ttc. 119 ♦ 41. Jahrgang
1« Seilage ües vorwärts
Dienstag, 71. März 7924
Die kleinen Diebe hängt man...
Wenn auf einem Güterbahnhof große Kartoffelfendungeo ent> laden werden, kommt es vor, daß ein geringer Bruchteil der Ladung verstreut wird und auf dem Erdboden herumliegt. Noch den Dienst- Vorschriften sollen diese Kartoffeln der Ladung wieder beigefügt werden. Das ist aber in den meisten Fällen gar nicht möglich, weil die Ladung längst abtransportiert ist, ehe sich p-niand um die verstreuten Kortoffeln kümmert. Sie liegen zwischen den Gleisen. werden zertreten und verkommen. Wer sich aber einsallen läßt ein paar Pfund solcher Kartoffeln aufzulesen und mitzunehmen, han- delt rechtswidrig, verstößt gegen geheiligte Dienstvorschriften und setzt sich der schwersten Bestrafung aus. Um 20 Pfund Kartoffeln. Bier Kohlenverloder. die auf dem Bahnhof Grüne- wald beschäftigt waren, haben das zu ihrem Schaden erfahren. Di« Arbeiter hatten am 25 Oktober v. 3., also zu einer Zeit wo sie m i t ihrem knappen Lohn ihr« Familien nicht satt machen konnten, je einige 20 Pfurch von den verstreuten Kar- toffcln aufgelesen. 3n dem Bewußtsein damit nichts Böses getan zu haben, stellten sie ihre Karioffelsäcke frei und offen auf der Ar- beitsstell« hin. Ein Ucberwachungsbeamter der Eisenbahn entdeckte das. Er verhörte die Arbeiter und verwarnt« sie. Die Arbeiter glaubten, damit fei die Seche erledigt. Sie blieben auch während der nächsten drei Wochen unbehelligt. Anscheinend hat der Ueber- wachungsbeamte die bedeutungslose Kartofselangelegenheit nicht vom bureaukratischen, sondern vom menschlichen Standpunkt aus be- trachtet und nicht die Absicht gehabt, sie weiter zu verfolgen. Später muß aber wohl irgend jemand, der den„Misietätern* ein« Strafe gönnt«, die Angelegenheit wieder ins Rollen gebracht haben. Der Ueberwachungsbeamte zeigt« den Fall am 1Z. November der Eisenbahndirektion an. Da im Reiche der Eisenbahn jeder Verfehlung eines Arbeiters Anzeige und Straf« auf dem Fuß« zu folgen pflegen, fiel dem zuständigen Direktionsbeamten die starke Verzögerung in diesem Fall« aus Der Ueberwachungsbeamte wurde zur Rede g«- stellt und gab nun als Grund der Verzögerung an, er habe geglaubt. die Kartoffeln könnten aus einem Wagen gestohlen fein, er habe die Spur des in Frage kommenden Wagens bis noch Staßfurt ver- folgt, schließlich habe sich aber sein Verdoeht als unbegründet herausgestellt. und der Angab« der Arbeiter, std hätte» die Kartoffeln auf dem Bahnhof aufgelesen, stehe nichts entgegen. Nun setzt« die Strafverfolgung durch die E i s e n b a h n d i r e k t i o n ein. Di« vier Arbeiter wurden am lt. November fristlos entlassen und sind heute noch arbeitslos. Gleich- zeitig wurde der„Diebstahl' der Staatsanwaltschaft angezeigt. Vor dem Schöffengericht, wo sich die vier Arbeiter vor kurzem zu verantworten hotten, ging sie straffrei aus. Die Justiz hatte keinen Grund zur Bestrafung, aber die Eisenbahndirektion verhängt die schwer st«Hunger st rafe gegen Arbeiter, die sich aus Not«in paar Pfund Herren. loser Kartoffeln angeeignet haben. Die Eisenbahnbureaukratie. Wegen ihrer Entlastung klagten die Arbeiter jetzt beim G e- w e r b e g« r i ch t. Sie haben nicht das Bewußtsein, eine Der» fehlung begangen zu haben, die ihre Entlastung rechtfertigen könnte. vorgesetzte der Kläger , die vernommen wurden, stellten'ihnen das Zeugnis aus, daß sie tüchtig«, zuverlässige Ar- b e i t« r seien, die man ungern misse, aber— die Dienstvorschriften. Bier Stunden verhandelte das Gewerbegericht über den Fall. Der Vertreter der Eisenbahndirektion bot sein n ganzen juristischen Scharfsinn auf, um das Vorgehen gegen die Kläger zu rechtfertigen. Zwecks weiterer Feststellung darüber, welche Dienststell« für die Ent- lastung zuständig ist und wann diese Stell« von dem Entlastungs- grund Kenntnis erhalten hat, wurde die Verhandlung schließlich oertagt. Der Vorsitzende riet dem Direktionsoer- treter dringend, sich möglich st v or dem neuen Ter- min mit den Klägern zu einigen. Der Vertreter der Direktion zeigte aber nicht die geringst« Nei- g u n g, diesem Rat Folge zu lösten. Er findet wohl gelegentlich ein Wort des Bedauerns über das harte Los der Kläger , scheint aber zu glauben, daß er es vor seiner Direktion nicht verantworten kann, wenn er aus Billigkcitszründen von den starren bureaukratischen
Dienstvorschriften abweicht, nach denen selbst die geringste Ver- fehlung eines Arbeiters olpie Rücksicht geahndet werden muß, wenn auch die Eisenbahn dadurch tüchttg« Arbeiter los wird und diese ihrer Existenz beraubt werden. Die ganz unglaubliche Art der Be- Handlung dieses Falles läßt wieder einmal unsere Bureoukratie, diesmal die Eifenbahnbureaukratte, im hellsten Licht erstrahlen. Wegen einer Lappali« hat der Ueberwachungsbeamte doch wohl eine Anzahl anderer Beamten in Tätigkeit gesetzt und mancherlei Schveibercien verursacht. Dann ist die Sache im Bureau der Eisen- bahndirektion bearbeitet, dann hoben sich Staatsanwaltschaft und Strafgericht mit der Angelegenheit beschäftigt und mehrere Zeugen aufgeboten. Dann trat das Gewerbegericht— fünf Richter und ein Protokollführer in Aktton, dabei haben drei Beamte der Eisenbahn- divektion sein Prozeßvertreter und zwei Zeugen) mitgewirkt. So hat die Verfolgung der„Diebe" bis jetzt an Geld und Zeit» oufwendung wenigstens da» Hundertfache von dem gekostet, was die aufgelesenen Kartoffeln wert sind. Läßt sich dos, wo Sparsamkeit das Gebot der Stunde fein soll, verantworten? * Wenn die Berliner Direktion es in der Tat für angebracht hal- ten sollte, d«m verständigen Rat des Gewerbegerichtsoorsitzenden nicht zu folgen, darf sie sich nicht wundern, wenn die Berliner Be- völterung, besonders auch in Hinsicht auf die unseligen Wochen- kartenpreise, kein Vertrauen mehr zu dieser bisher wichtigsten und an erster Stelle stehenden Groß-Berliner Verkehrsverwaltung hat.
Wettstreit öer Damenfriseure. Wer weniger vertraut ist mit den Geheimnisten der Damenver- schönerungskunst. wird über die Vielseitigkeit und den Umfang der Industrie, die sich auf diesem Gebiete allmählich herausgebildet hat. geradezu erstaunt sein. Vorausgesetzt, daß ihm ein so vollständiger Ueberblick geboten wird, wie auf der F o ch m u st e r m« s s e in den Berliner „Kammersälen", die mit dem internationalen Preis- frisieren am Sonntag und Montag verbunden war. Haare in den verschiedensten Oualitäten, Längen und Farben, natürlichen und künstlichen, Berge von Färbemitteln, Apparate zum Kopswaschen,«lek- irische Apparate zum Haartrocknen� solche zur Herstellung von Dauer. wellen, Brennscheren zum Drehen vergänglicher Wellen. Locken und Löckchen, Nadeln zum Aufstecken. Kämme und Zierarten zum Schmuck der Haare, elektrische Gesichts, und Maflageapparate und— um nicht alles zu verraten— Teepuppen, Parfümerien, kurzum alles, was dazu gehört. Und das ist nicht wenig. Das Damenfrisieren ist M o d e s a ch e und die Mode ist letzten Endes Geschäft. Die klugen Friseur« arbeiten vor, stellen künstlich« Behauptungen auf. Ihre besten Kundinnen sind die, deren eigenes Haar nicht ausreicht und die deshalb Ersatz gebrauchen. Der Zopf spielt dabei keine Rolle mehr. Die Knüpfarbeiten werden durch tamponiert« Haararbeiten verdrängt, die dem natürlichen Aussehen am nächsten kommen. Modern sind jetzt niedrig« S ch e i- t e l s r i s u r e n. Gehilfen und Gehilfinnen müsten unablässig be- müht sein, mit der Mode mitzukommen, sich in der Kunst zu ver- volltommnen. Der S4er Gehilfenverein ist darm eifrig tätig. Sein jetziges internationales Preisfrisieren ging um die Weltmeisterschaft. Mit der Internationolität war es diesmal freilich nicht weil her. Nur die Wiener lasten es sich nicht nehmen, mit ihren Berliner Kollegen in Wettbewerb zu treten. Sie hallen drei Gehllfen und eine Gehilfin geschickt. Auch ein Schweizer war gekommen. Früher war auch London öfter vertreten, aber diese„Engländer" waren stet» Deutsche . Von den 17 Frisierenden, die am Sonntag mit ihren Modellen vor die Spiegel an zwei Tischreihen traten und um- drängt von der Zuschauermeng« ihr W«rk begannen, waren 10 aus dem Ausschetdungsfrifieren auszuwählen, die am Montag in engere Konkurrenz traten. In 40 Minuten war eine Gefell « schafts. oder Ballfrisur herzustellen. Unter den geschickten Händen, deren Arbeit die Musik begleitete, entstanden bald die
lufttgsten Gebilde. Der Preisprüfungskommission, die dann den Saal betrat und das Geschaffene kritischen, fachmännisch geschulten Blickes musterte, fiel die Wahl nicht leicht. Nachdem sie ihr« Notierungen beendet hatte, gaben die frisierten Damen ihre Köpfe der Bewunde rung des Publikums preis. Wiederum mußten die Wettbewerber in die Schranken treten, um im Zeitraum von öS Minuten histo- rifche Frisuren auszubauen. Dazu hallen sie ihre weißcn Mäntel angelegt, well an die Marie-Antoinette -Fr.suren recht viel Puder verschwendet wird.„Historisch" ist für den Damenfriseur nur die Zeit der letzten drei Ludwig« vor der großen französischen Revo- lution und die dieser folgenden Kaiserzeit des ersten Napoleon . Unsere Aufgabe muß es sein, daß solche Glanzperioden auf dem Rücken des Volkes für immer historisch bleiben. Am Montag abend begann das»Entscheidung»- frisieren um die We l t m e i st e r s ch a f t". Es gingen daraus hervor als 1. Preisträger Nöste-Berlin, 2. Lorbeer-Derlin, Z. Thor mann-Wien, 4. Studeneck-Wien , 5. Rudi Müller-Berlin , 6. Brandt Berlin , 7. Frau Geist-Wien. Den silbernen Schild errang Röste Berlin . der JranenmSröer Verth vor öem Untersuchungsrichter Der Doppelmörder Gerth, wurde im Untersuchungsgefängnis Alt-Moabll gestern zum erstenmal eingehend vom Untersuchung» richter, Landgerichtsrat Kruski, vernommen Die Untersuchung wird außerordentlich beschleunigt, da die Absicht be steht, noch vor dem 1. April Anklage zu erheben und Gerth vor die Strafkammer zur Aburteilung zu bringen, was auf Grund der Not Verordnung jedoch nur durchführbar ist, wenn Gerth auch weiter bei seinen Geständnissen verbleibt. Allerdings hat R.-A. Dr. Frei? als Verteidiger Gerths verlangt, daß der Angeschuldigte ein gehend von Prof. Strauch auf seinen Geistes zu st and untersucht wird, da eine re st lose Ausklä- ruug des komplizierten Seelen lebens des Lustmörder.. allein nur einen Einblick in die Triebe, die zu dem grauenhasten Doppelverbrechen geführt haben, gewähren und da nur auf diese Weis« über die Frage der Zurechnungsfähigteit geurteill werdeii kann. Die inzwischen weitergeführten Ermittlungen haben ergeben. daß Gerth eine ganze Reihe von Bräuten hatte, die von«inander aber nichts wußten. Di« Untersuchung geht jetzt dahin, aufzudecken, in welcher Weise sich Gerth diesen Frauen gegenüber genähert Hai und welcher Art seine Beziehungen zu ihnen waren. Der Täter zeigt« bei der Vernehmung keineswegs, wie man annehmen sollte. einen Zusammenbruch unter der Wucht seiner schweren Verbrechen. sondern er machte sein« Angaben in voller Ruhe und Gefaßtheit. ver flufslchtsrat berät... Mit der Herabse�ung der Werltarife soll jetzt endlich Ernst ge- macht werden. Der AufsichlSrat der Berliner Werke beschäftigt sich jetzt in seineu Beratungen damit, und für beul. April aller- spätestenS ist eine wahrscheinlich nicht unbedeutende Tarifermäßig ii ng für alle drei Tarife, für Gak. Master und Elektrizität zu erwarten. Bei den Elektrizitätswerken soll eine grundsätzliche Senderung des TarissystemS vorgenommen werden. ES soll beim Tarif die BenutzungSdauer beiücksichtigr werden, so daß diejenigen Licht- und Kraftkonsumenten, die ihre Anlagen wirklich ausnutzen, wahrscheinlich bedeutende Ermäßigungen erhallen werden. Die Neuerung wird vor allen Dingen den Klein- toniumenten und auch den lleine» Gewerbetreibenden zugute komyttzn. Endgültige Beschlüste des AufsichtSrateS sind allerdings erst in: Laufe einer Woche zu erwarten. Tie Ausschreibung der Burgermeisterstelle. Die durch da« Ableben unseres Genosten Ritter frei gewordene zweit« Bürgermeisterstelle ist jetzt auSgcschtieben worden. Bewerbungen für diese Stelle«tüstru Bis zum 20. März beim Siadtverordnetenvorstehrr Haß im Berliner Rathaus ein- gereicht sein. Der Trick mit der Kiste. Am Sl. Februar d. IS. war bei dem Juwelier Göbel tu der Rheinstraße zu Friedenau in der MittagSzeii von 1 b>S 3 Uhr, in der das Gelchäst geschlossen»st, ein«igen» und einzigartiger Ein- bruch verübt worden. Ein junger Mann war mit einer großen Kiste, die auf einem Handwrgen stand, vorgefahren. hatte die Kiste abgeladen und sie ganz dicht an die Ladentür gestellt In der Kiste saß ein Kampa» deS jungen Manne», der nun den
lStack druck durch ZKalik-Derlaa. BrrUn.)
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Der Bürger. von Leonhard Krank.
Und als sie wieder am Fenster stand, Hände aufgestützt, genau wie vorher, und fragte:»Liebst du Katharina noch?" dachte er: Daß sie das nicht vorher gefragt hat, ist großartig von ihr.„Unsinn! Katharina lebt sozusagen auf einem anderen Planeten... Jetzt müssen wir aber hinuntergehen, sonst merkt die Tante, was los ist." »Und wenn auch!" sagte mit aufrichtiger Geringschätzung dieser Möglichkeit Elisabeth: ein Wesen, das, ohne viel eigenes Bemühen lebensklug geworden, ein glatt funktionierendes Ge- Hirn fertig mitbekommen zu haben schien, Fragen an das Leben, Zweifel, Gefühls- und Gewisienskonflikte nie gekannt hatte und, jenseits aller Selbstbelügung, sich und anderen offen eingestand, daß sie für nichts anderes Interesse habe als für sich selbst, ihr Leben und ihre Genüsie. »Du bist großartig. Wer und was immer sich uns beiden in den Weg stellt, wir werden siegen." Sie gingen in gleicher Körper an Körper. Mund auf Mund gepreßt, wäh- rend Kailarina, zusammengerollt wie ein krankes Tier, in den Kleidern auf dem Bette lag. Der Fensterladen war ge- schlössen, das Zimmer nachtfinster. Nur ein schneidend dünner Sonnenstrahl lag auf dem Fußboden und aus dem Sirohle der Schnauz. Ihr Gesuhls-Jch. ausemondergerissen. offen, zuckte bei der leisesten Berührung, bei jedem Gedanken an Jürgen: wenn sie irgendeinen Gegenstand sah. der ihm geborte, den Bleistift, den Schotterstein, ein paar unbrauchbare Schuhe, die wie immer in der Ecke standen. Als gäbe der Instinkt ihr ein, daß sie nur dann nicht Schaden nebmen würde an ihrer Seele, wenn sie dem schweren Leid ganz rückbalstos sich preisgebe, ließ sie niemand zu sich. keinen Trost? sie belrnibte sich und ihren Schmerz nicht mit Leben, nickt mit Arbeit. Lag Tag imd Nacht"uf dem Bett. b'neingewühlt in das Leid, kämpfend um die Genesung, um chr Leben. Jürgen war der erste, war der einzige Mensch gewesen. dem i'e rückhaltlos vertraut und mit dem zusammen sie der Einsamkeit den Raum oerstellt hatte.
- Nach drei so durchkämpften Wochen strich Katharina, an dem Tage, da sie sich schwanger fühlte, zum ersten Male wieder über den Kopf des bettelnden Kameraden, der wegen der wochenlangen schlechten Behandlung sofort vorwurfsvoll zu bellen begann und, da Katbarina ihn schon wieder nicht mehr beachtete, sich niederlegte, Schnauze auf den Borderpfoten, in vergrollendem Vorwurfe. Noch ein paar Wochen— der Fensterladen war wieder offen, sie hatte wieder begonnen zu arbeiten— hoffte Katharina, Jürgen werde, nachdem er erkannt habe, daß die Siege, die in dem anderen Lager errungen werden konnten, ent» würdigend und wertlos seien, zurückkehren zu der Pflicht, die sein Bewußtsein ihm zum Schicksal mache. Mit den Monaten und den Tagen immer gleichen treuen Leidens und immer gleicher treuer Arbeit entstand in ihr der neue Anfang. Schon tonnte es geschehen, daß Katharina ein Lächeln tiefempfundener Freude in den Augen trug, wenn sie in eine Arbeiterversummlung kam und die Sympathie ihrer grüßenden Genosien fühlte. Schon als er noch bettlägerig gewesen war. hatte Jürgen, einig mit der Tante, daß dies das zunächst Allerwichtigste sei, sich auf das Doktorexamen vorbereitet. Weihnachten war die kirchliche Trauung. Jürgen hatte der siebenden Tante endlich mit den Worten:»In des Teufels Namen!" nachgegeben. Und Elisabeth hatte sich ihre Einwilli- g"ng zu einer kirchlichen Trauung von ihrem Bater abkaufen lasten durch ein Brillontgehänge. Lorbeerbäume bildeten eine Gaste vom Hochzeltswagen bis zum Altar, vor dem Brautleute knieten, in großem Halb- kreise umgeben von den Verwandten und Bekannten beider Familien. � „Berdammte Komödie!" flüsterte heiter der Kniende, und Elisabeth drückte zum Einverständnis Jürgens Arm und senkte das Haupt, das Lächeln zu verbergen. Das sah aus, als horche sie eranstfen den Worten des Geistlichen. Wäbrend der Trauung fang ein Gemis�ter Chor mit Orgelbeoleibing:»Himmel erböre. erhöre das Flehen: Liebe laß walten im Heim« der Gatten." Fast olle Damen und Herren, die damals auf dem Hügel Rotwein und Brathuhn genosten hatten, auch zwei Universi- tätsprofestoren, der junge Wistensebaktler, ein Chefredakteur und einige Künstler, mit denen Elisabeth Berkehr pflegte, saßen an der Festtafel, die, in Hufeisenform, die ganze Breite
des Wagnerschen Gesellschastssaales einnahm und mit zwölf. aus Treibhausvellchen nachgebildeten, riesisten Hufnägeln ge schmückt war. Diese Idee stammte von Jürgens Schwiege: mutter. Die Neuvermählten saßen, mit dem Blick in das Halbrund hinein, genau in der Mitte des Hufeisens, so daß ihre Beine den mittleren Haken bildeten, mit dem das Pferd Funken aus dem Pflaster zu schlagen vermag. Wurde am seitlichen Haken von Preste, Wistenschaft und Kunst ein Witz geinacht in bezug auf die Neuvermählten. dann langte er, zwinkernd weitergegeben, sehr schnell bein? rechten Seitenhaken an, wo er in das Gespräch über das mög liche Fallen oder Steigen eines Börsenpapieres ein Loch riß. das sich nach zwei Sekunden wieder schloß. „In bezug auf das Bankfach bleibt meine Weltanschauung� Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert," miederholte Jürgens Schwiegervater, der ohne erhobenen Zeigefinger nicht spreche» konnte. Das Streichquartett spielte auf Wunsch von Jürgens Schwiegermutter zum zweitenmal die Träumerei von Schu- mann. Die servierenden Diener hatten weiße Handschuhe an. Das Hufeisen dampfte. Nur der reichste Mann, ein Hütten und Walzwerkbesitzer, aß beinahe nichts: er war leberkrank. dottergelb, trank Brunnen und hatte noch kein Wort ge sprachest. Seine knapp vor dem Sprunge in das volle Leben stehende, sehr begehrte schöne Tochter legte ihm die sorgfältig ausgewählten winzigen Bisten vor. Den beiden gegenüber saß der unförmig dicke Papier gbrikont Hammes. Der sah beständig aus, als müste er jeden ugenblick niesen, und hörte dabei aufmerksam einem Gummi fabrikanten zu, welcher bewies, daß und warum infolge der schon nicht mehr schönen Preissteigerung des Rohmaterials ein glattes Geschäft überhaupt nicht mehr möglich sei. Man müsse sich winden, nichts als winden. Herr Hammes griff langsam nach dem Westenknopf de? Gummisabrikonten, als wolle er sich anklammern, um beim Niesen nicht vom Stuhle zu fallen, und sagte:»Wer etwa? wirklich Großes erreichen will, der muß borniert sein." An der Bör anerecke stieg das Wort»Montaniktien" und konnte, wie die auf dem Springbrünnchen tanzende, silberne Kugel, nicht mehr fallen, bis der reiche Lebertranke den Wasierstrahl abdrehte:»Mit den Flitzautomobilaktien könnt? in nächster Zeit eine schnittige Veränderung eintreten." (Fortsetzung folgt.)