der Fürsorge mitwirken. Eine soziale Fürsorge ohne die Mitwir. fung der Leidenden sei heute undentbar. Ein Referat des fozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Genosse August Karsten beleuchtete den in den letzten Monaten begonnenen Rentenabba u. Einen Schlag ins Gesicht der Sozialrentner nannte er ihn. Der Abbau der sozialen Leistungen fönne schon nicht mehr überboten werden. Bei der Invalidenversicherung stehe der Rentenabbau in schroffem Gegensatz zu der Beitragserhöhung. Bei der Unfallversicherung sei der Rentenabbau ein willkommenes Ge schent an die Arbeitgeber. Karstens Forderung, daß mindestens Renten wie vor dem Kriege gezahlt werden, wurde durch lebhaften Beifall unterstrichen. Die Rentenempfänger werden, wie er darlegte,
fich, zog die Glode. Und wurde von dem schwarzen Tore geschluckt.
"
Wo ist die Einsamteit?... Ah, meine Herren, es gibt feine Einsamkeit. Nicht einmal eine Trennung!" frohlodte Jürgen und ging an feine Arbeit.
Ob der Herr im Reichtum oder im Elend lebt, aus einem warmen Teppichzimmer in eines mit feuchten Wänden und verfaulendem Fußboden übersiedeln muß, ob er Erfolge er ringt oder vom Leben Nadenschläge bekommt, hohe Ehren einheimst oder in Schimpf und Schande gerät der Hund hängt feinem Herrn immer gleich an. So unvernünftig ist der Hund, dachte Jürgen. Nur eines erträgt er offenbar nicht: getrennt zu werden von dem, dem seine Sympathie gehört."
-
Katharinas Schnauz, bisher ein ausgelaffen heiteres Tier gewesen, hatte am zweiten Tage das unruhvolle Fragen eingestellt; er blickte Jürgen gar nicht mehr an, fraß nicht mehr, ledte manchmal etwas Wasser und troch wieder in seine Ede zurück. Jürgen mußte ihn gewaltsam füttern.
Der Aufruf an die bürgerliche Jugend" war erschienen. Bei dem letzten Besuche, den Jürgen im Gefängnis machte, versuchte er, den Schnauz, der einzugehen drohte, mitzunehmen.
-
Der Gefängnisdirektor, der aussah wie ein auf der Schwanzflosse aufrechtstehender, schwarzer Fisch mit dicem Bauch und kleinem, rotem Kopfe, ein vollblütiger, fünfzige jähriger Mann, höflich und zurückhaltend, gab nach minutenlengem, von bedauerndem Achselzucken und erschrecktem Augenaufschlagen begleiteten Erklärungen und Fragen, zwischen die er eine Serie forretten Lächelns gleichmäßig verteilte Lächeln nicht eines harten Gefängnisdirektors, fon dern eines Menschen mit Herz und Gewissen, der aber leider an Bflicht und Gefängnisordnung gebunden ist- Schließlich die Erlaubnis zur Mitnahme des Hundes. Beugte sich plötzlich herab und tätschelte wehmütigen Mundes das Tier. Und dann tam, als sei er schon zu weit gegangen und Jürgen schon zu lange im Direktionszimmer geblieben, unerwartet schnell die knappe Verbeugung und sofort ein Lächeln wehmütig in die Wangen zurückgezogener Mundwinkel. Und sofort wieder das erschreckte Augenaufschlagen.
Jürgen war, wie er mit dem Schnauz die abgetretene Steintreppe hinaufstieg, der festen Ueberzeugung, daß der Ges fängnisdirektor früher oder später ins Irrenhaus tommen werde. ( Fortsetzung folgt.)