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Nr. 188+41. Jahrgang

3. Beilage des Vorwärts

England und Deutschland .

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Ein Vergleich.

Die Bildung der englischen Arbeiterregierung hat in Deutschland ein eigentümliches Echo hervorgerufen. Die bür­gerliche Pressefast ausnahmslos fann sich nicht genug in dem Ruhm der englischen Arbeiterminister er­schöpfen. Kaum war das Kabinett gebildet, so ertönte sein Ruhm schon in allen Lagern. Was für ein Kabinett! Was für Minister! Was für ein glänzendes und tiefdurchdachtes Programm! Was für eine bewundernswert nationale Gesinnung bei diesen englischen Arbeitern! Es geht uns immer jo. Im Ausland sind die Sozialdemokraten immer hervorragende Staatsmänner, glühende Patrioten, Männer von Weitblick und Schulung. Merkwürdig, in Deutschland fennt man im allgemeinen in der bürgerlichen Presse die Sozialdemokraten als unfähige"," unintelligente", marristisch­international verfeuchte Gestalten. Bei uns zu Lande herrscht im Bürgertum in den weitesten Kreisen die Vorstellung, daß Sozialdemokraten im besten Falle ein unvermeidliches Uebel sind, mit dem man leider rechnen muß. In England ver­wandeln sie sich in der Vorstellung des deutschen Spießers in Staatsmänner von großem Format, denen gegenüber der Ruhm Lloyd Georges bedenklich verblaßt.

Uns drängt sich ein anderer Vergleich auf. Ein Vergleich, der vielleicht näher liegt, wenn er auch für Deutschland schmerz­licher sein mag. Wie steht es, wenn man Deutschlands Bürgertum mit dem englischen Bürgertum vergleicht?

In England zahlte das Bürgertum seine Kriegs­steuern. In England gab es feinen Helfferich, der mit fchönen Reden das Bolt belog, der die Inflation er­fand, um Schwerindustriellen und Industriemagnaten zu Gefallen zu sein und den patriotischen Bürger von der unan­genehmen Last des Steuerzahlens zu befreien. In England war es nicht notwendig, den Patriotismus des Bürgers mit Giegesnachrichten anzufeuern, war es nicht möglich und auch nicht nötig, durch falsche Berichte den Bürger zum Aus­harren zu ermahnen. Das englische Bürgertum, gewohnt, Ber­antwortung zu tragen, sah den Dingen nüchtern und offen ins Gesicht. Es überließ die Verantwortung nicht politi fchen Phantasten wie Ludendorff . Die englische Re gierung fonnte im Gegenteil höchsten Patriotismus durch offene Schilderung drohender Gefahren entfachen. Patriotis­mus war feine Ware, die sich nach dem Geschäft richtete,

Sonntag, 20. April 1924

Der Erfinder der Dolchstoßlegende.

Am andern Tag besprach mein Vater vormittags mit dem Kaiser wiederum die Frage der Nachfolgerschaft im Kanzleramt. Während der Unterredung betrat auf einmal Ludendorff unangemeldet das Zimmer und fragte fofort im Towe höchster Erregung: Ist die neue Regierung noch nicht gebildet?" worauf der Kaiser ziemlich barsch erwiderte:" Ich kann doch nicht zaubern!" Daraufhin Ludendorff: Die Regierung muß aber sofort gebildet werden, denn das Friedensangebot muß noch heute heraus!" Der Kaiser: Das hätten Sie mir vor 14 Tagen sagen sollen." Aus den Erinnerungen des Grafen Hertling jun.

das damit zu machen war. Das englische Bürgertum opferte D- Zug

nicht nur Blut, sondern auch Gut. Wer denkt nicht an die Rundgebung der Nationalliberalen im Kriege, daß es unmöglich sei, von einer Generation bei des, Gut und Blut, zu verlangen. Wo wären wir heute in Deutschland , wenn wir ein Bürgertum hätten, dessen Patriotismus fich auch im 3 a hlen äußerte? Würden unsere Brüder am Rhein und der Ruhr so unter französischem Druc zu leiden haben? Hätten wir all die Opfer und Rückschläge des Ruhrkrieges erleben müssen, wenn unsere engstirnigen Ruhrindustriellen rechtzeitig getan hätten, was ihrem Lande gegenüber, ihren Volksgenossen gegenüber ihre Pflicht von Anfang an gewesen wäre? Heute bezahlen sie mit Micum­Berträgen, heute bezahlen die Millionenmassen der Arbeiter­schaft mit unendlichem Elend vielfach für die Steuerscheu Der Batrioten.

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Das deutsche Bürgertum zahlt aberwißige Summen für die Organisation des Bürgerfrieges, Die Banden der Roßbach, Ehrhardt, Hitler - Leute wie fönnten sie eristieren, wenn nicht die Industrie fie finanzierte? Glaubt irgend jemand, der Englands Bürgertum, seine Tradition und Schu fung fennt, daß dort irgendwie nennenswerte Kreise- gleidh ob unter den Liberalen oder den Tories es zulassen wür­den, daß ihr Land in ein Narrenhaus verwandelt wird, in dem Banden gegen die eigenen Boltsgenossen organisiert werden? Wenn Churchill , der fanatischste Gegner der Ar­beiterpartei, in einer Wahlversammlung spricht und der Kan­didat der Arbeiterpartei gegen ihn auftritt, dann betont er, daß er den Gegner als Menschen und als Politiker achtet, daß er auch vor ihm, dem Gegner, Respett empfindet, und daß er mit geistigen Waffen mit ihm um die Stimme des Volkes ringt. Das englische Bürgertum hat feinen Bis­mard- Stil im Innern großgezüchtet, feinen Kulturkampf ge­duldet, kein Sozialistengefeß angewandt. Der Arbeiter ist ein Bürger feines Landes wie jeder andere auch. Gewiß, die englische Bourgeoisie ist eine fapitalistische, eine imperia listische, aber mit weltumspannendem Horizont. Ihre Me­thoden der Beherrschung der Volksmassen sind andere, sind denen des deutschen Bürgertums turmhoch überlegen. In England kann sich der Aufstieg der Arbeiterklasse geräuschlos,

unmerkbar, ohne Erschütterung vollziehen.

Der Wahlkampf des deutschen Bürgertums steht im Zeichen der Demagogen und Dilettanten. Die Deutschvölkische Freiheitspartei , diese groteske Mischung von blutigstem Dilettantismus, primitiver Barbarei und albernem Größenwahn, wäre sie in England auch nur denkbar? Das deutsche Bürgertum spaltet und zersplittert sich zwei Wochen vor den Wahlen in Dugende von Parteien. Mandatsjägerei, fleinlichster Gruppenegoismus, politische Kurzsichtigkeit äußern sich um die Bette in dem mangelnden politischen Gestaltungs­vermögen, in dem Fehlen st a atsbildender Kraft im deutschen Bürgertum.

Die deutsche Sozialdemokratie rettete das Reich, rettete den Staat im Augenblick der höchsten Gefahr. Sie sprang in die Bresche, als die alten Gewalten feige das Land verließen und das Bürgertum vor dem Trümmerhaufen stand, den die Unfähigkeit der wilhelminifchen Gewalthaber und die politische Abstinenz der deutschen Bourgeoisie hinterlaffen hatte. Wie tritt das englische Bürgertum der ersten eng­lischen Arbeiterregierung entgegen und wie glaubte das deutsche Bürgertum der eigenen Arbeiterschaft danken zu sollen, die Existenz und Zukunft der Heimat in größter Gefahr rettete! Was anderes tat die deutsche Sozialdemokratie, als immer wieder in die Bresche springen, wenn bürgerliche Bar feien zu feige maren, Berantwortung zu tragen! Selbst die Parteien, die in Deutschland genau wissen, daß teine andere Politik, als die der Sozialdemokratie außenpolitisch möglich ist, haben sie den Mut, im Wahlkampf das offen zu bekennen? Man braucht nur an Stresemann in Hannover zu denken und die Frage ist beantwortet. Die Ideen und Ideal Tofigkeit des Bürgertums, die Stresemann im Reichstag einmal für die Borkriegszeit betlagt hat, sie ist heute in Deutschland sicher taum geringer geworden. Luden

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Danach hat General Ludendorff am 1. Oktober d. J. unsere militärische Lage für verzweifelt gehalten und sofortiges Waffen­siillstandsangebot gefordert. Acht Tage darauf geftand er, sich in der Bewertung der Kriegslage geirrt zu haben. Einen folgenschwereren Irrtum hat es nie gegeben. Er hat ein ganzes Bolt dem Unglück und der Schande überliefert." Die Boft"( deutichnational) am 18. November 1918. Aus dem republikanischen Wikblatt Cachen lints".

dorff beherrscht das Feld und Helfferich, der Vater der Inflation, darf es wagen, den demagogischen Kampf in schwer­fter Not gegen die eigene Regierung zu führen. lohnt! Das deutsche Bürgertum wird noch vieles lernen Wirklich, der Bergleich zwischen England und Deutschland müssen, ehe es diesen Vergleich bestehen kann!

Die Wahlvorschläge für Berlin .

Eine Anzahl ein,

Der Wahlausschuß für den Reichstagswahlkreis 2( Berlin ) nahm gestern die Prüfung und Feſtſetzung der für die Reichstagswahlen eingegangenen Wahlvorschläge für Berlin vor. gereichter Borschläge verfiel der Ablehnung. Zugelaffen wurden folgende 17 Wahlvorschläge: 1. Bereinigte Sozialdemokraten. 2. De mofraten. 3. Kommunisten. 4. Wirtschaftspartei. 5. Deutschsoziale. 6. Häußer- Bund. 7. Zentrum. 8. Böltische Freiheitspartei. 9. So­zialistischer Bund( Bedebour- Gruppe). 10. Deutsche Boltspartei. 11. Bolnische Bolkspartei. 12. Unabhängige Sozialdemokraten. 16. Deutsche Arbeitnehmerpartei. 17. Deutschnationale Bolkspartei. 13. Republikaner . 14. Rationale Freiheitspartei . 15. Bodenreformer. 18. Nationalliberale Vereinigung.

dem Stimmzettel lints oben an erster Stelle. Die Bereinigte Sozialdemokratie steht also auf

Sozialdemokratische Reichswahlliste.

Eine aus Mitgliedern des Parteiausschusses und Mitgliedern des Parteivorstandes zufammengefeßte Kommission war vom Bartei­ausschuß bestimmt worden, die Kandidaten für die Reichslifte auf­zustellen.

Die Liste enthält folgende Namen:

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1. Herm. Müller, 2. Wels, 3. Crispien, 4. Dr. Hilfer. ding, 5. Marie Juchacz , 6. Dr. Her 3, 7. Georg Schmidt ( Lanbarb.- Verb.), 8. Dittmann, 9. Rechtsanwalt Saenger. München , 10. Steintopf( Beamten Berbände), 11. Johanna Reiße, 12 Stampfer, 13. Dr. A. Braun, 14. Konrad Lud­mig, 15. Goffmann, 16. Heinr. Schul 3, 17. Scheffer( Eisen­bahner- Berband), 18. Prof. Grotjahn, 19. Luise Schröder , 20. Roßmann( Reichsbund der Kriegsbeschädigten), 21. Dr. med.

Mofes, 22. Jädel( Tertilarbeiter- Berband), 23. 5üttmann, 24. Stüdlen, 25. Dr. Lohmann, 26. Adele Schreiber . Krieger, 27. Müntner( Berband d. Gemeinde- u. Staatsarbeiter).

die vielfach mit guter Begründung die Empfehlung für die

Es lagen von 52 Rorporationen usw. Borschläge dafür vor,

vorgeschlagenen Kandidaten enthielten, daß sie auf Spezialgebieten besondere Sach- und Fachkenntnisse besäßen. Die Kommission mußte jedoch bei der Auswahl der Kandidaten darauf bedacht sein, daß gerade unter Berücksichtigung dieser Begründung vorerst Genossen auf die Liste kamen, die die Fraftion infolge ihrer besonderen finanztechnischen, steuerpolitischen, juristischen usw. Kenntniffe nicht

entbehren fann. Somit fonnten viele sonst sehr afzeptable Bor. fchläge beim besten Willen nicht berücksichtigt werden.

Die fünfte Woche des Wahlkampfes. Die Problemftellung.

Deutschlands stehen in engster Wechselwirkung. Auf der einen Seite hat die gewiffenlose Agitation der Völkischen und der Deutsch­ nationalen drohende Gefahren für Deutschland heraufbeschworen. Auf der anderen Seite zwingt die Entwicklung der Reparationsfrage zu realpolitischen Entschlüssen. Die fleinen Splitterparteien von den Dimensionen größerer Vergnügungsvereine mögen immerhin im feichten Wasser gewöhnlicher Bahldemagogie dahinplätschern- vor den großen Parteien steht die Frage der Berantwortung, der 3wang, nicht nur die Wahl selbst, sondern auch die nächsten Schritte praktischer Politik nach der Wahl ins Auge zu faffen. Indem die Parteien Stellung genommen haben zu der durch das Gutachten der Sachverständigen und die Entschließung der Reparationskom­mission geschaffenen Situation, haben fie flarer und fchiedener ihren politischen Willen offenbart, als es durch Wahl­programme und Wahlreden geschehen fann. Da zeigt fid), daß in der Stellungnahme zu den außenpolitischen Problemen die Kon ftellation dieselbe geblieben ist. Die übermächtige Einwirkung ber äußeren Bolitit bestimmt die parteipolitische Konstellation im Innern.

Der Berlauf des Wahlkampfes und die außenpolitische Lage

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