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Nr. 188 41.Jahrgang

Ausgabe A nr. 94

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Zentralorgan der Vereinigten Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands

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Sonntag, den 20. April 1924

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Die Auferstehung der Vernunft.

Zum zweihundertsten Geburtstag Immanuel Kants .

Deutschland und die ganze zivilisierte Welt hätten allen Anlaß, das Osterfest dieses Jahres als ein Auferstehungs fest der Vernunft zu feiern, wenn sie nicht, zumindest auf dem Gebiet der Politik, die Vernunft schon längst wieder begraben und die Soldaten vor das Grab geftellt hätten. Denn am Ofterdienstag vollenden sich zwei Jahrhunderte seit der Geburt des großen Befreiers der Geister: Immanuel Kants .

Kant war am 22. April 1724 als Sohn eines Sattler­meisters in Königsberg geboren. Abgesehen von einigen Jahren, die er auf ostpreußischen Gütern als Hauslehrer ver­brachte, hat er fein ganzes 80jähriges Leben in dieser einen Stadt verbracht. Es war eine Stadt von etwa 50 000 Ein­wohnern, Hauptstadt eines dünnbevölkerten Landes, vorges schobener Bosten der europäischen Kultur. Dahinter lag das zerfallende Polen , lag das unermeßliche barbarische Rußland , das in den Jahren 1757 bis 1762 auch Königsberg besetzt hielt. Kant, dessen Geist in allen Erdteilen und im ganzen Weltall zu Hause war, verließ nie die engen Straßen feiner Geburts­stadt. Aber fein Antlig war dem Westen zugewandt. Das Deutsche Reich war ein geographischer Begriff, feine politische Realität. Eine politische Realität war Breußen, Rant war vier preußischen Königen Untertan, vom ersten Friedrich Wilhelm über Friedrich II. bis zum dritten. Die Menschen lebten unter dem Abfolutismus wie die Würmer unter dem Stein, was droben hing, war eine gottgewollte Tat­fache, gegen die man nicht rebellierte, über die man faum nachdachte. Auch unter Friedrich war, nach Lessings Zeugnis, Breuken das sflavischeste Land der Welt".

Die Technit lag noch im Winterschlaf, aber der Industrie­fapitalismus begann sich zu regen. Er sprengte die Zunft ordnung, die den Meistern eine bestimmte Höchstzahl von Ge­sellen vorschrieb und schuf die Manufattur. Die erste Spinn­maschine wurde in England ungefähr zu derselben Beit er­funden, in der Kant seine Kritik der reinen Bernunft" schrieb. Ostpreußen blieb ein Land der Landwirtschaft mit Großgütern und Fronbauern, Königsberg eine Handels- und Handwerker stadt mit agrarischem Hinterland und mit einer Universität, an der die Söhne der Gutsbefizer und der Bürger studierten. Dort erhielt Rant nach langem Warten eine Professur.

Rant ging von der Physik und der Astronomie aus. Auf Newtons Gravitationslehre fußend, schrieb er, 31jährig, die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels ". Die Theorie, die er dort entwickelte, ist in der Ergänzung, die sie durch den Franzosen Laplace erhielt, als die Kant - Laplacefche Weltentstehungstheorie" bekannt. Das war ein fühner Borstoß des Forschergeistes in ein Gebiet, in dem die naive Mythologie der biblischen Schöpfungsgeschichte vordem unbestritten geherrscht hatte. Glauben und wiffen stießen hart aneinander.

Hand in Hand mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Bürgertums, dem in England und Frankreich rascher als in Deutschland auch der politische folgte, ging diefer Rampf zwischen der überkommenen Glaubenslehre und der vordrin genden wissenschaftlichen Erkenntnis. Schien es, als ob die erste die zweite gewaltsam erbrüden wollte, so drohte die zweite die erste auf den Rehrichthaufen zu werfen. Kant hat in feinen kritischen Hauptwerfen in gründlichster, tiefftschürfender Arbeit zwischen beiden die Grenzen abgesteckt. Die Religion, im fitilichen Bewußtsein, auch in Rants eigenem, verwurzelt, mochte sich in ihrem Reich frei entfalten. Aber nicht mehr sollte es ihr erlaubt fein, ihre Aefte beschattend über das Feld der Wissenschaft zu strecken, die des freien Sonnenlichts der Erfenntnis bedarf.

Kant ging nicht darauf aus, die Religion zu vernichten, die eine große geschichtliche Tatsache der Menschheit ist. Aber wenn der Streit zwischen ihr und der Wissenschaft heute im großen und ganzen geschlichtet ist und wenn die freie For schung auf allen Gebieten nicht mehr an Kloster- und Kirchen­mauern stößt, fo ist das vor allem fein geistiges Berdienst. Es ist hier feine Möglichkeit, auch nur die leisefte Vor­ftellung zu geben von dem ungeheuren Berk philosophischer Hirnarbeit, die zu diesem Zweck vollbracht werden mußte. Was uns hier interessiert, ist nicht die Arbeit, sondern nur ihr Gewinn.

Bollzog sich die endgültige Verweisung der Mythologie cus dem Gebiet der wissenschaftlichen Erkenntnis durch die Kritik der reinen Vernunft ", so diente die Kritik der praf­tischen Vernunft" dazu, für die neue Weltanschauung die littlichen Fundamente zu zimmern. Heute schwimmt im Bewußtsein der Durchschnittsbildung von Rants Ethit

taum mehr als das Wort vom kategorischen Imperativ" und auch dieses oft in gräßlich mißbrauchter Form. Der tate­gorische Imperativ" ist kein von außen aufgedrungenes Muß, sondern freier Antrieb vernünftig- sittlichem Handeln. Huma­nität, freiwillige Unterordnung der Person unter die Sache, Hingabe an eine Idee- das ist es, mas Rants Ethik in ihrem Kern verkündet. Und dieser Kern bleibt frisch, so dürr auch die Schale der scholastischen Methode sein mag, die ihn umgibt. " Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Berfon als in der Person eines je den anderen, jederzeit zugleich als 3 wed, niemals bloß als Mittel brauch st." Dieser Say ist mitunter so gedeutet worden, als ob er schon den ganzen Sozialismus in sich einschlösse. Aber den Beweis dafür zu führen, daß Humanität, auf die Wirtschaft angewendet, Sozialismus wird, hat Kant nie versucht. Dies ganze Gebiet war ihm fremd.

Zu Rousseau hat er sich begeistert bekannt.

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Rant nahm brennendes Interesse an der Politit. Er begrüßte die Unabhängigkeit Ameritas, sein Herz war mit der französischen Revolution felbft dann noch, als sich die meisten gebildeten Deutschen von ihrem blutigen Schrecken abwandten. Den Krieg verabscheute er als vernunftwidrig, fah in ihm nur eine Fortfegung der Menschenfresserei und entwarf in seiner Schrift über den Ewigen Frieden " einen Plan zur Kriegsverhütung durch die Mittel des Bölkerrechts.

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Die Hohenzollern hatten sich um ihren größten Untertan niemals gefümmert. Friedrich II. , den die Böltischen jetzt als ihren Heros verehren, hatte zum deutschen Kultur und Geistesleben überhaupt feine Beziehungen. Der Philo foph von Königsberg eristierte für den Philosophen von Sanssouci " ebensowenig, wie Goethe, Schiller, Lessing, Her­der für ihn existierten. Der Professor wußte, daß zur ge­gebenen Zeit der praktische Eingriff eines gewöhnlichen Unter­tons in die Politit etwas ebenso Undenkbares war wie eine Reise auf den Mond. Er blieb im Reich der Theorie und durfte froh sein, wenn man ihn hier nicht genierte.-Aber es blieb nicht immer so.

an der Arbeit gehindert. Aber noch bleibt das große Problem, Politif und Wirtschaft mit den großen Forderungen der Humanität in Einklang zu bringen, ringt ein System, das die Lösung sucht, um Anerkennung das System des margismus.

Nieder mit dem Margismus! Der Ruf gellt durch alle Straßen, durch die Säle, mo bürgerliche Wahlver­fammlungen gehalten werden, flebt in dicken Lettern an den Mauern. Wöllners Nachfolger fönnen nicht mehr mit Kabi­nettsordres agieren, mit Gummifnüppeln und Schlagworten wollen sie den Geist erschlagen.

Aber wir Sozialdemokraten glauben an die Aufs erstehung der Bernunft.

Auferstehungswille.

Bon Rudolf Breitscheid .

Nach welchem Ritus wir auch das österliche Fest begehen: der Sinn ist der, daß eine Zeit der Not und der Trauer ihr Ende gefunden hat, und daß wir aus der Dunkel­heit in ein neues Licht trefen. Wenn die Christen die Auf­erstehung des Herrn feiern, wenn die Juden der Erlösung aus der ägyptischen Gefangenschaft gedenten, wenn die deutsch­böllischen Wotansanbeter der germanischen Frühlingsgöttir Ostara opfern, oder wenn wir ohne alle Mythologie auf dem Spaziergang vor dem Tore das wiedererwachende Leben be­grüßen, immer ist es ein Gefühl der Befreiung, das bie Menschheit befeelt. Fesseln sind abgestreift. Das Gebun­densein, die Knechtschaft, der Tod find überwunden. Ein neues ist geworden oder will werden. Trübe und zaghafte Gedanken verscheucht die siegende Sonne. Eine Erstarrung ist von uns genommen, Schaffensmut und Schaffensfreude brechen einen lastenden Bann. Im Tale grünet Hoffnungsglück."

Diese österliche Stimmung erfaßt den einzelnen, auch den, der von Hause aus vielleicht zum Bessimismus und zur Schwarzfeherei neigt. Aber dürfen wir nicht auch die Er­wartung hegen, daß sie von unserer Gemeinschaft, von der Sozialdemokratischen Partei Besiz ergreift? Einer solchen Neubelebung bedürfen wir, denn hinter uns liegt eine Zeit, in der manch einer geneigt war, sich von Mißmut und Hoffnungslosigkeit übermannen zu lassen. Es war ein Nieder mit dem Kantianism us!" Alle Thron- Winter des Migoergnügens, der lange por dem astronomischen stützen und Dunkelmänner, die sich um die königliche Person Winter einsetzte und uns viel Bitteres brachte. Unter dem von Friedrich Wilhelm II. , Friedrichs Nachfolger, sammelten, ver- dem Ausland ausgeübten Druck und unter der Fuchtel des einigten sich zu diesem Ruf, als Anfang der neunziger Jahre deutschen Kapitalismus haben die arbeitenden Massen eine des achtzehnten Jahrhunderts Rants Lehre alle gebildeten Epoche des fürchterlichsten Elends durchlebt. Die physische Geister der Zeit, Schiller voran, erfaßt hatte. Haupt- und moralische Bermürbung, die die von dem in­gegner Kants war der Minister Möllner, der am 1. Of dustriellen und landwirtschaftlichen Großunternehmeriam ge­tober 1792 folgende königliche Kabinettsordre an den gefähr brachte, hemmte den Vormarsch der sozialistischen Arbeiter­förderte Entwertung unseres Geldes naturgemäß mit sich förderte Entwertung unseres Geldes naturgemäß mit fich Unsere höchfte Berson hat schon seit geraumer Zeit mit großem bewegung, und fast schien es fo, als ob er seinen Endpunkt mißfallen ersehen, daß Ihr Eure Philosophie zur Ent erreicht habe, und als ob der konzentrische Ansturm wider den ftellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren Marrismus einen vollen Erfolg erzielen sollte. Wahlen brach­der Heiligen Schrift mißbraucht. Wir haben uns zu Euch äußersten Linken und Rechten, deren radikal klingende Ba­Wir haben uns zu Euch ten uns Niederlagen und verstärkten die Parteien auf der eines Besseren versehen, da Ihr selbst einsehen müßt, wie un­verantwortlich Ihr dadurch gegen Eure Bilicht als Lehrer der rolen von einem Teil des ausgepowerten Proletariats mit Be Jugend und gegen Unsere Euch sehr wohlbekannte landesväterliche gierde aufgenommen wurden, während ein anderer mißver­Absicht handelt. Wir verlangen des ehesten Eure gewissenhafte Bergnügt und hoffnungslos dem aussichtslos scheinenden poli­antwortung und gewärtigen Uns an Euch, bei Bermeidung Unserer tischen Kampf entfagte. höchsten Ungnade, daß Ihr Euch fünftighin nicht mehr werdet dergleichen zuschulden tommen lassen sondern vielmehr Eurer Bflicht gemäß Unser Ansehen und Eure Talente dazu anwendet, daß unsere landesväterliche Intention je mehr und mehr erreicht werde, widrigenfalls Ihr Euch bei fort gefeßter Renitenz unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen habt.

lichen Profeffor ertrahierte:

So sprach gekrönter Stumpffinn zu einem der größten Geifter aller Beiten. Und der Geist, zur Untertänigkeit ver­dammt, tapitulierte!

Bierzehn Jahre später brach das antifantianische Breußen bei Jena zusammen. Kantianer bauten es später wieder auf.

*

Engels mahnt uns, nicht zu vergessen, daß wir Sozial­demokraten die Erben nicht nur des großen topiften, son­dern auch der klassischen deutschen Philosophie find. Von Kant fluten zwei große Geistesströme über Fichte zu Lassalle, über Hegel zu Marr. Der Streit zwischen Wissen und Glauben ist geschlichtet, neben der amerikanischen und der franzöfifchen Republit, die Kant als Morgenröte einer neuen Zeit begrüßte, steht die Deutsche Republit. Philosophen werden nicht mehr durch brutale Kabinettsordres

unserer Fahne treu blieben, vielfach lähmende Mutlosigkeit um Das Schlimmste aber war, daß auch unter denen, die sich griff. Das Wort: es gelingt nichts mehr", das Bismards Gegner ihm in den letzten Jahren seiner Kanzlerschaft höhnend fraten, und indem man nach den Gründen der Fehl­zuriefen, wurde refigniertes Befenntnis manches Sozialdemo­schläge fuchte, begann man eine Auseinandersetzung über die Politik und die Tattit der Partei, die nicht selten die Formen der Selbstzerfleischung anzunehmen drohte. Nicht als ob die Erörterung begangener Irrtümer an sich bedenklich wäre. Es ist im Gegenteil ein Beweis von Leben, wenn man gemachte Fehler aufbeckt und Mißgriffe eingesteht. Aber wie der Zorn, so ist die Verzweiflung bei solchen Debatten über die Schuld­frage eine schlechte Beraterin, und fie hat oft dazu geführt, daß als Sünde einzelner Personen oder bestimmter Richtun gen" gebrandmarkt wurde, was doch die Folge von Verhält­nissen war, die auch die Menschen besten Willens nicht zu meistern vermochten. Darunter litten dann das Gefühl der Gemeinsamteit wie der Glaube an die Sache. Es trübte sich der Blick für die wahren Ursachen des Erfolges der Gegner, und das Ende war eine weitere Beeinträchtigung der Kampffreude und eine Steigerung des der Arbeit abträglichen Unmutes.

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Das war der Winter. Aber mit Genugtuung dürfen wir