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Immanuel Kant . Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 22. April. Von Dr. Ernst Sil brecht. Daß Kant ein großer Philosoph war und den kategorischen Imperativcrsand", das weiß ungefähr jeder von ihm. Aber worin jene Größe bestand und warum er noch" heute im Mittelpunkt des philosophischen Interesses steht, das ist den wenigsten klar. Und es ist auch nicht leicht, es allgemein verständlich und dem nicht fach- mäßig geschulten Laien zugänglich zu machen. Denn schon forma! sind gerade seine wichtigsten und epochemachendsten Werke, vor ollem dieKritik der reinen Vernunft " und dieK r'i t i t d e r Urteilskraft" in einer so abstrusen, mühsam um den Ausdruck ringenden Sprache geschrieben, daß sie den Fachmann oft zur Der- Zweiflung bringen, dem Neuling aber vollends ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Und auch sachlich klingt manches wunderich und paradox genug, ja, vieles mutet dem neuen Bewußtsein scheinbar unerfüllbare Opfer des Intellekts zu: so vor allem, wenn Kant lehrt. daß wir es sind, die der Natur ihre Gesetze vorschreiben, ja, durch unsere Anschauung?- und Erkenntn'.sformen eine Natur überhaupt erst Möglich machen. Und doch liegt gerade in dieser Lehre, die man nach Kants eigenem Vorgang alskriti schon" odertranszendentalen" Jdealis» mus zu bezeichnen pflegt, der Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Leistung und eine Entdeckung von epochemachender Tragweite, die er selbst wiederholt als sein« Kopernikus-Tat bezeichnet hat. Ko- pernikus hat die Erde aus den, Mittelpunkt der Welt hinausgerückt und damit die Weltbetrachtung sozusagen auf den Kopf gestellt. Fast noch radikaler wenn auch sachlich gerade in umgekehrter Rich- tung ist die Revolution, di« Kant mit unserem Verhältnis zur Welt oornahni. Allerdings knüpft er dabei, teils bewußt, teils unbewußt, an die bahnbrechenden erkenntnistheoretischen Arbeiten der Engländer an. Daß bei allen unseren Wahrnehmungen, die uns die Kenntnis der Außenwelt vermitteln, die Besonderheiten der unmittelbaren Sinneseindrücke tFarben, Töne, Düfte, Druckempfindungen usw.) wesentlich durch die Beschaffenheit unserer Sinnesorgane mitbe- stimmt und insofern subjektiv seien, halte schon Locke in seinem Versuch über d«n menschlichen Verstand" und ihm folgend B e r k e» l e y und ch u m e gezeigt. lind nach den Ergebnissen der Sinnes- Physiologie ist an der Richtigkeit dieser Lehr« nicht wohl zu zweifeln: Der gleiche elektrische©rrcrn wird vom Auge als Lichtstrahl, von den chautorganen als Stechen oder Prickeln, von der Zunge als säuerlicher Geschmack empfunden. Zlber Kant ging weit über Locke hinaus, indem er alle unsere Erfahrungserkenntnis aus einem Zusammenwirken unserer Verstandesfunktionen mit den Eindrücken der Außenwelt ableitete, wobei dos Schwergewicht durchaus auf den subjektiven Faktor fällt. Die Sinn« geben uns nach ihm nur den rohen Stoff, dos chaotische Materiol, das erst durch die in uns liegenden Anfchauunzssormsn und geistigen Funktionen zu objektiv güläzen Erfahrungen geformt wird Diese Formen und Funk- tionen, die jedem menschlichen Individuum angeboren oder, wie Kaitt es nennt,apriorisch" sind,'bilden gleichsam das u-nentrinn- bare Netzwert, in das wir den Stoff der einzelnen Sinneseindrück« einfangen, um sie zu gesetzlich geordneter Erfahrung zu gestatten. Sie stammen nicht a u s der Erfahrung, sollen aber nach Kant doch nur für die Erfahrung gelten, der sie, eben wegen ihrer gattungs- mäßigen Allgemeingültigkeit, ihren objektiven Charakter verleihen. Solche subjeknoen Formen und Gesetze der sinnlichen Wirklichkeit sind vor allem Raum und Zeit, mit deren gesetzmäßigen Be- ziehungen sich die Mathematik beschäftigt, und die von Kant so genannten reinen Berstandesbegrifje oder Kategorien, vor allem Kausalität und Substanzialtät, die letzten Elemente der Natur- Wissenschaft. Auf solch-« Weise kommt di« gesetzlich geordnet« E r- scheinungswelt zustande, mit der es olle echt« Wissenschaft allein zu tun hat. Ihr Ideal ist für Kant di« mathematische Natur- wisjenschaft(theoretische Physik, Astronomie). Don der Beschaffen- heit der Ding« an sich, dem Reich jenseits der Erscheinungen,

können wir nichts wissen. Und noch weniger von den jenseits aller Erfahrung gelegenenVernunstideen" oder Glaubenssätzen, die jahrhundertelang das Ziel und den Gegenstand einer einflußreichen Scheinwissenschast. der Metaphysik, gebildet haben. Kant, der sich in seiner vorkrittschen Periode selbst eiftig um diese Wissenschast bemüht hatte, für die er eine nie verleugnete Vorliebe behielt, zeigt doch ihre völlige Aussichtslosigkeit und Unmöglichkeit. Scharfsinnig beweist er sie im einzelnen an den Trugschlüssen der Psychologie, di« über«ine immateriell« Seele etwas aussogen will, von der wir doch nichts wissen können, und an den falschen Schlüssen der Theo- logie, die das Dasein Gottes beweisen will, was unmöglich ist. Und doch seltsamer psychologischer Widerspruch hing Kant persönlich(wohl auf Grund pietistischer Iug endeindrücke) so fest an diesen Ideen einer übersinnlichen Welt, daß«r all feinen

Kant unö Raffke

Ihren Werken verdient? Sani: Die Unsterblichkeit. Raffke: Wak id mir dafor koofe! Zlooben Se. ick bin«ich unsterblich?

Scharfsinn aufbot, um sie wenigstens als Glaubenssätze, als Postulat«(Forderumgen) unserer sittlichen Natur zu retten. Was die theorettsche Vernunft nicht beweisen und erkennen kann, dos soll die praktische glauben.Ich mußte das Wissen ausheben," sagt Kant cm einer berühmten Stelle det 2 Auslage seinerKritik der reinen Vernunft ",um Platz für den Glauben zu gewinnen." Kant hat aus seiner Ethik, denEudämonismus", das Streben des Einzelnen nach Glückseligkeit, schroff hinausgewiesen: aber das höchste Ideal des sittlichen Handelns bleibt doch auch ihm die Ver- «inigung von höchster Tugend und Glückseligkeit des Einzelnen. Da wir aber in dieser sinnlichen Welt niemals vollkommen gut werden. so bedarf cs eines unendlichen Fortschreitens und Forllebens, der Unsterblichkeit der Seele: und zur Ausgleichung zwischen sittlichem Verhalten und persönlichem Wohlergehen bedarf es eines Gottes, der Herr ist über den Naturlauf und diesen dem sittlichen Verhalten des Menschen entsprechend gestaltet, also selbst ein moralisches Wesen

sein muh. Das alles läßt sich freilich nicht beweisen, sondern nur glauben: es sind Posta i ne eines reinen moralischen Vernunft- glaubens. Der Mensch ist ein Bürger zweier Welten: der Vernunftwelt und der Smnenwelt. Die Vernunftwelt zu erkennen, ist seinen blinden Moulwurssaugen unmöglich. Aber von ihrem Dasein gibt es einen vernehmlich und unmißverständlich redenden Zeugen in ihm selbst: die Stimme des Gewissens, das Sitbsngesetz. Und diese Stimme kündet nach Kant läuterst« Wahrheit und weist uns zugleich auf unseren ewigen Weltberuf. Nicht Erkennen, sondern Handeln i st unsere wahre Bestimmung: alle unsere Er­kenntnis ist unvollkommen und hohl. Im Gutsem allein, in der Reinheit des Willens und der Gesinnung liegt aller Wert und alle Wahrheit: in der Pflichterfüllung des Menschen höchst« Bewährung. Wie s«hr Kant in seinem persönlichen Leben von diesem Pflicht- gedanken erfüllt war, ist bekannt: er zeigt sich auch in jenem sonst bei ihm ungewöhnlichen Pathos, mit dem er ihn neben die Er- habenheit des Sternenhimmels stellt.Der gestirnte Him> m el über mir und das moralische Gesetz in mir" mit Recht hat man diese Worte als Denkfpruch auf das Grabmal des Mannes gesetzt. Neues vom greisen Kant. Von Dr. Ludwig G o l d ste i n. Auf der Staats- und Universitätsbibliothek in Königsberg be- siedet sich ein alles unscheinbares Bändchen, das Handexemplar von Wafianfkis BuchKant in feinen, letzten Lebensjahren". Der Diakonus Wasianfki in Königsberg hat mit dein alten Kant in ver- trautester Gemeinschaft gelebt, und seine Aufzeichnungen gelten als die zuverlässigst!: Quelle über Kants Greisenzeit. In dieses ganz mit weißem Papier durchschossene Handbuch hat nun der Verfasser neben den gedruckten Text eine Reihe von Anmerkungen geschrieben, die nicht für das Publikum seiner Zeit bestimmt und nicht gerade wichtig waren, für die Vervollständigung des Kantischen Lebensbildes ober doch von Reiz und Interesse sind. Mancherlei Hübsches erfahren wir hier über den Freundes- kreis des Philosophen, von dessen persönlicher Liebenswürdigkeit Wasianfki nicht genug Rühmens machen kann. Er liebt«, wie man weiß, ein« kleine gesprächige Tafelrunde, zu der er die Einladungen erst an demselben Tage ergehen ließ, damit niemand um seinetwillen eine andere Einladung ausschlüge. Mit den Gegenständen der Unter- hallung in seinen Tischzesprächen ging er haushöltensch um und sah gcrne einen nach dem andern durchgesprochen jedoch in steter Ver­bindung miteinander.Er pflegte zu jagen, man müsse vom Kalbs- braten anfangen und vom Kometen den Diskurs ohne Unterbrechung des Gegenstandes endigen können." Gegen Besuchs zu unerwarteter Stund« war er empfindlich,weil er seine Zeit stets richtig einteilte und abmaß und in seinen Absichten nicht gestört sein wollte". Sein« Gesundheit war mehr als die bloße Abwesenheit von Schmerzen: er empfand sie als«inen bewußten Genuß und pflegte darüber zu sagen: er habe noch keinen faulen Flecken wie r.n ge­fallener Apfel. In seinen frühesten akademischen Iahren Hatto er einmal ein kaltes Fieber gehabt, das er sich durch einen Spaziergang zum Friedländer Tor vertrieben hatte. Auf seiner Heimrehr, so er- zählt der Biograph in einer Randbemerkung,kam er fast ver- schmachtet ans Friedländifche Tor, setzte sich auf die Bank bei der Akzise und bat eine Frau um ein Glas Wasser. El' vergoß in den spätesten Iahren seines Lebens diese Gefälligkeit nicht und hielt dieses Glos Wasser fütt das größte Labsal, das er jemals genossen hotte". In den späteren Jahren erlitt er einmal«ine Kopsverletzung durch einen Stoß an der' Türe. Indem er mich," schreibt Wasianjki,da ich weggegangen war. zurückrufen wollte, verfehlte er die Richtung mit dem Kopf« und stieß sich beinahe tödlich, so daß er zurückprallte und sinnlos zur Erde fiel." Es war das einzige Mal, daß Kant ernst- lich trank war. Er war ja auch so vorsichtig auf die Erhaltung seiner Gesundheit bedacht: Täglich zweimal, um 5 Uhr morgens unmittelbar nach dem Aufftehen und um 11 Uhr vormittags nahm er Waschungen und ein« Mundreinigung vor. In seinem Zimmer herrschte eine ziemlich hohe Temperatur, und zur Sicherheit trug er stets zwei Schlosröck« üb-sreinander. Aber trotz oller Vorsicht niacht« sich all- mählich das hohe Alter geltend.Seit einigen Iahren zog er sich gleichsam hinter der Kulisse zmück," gewöhnte sich daran, seinem Gedächtnis fortwährend durch Notizen zu Hilf« zu kommen, machte aus seiner Vergeßlichkeit kein Geheimnis undfühlte nur zu lebhaft, daß er nicht mehr sei, was er war". Damals nahm dem Greise fast

Der Häftling. Aus einem unverüfsenlli6)ten Roman:Die Rebellion". Von Joseph Roth . An seine Zell « gewöhnte sich Andreas sehr schnell: an ihre saure Feuchtigkeit, ihr« durchdringende Kälte und an das schraffierte Grau, das ihr Tageslicht war. Ja, er leinte die Phasen der Dunkelheit unterscheiden, welche den Morgen, den Abend, die Rocht und die nebelhaften Stunden der Dämmeruiig kennzeichneten. Er wuchs in die Finsternis der Nächte hinein, sein Auge durchbohrt« ihre Undurch- dringlichkeit, daß sie durchsichiig wurde, wie dunkelgefärbtes Glas am Mittag. Er entlockte den wenigen Gegenständen, unter denen er lebte, ihr eigenes Licht, so daß er si« in der Nacht bettach�n konnte und sie ihm selbst ihre Konturen darboten. Er lernt« die Stimm« der Finsternis kennen und den Gesang der lautlosen Dinge, deren Stumm. hcit zu klingen beginnt, wenn die polternden Tage vergehen. Das Geräusch einer kle:ternden Mauerassel konnte er«ernehmen, sobald sie die glatte Wandfiäche verließ und eine Stelle erreichte, di« den Mörtel verloren hatte und in ihrer riesigen Ziegelnacktheit lag. Di« kümmerlichen Aeußerungen der großen Stadt, die bis zum Gesang- nis drangen, erkannte er, jede in ihrer Art und einer jeden Herkunft und Abstammung. An den feinsten Unterschieden ihrer Laute er- kannte er Wesen und Gestalt und Ausmaß der Ding«. Er wußte, ob ein vornehmer Privatwagen draußen vorbeisauste oder nur eine gutgebaute Droschke; er kannte den Unterschied zwischen dem starten Trab des Rosfes, das«in leichtes Wägelchen auf stummen Gummi- rädern führte, und jenem, das auf seinem Rücken den Herrenretter trug. Er erkannte den schleppenden Schritt des alten Mannes und den schlendernden des jungen Nalurliebhabers; das flotte Getrippel des hurtigen Mäkchens und den zielbewußten Tritt der geschäftigen Mutter. Er tonnte mit dem Ohr einen Spaziergänger von einem Wanderer unterjchelden: den Zartzebauten von dem Bierschröijgen: den Kräftigen von dem Schwachen. Er bekam die zauberhasten Gaben eines Blinden . Sein Ohr wurde sehend. An den ersten Tagen feiner Haft versuchte er noch, durch das höh« Gitter hinauszusehen. Er schob die Holzbank zum Fenster und ließ nicht nacd, bis er mtt feinen beiden Händen den unteren Rand der Mauerbuchtung gefaßt hatte, in der das Gitter faß. Ach er war nur einbeinig, die stumpf« Krück« fand an der glatten Mauer nicht einmal den kümmerlichen Halt, den sein gesunder Fuß noch mühevoll ertastete, und er hing sekundenlang mit seinem ganzen Gewicht an den trompf- durchzuckten letzten Gliedern seiner Finger. So schwebte er in der Lust und zwischen dem Derlangen, einen kargen Ausschnitt der Welt zu sehen und der Furcht, hinunterzufallen und den Tod zu finden. Nie haue«r größer« Gefahr gekannt. Denn njemoi« auch m Felde nicht hatte er pz du Kostbortest de« Lebeas emp.

funden, dieses kleinen Lebensrestes, den ihm die Zell « gewährte. Ihr entriß er mit List und mtt taufend Mühen den kurzen Ausblick in die Well durch das schmutzig« Glas hinter den engen Quadraten und kehrt« dennoch erstifcht und bereichert in das ewige Dunkelgrau hinunter, als hätte er alle Schönheiten der Erde genossen. Diese kleinen Ausflüge, die fein Auge unternahm, versöhnten ihn immer wieder mit der Unerbittlichkell seines Kerkers; bewiesen sie ihm doch, daß nicht einmal di« Zelle, die ihn abschloß, außerhalb der Welt war und daß auch«r noch dem Leben gehörte. Er war ein Krüppel und nicht unbeschränkter Herr über die Erde, wie ein zweibeiniger Mensch. Er konnte nicht lauttos gehen, nicht hüpfen, nicht laufen. Aber er durfte wenigstens hinken und mit einer Sohle die Erde betreten später, sechs Wochen später, kurze sechs Wochen später. Manchmal hofft« er, die klein« Katze wiederzufehen, die er beim Eintritt in die Anstalt getroffen Aber fem Auge erreicht« gerade noch den Saum des dunklen Föhrenwotdes in der Fern« und einen schmalen.Streifen des Himmels: manchmal ein geflügeltes Tier; ein« hurtige Wolke; einmal sogar die schmalen Tragflächen eines Aeroplans, dessen Geräusch er immer hört« denn ein Flugplatz befand sich in der Nähe. Er aber sehnte sich nach der jungen Katze. Sie hatte er in dem letzten Augenblick feiner Freiheit gesehen. In der Nacht hörte fein geschärftes Ohr«in liebliches kleines Läuten. Cr bildet« sich ein, es käme von der Schell«, die um den Hals des Tieres gehängt war. Bald aber vergaß er es. Er kroch nicht mehr die Wand hinauf. Traulich erschien ihm die Zelle. Taufend Bilder erblühten aus seiner Einsamkeit. Tausend Stimmen erfüllten sie. Er sah ein Schwein, dos mit dem Rüffel in die Fuge zwischen Tür und Wand des Stalles geraten war und sich nicht wieder befreien konnte. Er kann:« dieses Bild Als Knabe, bei feinem Onkel, der ein Steuer- einnehmer auf dem Land« war und«inen Hof befaß, hatte er es gesehen. Er sah ein Schwalbennest im Klosett: einen Papagei an einer Kette, der nach seinem Finger schnappt«: den Kompaß und den stlbergefaßten Zahn an der Uhrkette des Vaters: die Geburt eines Schmetterlings aus her gebrechlichen Hülle der Puppe in einer grasgefütterten Streichholzschachtel: getrocknete Anemonen in einem .Herbarium; ein goldgerändertes Gesangbuch und den ersten Schlips aus roter Seid«. Andreas hotte viel zu tun. Er mußt« die Bilder einordnen. Wie ein Kind an den Sprossen einer Leiter, so vettert« der neu- geborene Andreas an diesen kleinen Erinnerungen zaghast empor. Es schien ihm, als müßte er noch lang« vettern, um zu sich selbst zu gelangen. Er entdeckte sich selbst. Er schloß die Augen und freute sich. Wenn er sie öfsnete. holte er ein neues Stück entdeckt, eine Beziehung, einen Klang, einen Tag und ein Bild. Ihm war. als begönne er zu lernen und Geheimnisse täten sich vor ihm auf. So halt« er also fünfundviorzig Jahre in Blindheit gelebt, ohne sich jeidst und du Weit zu tetrnu,

Dos Leben mußte anders sein, als er es gesehen. Eine Frau, die ihn liebt«, verriet ihn in der Not. Hätte er sie gekannt, niemals wäre es ihm zugestoßen. Was aber hatte er von ihr gekannt? Nur die Hüften, den Busen, ihr Fleisch, ihr breites Gesicht und den schwülen Hauch, den sie ausströmte. Woran hatte er geglaubt? An Gott, an di« Gerechtigkeit, an die Regierung. Im Kriege verlor er sein Bein. Cr bekam ein« Auszeichnung. Nicht einmal eine Prothese verschassten sie ihm. Jahrelang trug er dos Kreuz mit Stolz. Seme Lizenz, die Kurbel eines Ltterkastens in den Höfen zu drehen, schien ihm höchste Belohnung. Aber di« Welt erwies sich eines Tages nicht so einfach, wie er sie in seiner frommen Einfalt gesehen hatte. Die Regierung war nicht gerecht. Sie verfolgte nicht nur die Raubmörder, die Taschendiebe, die Heiden. Offenbar geschah es, daß sie sogar einen Raubmörder auszeichnete, da sie doch Andreas, dm Frommen, ins Gefängnis schloß, obwohl er sie ver- ehrt«. So ähnlich handelte Gott : er irrte sich. War Gott noch Gott, wenn er sich irrt«? Was blieb überhaupt noch es selbst? Dos Boterland? Wem gehörte es? Demjenigen, der die Kurbel des Leierkastens drehte? Oder Willi, der die Würste stahl? Oder dem Krämer, dem sie gehörten? Dem Richter im Talar? Dem Aus- jeher, der die Gefangenen spazieren führte? Jeden Morgen gingen die Insassen dieses 5)aiis«s im Hof spazieren. Der Hof dicht gepflastert, von kleinen Ziegelsteinchen war der Boden bedeckt, und man sah kein Stückchen Staub, kein Stück- chen Erde. Als ein großes Ereignis galt eine Henne, die oft im Hof erschien. Hundertvierundfünfzig Sträflinge wallten, einer hinter dem anderen, mit gesenkten Köpfen immer in der Richtung von rechts nach links, immer an den vier Wänden enllang. In der Mitte gingen die weißbraun gesprenkelte Henne und der Aufseher, der ein Rohrstäbchen in der Hand schwang und«inen Revolver an der Hüfte trug. Am linken Aermel trugen die Gefangenen ihre schwarze Nummer. Der Zug begann mit eins und endet« mtt ein- hundertvierundfünfzig. Viermal gingen sie das Quadrat de« Hofes ab. Dann war die Stunde mm Si« sprachen nicht miteinander. Sie sahen sehnsüchtig nach der Henne. Einer lächell« manchmal. Der dreiundsiebzigst« war Andreas Pum. Einmal erblickte er im Hof ein Stückchen Zeitungspapier. Der Aufseher sah gerade in die entgegengesetzte Richtung. Andreas hob es auf und borg es in der Hand. Er war sehr neugierig. Es war, als würde in seiner Zelle ein Mensch erscheinen, um mit ihm zu sprechen. Vielleicht, ja wahrscheinlich enthiell dieses Stückchen Papier eine lustige oder«in« merkwürdige Geschichte. Er zerknüllt« es in der Hand und hiett es zwischen zwei Fingern. So konnte er vorschriftsmäßig die Hände an der Hosennaht halten. Der Weg er- schien ihm lang, die Stunde unendlich, der Hof grausam gewachsen. Endlich ertönte der Pfiff des Aufsehers. Andreas kam in die Zell « und wariete, bis sich feine Augen an die Duntell) gewöhnten. Dann entfaltet««r das Papier, rückte di« Bank zum Fenster und m W.«r ta*

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