Abendausgabe
Nr. 19341. Jahrgang Ausgabe B Nr. 97
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Donnerstag
Vorwärts=
Berliner Dolksblatt
24. April 1924
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Zentralorgan der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
Helfferich tödlich verunglückt.
Mit seiner Mutter im Gotthardtzug verbrannt.
Jansbrud, 24. April. ( TU.) Der deutsche Konjul in Lugano feilt mit, daß auf Grund der gefundenen Ausweispapiere festgestellt werden kann, daß sich der frühere Staatssekretär des Reichsschabambes Dr. Helfferich und feine Mutter unter den Todesopfern des Eisenbahnunglüds von Bellinzona befinden.
med sine
Stellt die Weichen richtig!
Verkehr und Politik.
Das Eisenbahnunglück von Bellinzona beschäftigt alle Welt. Alles beklagt die Opfer und ruft nach Feststellung und Bestrafung der Schuldigen.
Die Aufregung wäre wahrscheinlich nicht so groß, wenn es fich statt um einen Luxuszug um einen Arbeiterzu gehan delt hätte. Aber es ist einmal noch so in der Welt, daß man fich für die Großen mehr intereffiert als für die Kleinen. Das Eisenbahnunglück von Bellinzona ist eben nicht nur ein menschliches, es ist auch ein gesellschaftliches" Ereignis.
Immerhin: wenn sich dreißig lebende Menschen auf einmal in blutige Fehen und verfohlte Klumpen verwandeln, redet man wieder darüber, entsegt man sich wieder darüber, fragt man nach Verantwortung und Schuld, nicht nach Geminn und Berlust, Erfolg oder Niederlage. Kein Hurra der Sieger braust über die verstümmelten Leichen hinweg.
Schließlich wurde helfferich Deutschnationaler. Die Deutschnationalen waren in ihren Anfängen eine Partei der früheren faiserlichen Staatssekretäre, neben Helfferich nahmen auch Posadowski und Delbrüd in ihr Play. Rasch jedoch geriet sie immer mehr in ein ultrareaktionär und demagogisch- nationalistisches Fahrwasser, in dem sich weder BofaDurch den Tod Karl Helfferichs verliert die Deutsch - bowski und Delbrüd, die Männer staatsmännischer Abgenationale Partei die einzige bedeutende geistige Kraft, über mogenheit wohl fühlen konnten. Helfferich aber plätscherte in die fie verfügte. diefem trüben Strom weiter und schwang sich in der Partei Helfferich war am 22. Juni 1872 zu Neustadt a. d. Haardt zu einer führenden Stellung auf. in der Rheinpfalz als Sohn eines Fabrifbesizers geboren. Aus bürgerlich- freisinnigen Kreisen stammend, verkehrte er in der Jugend mit liberalen Führern wie Bamberger , dem er viel Anregung und Förderung verdankte. Mit 22 Jahren so wurde er Dozent an der Berliner Universität, mit 29 schon wurde er Dozent an der Berliner Universität, mit 29 schon Professor der Nationalökonomie. Doch seine sprunghafte und ehrgeizige Natur war für die stille Gelehrtenlaufbahn nicht ehrgeizige Natur war für die stille Gelehrtenlaufbahn nicht geeignet. 1901 geht er in den Staatsdienst über, zunächst als Referent in der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes. Das verschaffte ihm auswärtige Beziehungen, und 1908 sehen wir ihn in der Leitung der Bagdadbahn . Er entwidelte starte geschäftliche Talente, wird 1908 Direktor der Deutschen Bant und bleibt es bis 1915, da wird er im Februar des zweiten Kriegsjahres zum Staatssekretär des Reichsschazzamies berufen, und damit beginnt feine unbe il polle Rolle in der Bolitif. Er war es, der die Finanzpolitit des Krieges ganz auf die Anleihewirtschaft schob und im Gegensatz zu der Klugen englischen Finanzpolitik jede Deckung der Ausgaben durch kräftiges Anziehen der Steuerschraube unterließ. Die kapitalistische Belastung war für den Reichs finanzminister hemmend. Er tröstete sich und den Reichstag damit, daß die Gegner Deutschlands nach dem Sieg schon die Tage hinein. Er und seine Partei haben nichts als Unheil was würde man non einem Eisenbahnbeamten fagen, der
deutschen Schulden und noch mehr bezahlen würden.
Im Mai 1916 wurde helfferich Staatssekretär des Innern und Stellvertreter des Reichskanzlers Bethmann Hollweg , dessen treue Stütze er war und den er gegen die wütenden Angriffe von rechts mit verteidigen half. Bon einer extremnationalistisch- reaktionären Einstellung war damals an ihm noch nicht das Geringfte zu bemerken. Er war vielmehr mit verantwortlicher und Mitträger des der äußersten Rechten so verhaßten„ B- Systems".
Helfferich war wirtschaftlich ein unbedingter Berfechter des Rapitalismus, den er als den Bollbringer der größten Kulturmerte pries. War er auch nicht von Haus aus reaktionär, fo lag ihm doch soziales Empfinden von vornherein fern. Er war reich an Einzelwiffen und von aber abgesehen von der kapitalistischen Einstellung wird man rascher Auffassungsgabe, von sprudelnder Redegewandtheit, vergebens einen großen einheitlichen Zug im Leben dieses Politikers finden. Er war von feiner starken lleber3eugung getragen, und wie er in seiner äußeren Lebensstellung zwischen Dozentur, Bankgeschäft, Staatsdienst, politischer Führerschaft hin und her sprang nach Havensteins Tob wallte er Reichsbankpräsident werden und aller Politik entso hat er im Laufe feiner 52 Lebensjahre die verlagen fo hat er im Laufe feiner 52 Lebensjahre die verfchiedensten politischen Meinungen mit stets gleichhißigem Temperament und unermüdlicher Streitluft vertreten. Er war ihm viel und vor allem eins: das Gewissen. Bo er Einein vielgewandter, pielbegabter Mann, aber zur Größe fehlte ihm fluß zu gewinnen verstand, da wirkte er als der böse Geist der deutschen Finanzpolitit bis in Cuno- Havensteins unfelige angerichtet.
Die Deutschnationale Partei hat mit Helfferich ihre stärkste geistige Kraft verloren. Aber es wäre noch besonders zu unterfuchen, ob diese Kraft ihr wirklich gehörte und wie lange fie ihr noch gehört hätte. Denn es war nicht Helfferichs Art, feine Berfon einer Sache unterzuordnen. Auch die Deutsch nationale Partei wäre für ihn nur eine Station unter vielen gewesen, wenn nicht ein unvorhergesehenes Etwas der Schnell zugsreise dieses Menschenlebens ein plötzliches Ende bereitet hätte! ap
Reichsbankpräsident Schacht nicht verunglückt.
Helfferich blieb auch noch unter Michaelis. Er machte Anstalten, auch noch unter Hertling zu bleiben. Die Freifintnigen erhoben aber in diesem halbparlamentaristischen Kabinett Anspruch auf den Bizefanzler, und so mußte Helfferich schließlich Bayer weichen. Er hat das der Linken nie verziehen.. Aber noch nach der Ermordung des Grafen Mirverziehen.. Aber noch nach der Ermordung des Grafen Mir- ben, daß sich auch Reichsbankpräsident Dr. Schacht unter den bach in Moskau nahm er ein neues Amt im Reichsdienst an, indem er im Sommer 1918 Botschafter in Rußland wurde, wo er jedoch nicht lange blieb.
Brüssel , 24. April. ( Eca.) Troß der neuen Verzögerung, die die weitere Behandlung der Sachverständigenberichte erhalten hat, find die belglichen Regierungstreise gewillt, zu einer Be. fleunigung der weiteren Berhandlungen nach Möglichkeit beizutragen. Jedenfalls beschäftigte fich ein belgischer kabinettsrat gestern mit der Frage des SachverStändigengutachtens und beschloß, fich endgültig auf den Boden der Sachverständigengutachten zu stellen und eine entsprechende Miffeilung unverzüglich der Reparationstommiffion zugehen zu laffen. Die Möglichkeit einer Zusammenkunft der belgischen Minister Theunis und Hymans mit Poincaré gewinnt erneut greifbare Formen. Die Rede Macdonalds, die Rede des Präsidenten Coolidge und vor allen Dingen gewiffe Besprechungen, die der belgische Botschafter in London , Baron Moncheur , in den letzten Tagen in Brüffel mit Hymans hatte, haben eine starke Wirkung in Brüffel ausgelöft und bei den belgischen Miniſtern den Wunsch erweckt, zwed's Beschleunigung der Verhandlungen mit Poin caré
mündlich zu verhandeln.
Paris , 24. April. ( WIB.) Wie der Brüffeler Berichterstatter des„ Echo de Paris" meldet, bereitet die belgische Regierung die Antwort auf die Entscheidung der Reparationsfommission vor. Ueber den Inhalt der Antwort fel noch nichts befannt. Das Brüffeler kabinett habe plötzlich den Wunsch geäußert, unverzüglich mit Poincaré zu verhandeln. Der Berichterstatter des Blafles glaubt, daß die belgischen Minister Theunis und Hymans bei Poincaré zum Ausdruck bringen werden, daß man die gebotene Gelegenheit, die deutsche Anleihe in Amerika zum Gefingen zu führen, bei den Haaren ergreifen müffe. England und Amerika müßten zu diefem 3wed gewonnen werden.
Condon, 24. April. ( WIB.) Der Brüffeler Berichterstatter der Times" erfährt von gut unterrichteter Seite, die belgische Regierung fiehe vollkommen zu den Schläffen der Sachverständigen. Es gebe jedoch gewiffe Punkte, wie der Projenifah der Berteilung der deutschen Zahlungen, die Bedingungen für die Räumung des Ruhrgebietes, inferalliierte Schulden usw., über die en me nungsaustausch zwischen Frankreich und Belgien für nöfig erachtet werde. Was die Ruhr betreffe, jo jei man in Brüffel der Ansicht, daß die Befehung beendet werden müffe, aber unter der Bedingung, daß gewiffe eru fte Garanfien vereinbart werden. Die Hauptfache fet, daß eine
In einzelnen Blättern war die Vermutung ausgesprochen worBerunglückten bei der Eisenbahnfatastrophe in Bellinzona befand. Die Vermutung ist falsch. Reichsbantpräsident Dr. Schacht befindet fich in Berlin .
iphähre des Vertrauens geschaffen werde, damit die Frage der deutschen auswärtigen Anleihe, die bei der Löfung des Reparafionsproblems mithelfen solle, gesichert werde.
wenn Europa sich selbst hilft! Condon, 24. April. ( WTB.)„ Times" schreibt in einem Leit. artifel zu der Rebe des amerikanischen Präsidenten, die große und einfiußreiche Unterstübung der Bereinigten Staaten fet jetzt für den von den Sachverständigen niedergelegten Blan ge fichert. Der Washingtoner Berichterstatter der Times" schreibt, es dürfe feinesfalls mit der Wahrscheinlichkeit irgendeiner unmittel baren Aftion gerechnet werden, der Präsident habe mohlweislich von der foliden Regelung der Reparationsfrage gesprochen, die der Einberufung einer Konferenz vorangehen müsse. Daraus, sei der Schluß zu ziehen, daß man für den Augenblid feine Aufmerksamkeit cher der Anwendung des Dawes- Berichtes, als dem, was daraus folgen fönne, zuwenden müsse. Coolidge habe die Zeit als reif für ein Wort der Ermutigung Europas angesehen, aber ießten Endes habe er gefagt, was bereits fo oft in den letzten drei Jahren gesagt worden sei, daß die Bereinigten Staaten Europa nur helfen tönnten, wenn Europa fich felbft helfe. Coolidge habe den sehr wichtigen Schritt getan, die Schlüsse der Sachverständigen zu loben und den Plan einer internationalen Ankihe zu unterstützen.
Geldknappheit an der Börse.
Bei Beginn der heutigen Börse gewann man den Einbrud, als ob fich eine leichte Erholung anbahne. Am Petroleummartte wurde das herauskommende material glatt von den interessierten Großbanten aufgenommen und auch am Anleihomartte bemerkte man Stügungsfäufe der zuständigen Institute. Im weiteren Berlaufe der Börje fonnte jedoch diese feste Tendenz nicht anhalten. Die Gelb frage und die Gorge vor weiteren 8ahlungsschwierig teiten der an der Frantspekulation und am Metallmarkte intereffierten Kreise stehen noch zu sehr im Vordergrund, als daß von einer durchgreifenden Erholung die Rede sein könnte.
Am Geldmarfte spiste fich die Bage heute bedenklich zu. Man forderte segar für tägliches Geld 1½ bis 2 pro Mille, Renfenmarkkredite sind fast gar nicht zu bekommen. Eine gewisse Beruhi gung schuf allerdings die schwache Tendenz des franzöfitme- fchen Frant. Man handelte London mit 67 bis 68 Frant.
Es besteht allgemeines Einverständnis über die Notwendigkeit, das Berkehrswejen so zu gestalten, daß Berluste von Menschenleben vermieden werden. Aber gilt dieses Gebot nicht auch für das Gebiet der Politik?
Fasche: Weichenstellung auf der Eisenbahn kostet Dußende Den Menschenleben. Falsche Weichenstellung in der Politit toftet hunderttausende und Millionen von Menschenleben!
Sinnlose Bergeudung von Menschenblut bildet den Inhalt der Geschichte von Anbeginn bis in die neueste Zeit. Stets find die Mächtigen und Einflußreichsten der Erde mit fremben Menschenleben verschwenderisch umgegangen. Und stets war die babei blutete, während die Anstifter zu Ruhm und es die Maffe der Namenlosen, der Armen, der Unterdrückten, Reichtum emporitiegen und selbst in ihrem Sturz meist sich meicher fielen, als sie es verdienten.
Zusammenstöße tünstlich arrangiert? Aber Politifer, die es aus Leichtsinn und Gewiffenlosigkeit darauf ankommen laffen, daß bewaffnete Menschenhaufen sich in leidenschaftlicher But aufeinanderstürzen und daß unzählige Opfer fallen, werden als Helden gefeiert, und eine gedankenlose Herde läuft ihnen hurraschreiend nach.
Ein Bürgerkrieg foftet tausendmal, ein Völker. frieg hunderttausendmal mehr Opfer als das schlimmste Eisenbahnunglüd. Und doch gibt es unzählige Menschen, die nach dem Bürgerkrieg oder nach dem Bölferkrieg oder momöglich nach ihnen beiden brüllen, als erblühte aus ihnen für die gefchundene Menschheit das größte Glüd.
Dieser Schrei nach blutiger Gewalt entspringt oft der. 3enlosen unverstand. Jede Politik, die ihren Namen Berzweiflung, gewiß, aber ebenso sicher auch einem grenverdient, muß von dem Grundfah ausgehen, daß Menschenleben gefchont, vermeidbare Opfer vermieden werden. Unvermeidlich find die Rämpfe der gegeneinander stehenden. Intereffen. Aber sie mit zivilisierten Mitteln zu führen und Blut zu sparen, sollte das Streben aller sein, in welchem Lager fie auch immer stehen, wenn sie den Anspruch. darauf erheben, wahre Menschen zu sein.
Die Sozialdemokratie hat von ihrer Entstehung an den Kampf gegen Unrecht und Ausbeutung geführt. Aber auch in ihrer stürmischsten Jugend hat sie nie den Respekt vor Menfchenleben verleugnet, Ihr leidenschaftlichster Füh rer August Bebel war zugleich ihr vorsichtigster, feiner würde mit größerer Entrüstung den Gedanken zurückgewiesen haben, für irgendwelche unflaren und ungewiffen Experimente Menschenleben auf das Spiel zu setzen.
Was für die innere Politik gilt, gilt auch für die äußere. Die Streitigkeiten der Bölfer zu schlichten, ohne daß immer wieder Millionen getötet und die ganze menschliche Kultur auf Jahrzehnte zurückgeworfen wird, ist das Streben der Sozialistischen Arbeiterinternationale. Daß fie die Katastrophe von 1914 nicht verhindern konnte, wer nicht ihre Schuld, denn in feinem Land der Welt hatte sie entfcheidenden Einfluß. Hätte damals Bebel in Berlin , Jaurès in Paris , Adler in Bien, Macdonald wie jetzt in London regiert, wer glaubt, daß es dann über den Fürstenmord von Serajewo zu einem allgemeinen Menschenschlachten ohne Ende gekommen wäre?
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Was die Sozialdemokratie lehrt, ist nicht Unterwerfung unter widerrechtliche Gewalt, nicht Berzicht auf Selbfiverteidigung, auch nicht grundsäßlicher Berzicht darauf, einem Gegner mit den Mitteln, die er selbst anwendet, zu bekämpfen. Was die Sozialdemokratie lehrt, das ist, in der Wahl der Rampfmittel ein Höchstmaß von zweckmäßigkeit mit einem Höchstmaß von Menschlichkeit verbinden.
In vollem Widerspruch dazu steht, was die äußerste Rechte und die äußerste Linte lehrt und treibt. Wir sind nicht der Meinung, daß die Anwendung von brutaler Gewalt durch den Erfolg gerechtfertigt wird. Aber sicher wird fie durch den Mißerfolg verurteilt. Man kann diejenigen, bie aus Berzweiflung zur Gewalt greifen, ohne daß baniit die geringste Aussicht auf Erfolg verbunden ist, bemitleiden und man fann ihren Heldenmut bewundern. Aber zu verurteilen find die Führer, die die ihnen vertrauenden Maffen in aussichtslose Kämpfe hineinheßen, die leichtfertig fremdes Glüd, fremde Freiheit, fremde Leben opfern für ihren Ehrgeiz und ihre Verblendung.