Einzelbild herunterladen
 

Abendausgabe

Nr. 247+ 41. Jahrgang Ausgabe B Nr. 125

Bezugsbedingungen und Anzeigenpres find in der Morgenausgabe angegeben Redaffion: SW. 68, Cindenstraße 3 Jerufprecher: Dönhoff 292-295 Tel.- Moreffe: Sozialbemotrat Berlin  

Vorwärts

Berliner Volksblatt

5 Goldpfennig

50 Milliarden

Dienstag

27. Mai 1924

Berlag und Anzeigenabteilung

Gefchäftszeit 9-5 Uhr Berleger: Borwärts- Berlag GmbH. Berlin   SW. 68, Lindenstraße a Fernsprecher: Dönhoff 2506-2307

Zentralorgan der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands  

Die Sozialdemokratie für Klarheit.

Zur Frage der Regierungsbildung.

Der Barftand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion beriet heute die durch den Rücktritt der Regierung Mary ge­schaffene Lage und faßte seine Meinung in folgendem Beschluß zufammen:

Die Fraktion stellt fest, daß die bisherigen Berhandlungen mit den Deutschnationalen bereits zu einer empfindlichen Schädigung der außenpolitischen Stellung des Deutschen Reichs geführt haben. Sie sieht in der schnellen Durchführung des Sachverständigen gutachtens den einzig möglichen Weg zur Befreiung der Ruhr, zur Befriedung Europas  , zur Wiederherstellung der wirt­schaftlichen und politischen Sicherheit, damit zur Erleichterung der Wirtschafts- und Krediffkrise und zur Vermeidung neuer ungeheurer Arbeitslofigkeit. Sie fordert daher von jeder Regierung die Fortführung einer Außenpolitik auf Grundlage der Durchführung des Gutachtens unter sozial gerechter Serteilung der aften. Sie wird jede Regierung be­Empfen, deren Außenpolitik durch Verzögerung oder Zwei­deutigkeiten Deutschland  , einer Katastrophe entgegenführen würde."

Die um 1 Uhr zu einer Sihung zusammengetretene Ge­famtfraktion billigte einmütig diesen Beschluß ihres Borstandes.

Der Reichspräsident verhandelt. Der Reichspräsident empfing heute vormittag 8% Uhr den Reichstagspräsidenten Löbe, um sich von ihm über die par­lamentarijche Lage unterrichten zu lassen. Um 9 Uhr 30 war der Führer der Deutschnationalen, Hergt, gebeten. Der Reichspräsident legte ihm verschiedene Fragen über die Stellung seiner Graftion zum Sachverständigengutachten, zur parlamentarischen Regierungs­form und zum außenpolitischen Programm der Mittelparteien vor. Man darf annehmen, daß diese Unterredung ergebnislos verlaufen ist und daß Hergi daher für den Auftrag zur Regierungsbildung nicht in Betracht kommt. Um 10 Uhr 30 mar Genojie Hermann Müller  , um 11 Uhr der Führer der Deutschen Bolkspartei, Scholz, beim Reichspräsidenten  . Im Laufe des Nachmittags wird der bisherige Reichsfanzler Marg empfangen werden. Es herrscht allgemein die Ueberzeugung, daß er von neuem mit dem Auftrag zur Kabinettsbildung befraut werden wird.

Die fozialdemokratische Reichstagsfraktion fritt um 1 Uhr nachmittags zu einer Sigung zusammen, um vor der ersten Plenarsihung des neuen Reichstages die politische Cage, wie fie sich aus dem Rüdtritt der Reichsregierung ergeben hat, zu be­sprechen.

Der Reichspräsident wird im Laufe des Tages weitere Besprechungen mit den Parteiführern Fehrenbach, Roch und Leicht haben.

Nach der ganzen Sachlage fann nichts anderes erwartet merden, als daß der Reichspräsident eine Persönlichkeit zum Reichskanaler ernennt, die ohne Einschränkung auf dem

Boden der Reichsverfassung steht, und die fich

bereit erklärt, die zur Durchführung der Sachverständigen­gutachten nötigen Geseze schleunigst im Reichstage durchzubringen.

Für diese Aufgabe tommt der bisherige Reichskanzler Marr in Frage. Es ist vorauszusehen, daß der Reichs­präsident Herrn Marr erneut mit der Regierungsbildung beauftragen wird. Die Bildung einer neuen Regierung Marr wird jedoch auf Schwierigkeiten stoßen. Es ist vorauszusehen, daß die deutsche Volfspartei der Bildung einer festen Regierung der Mitte diefelben Hinder­nisse bereiten wird, die sie bisher bei den Verhandlungen der Mittelparteien mit den Deutschnationalen immer wieder auf­gebaut hat. Ihre Sehnsucht nach dem Bürgerblock mit den Deutschnationalen muß die Verhandlungen über die Bildung einer neuen Regierung Marr zum Scheitern bringen, wenn sie trotz aller Erklärungen erneute Berhandlungen mit den Deutschnationalen fordert. Die Industriellen üben auf die Deutschnationalen einen ungeheuer starken Drud aus. Sie verlangen von den Deutschnationalen die Annahme der Gutachten. Aber nach dem Beschluß der Deutschnationalen fann dieser Drud teine politischen Wirkungen mehr haben. Jezt müssen die Konsequenzen aus der Situation gezogen werden, wie sie fich nach dem Abbruch der Verhandlungen ergeben hat- trotz der Zweideutigkeit der Deutschen Volkspartei  .

Die erste Etappe.

Das Verschulden der Deutschen Volkspartei  . In einer Besprechung der Vorgänge im Reichstag sagt die Frankfurter Zeitung  ":

Die Deutschnationalen haben die erste Etappe des von ihnen rerfolgten Weges erreicht. Die Regierung Marg ist ohne offenen Kampf zurüdgetreten. Die Deutsche Volkspartei   hat ihre eigene Regierung gestürzt. Die Deutsche Volkspartei  , die sich eine Mittel parei rennt und die unter diesem Namen das Zentrum und die Demokraten zu der berühmten bürgerlichen Arbeitsgemeinschaft der Mitte" an sich gebunden und deren Politit oft und lange

verhängnisvoll beeinflußt hot, will nach rechts zu dem Bündnis mit den Deutschnationalen. Wundert man sich? Die Wendung zum reaktionären Bündnis foftet der Bolkspartei fein Opfer der Ueberzeugung. Aber alles wäre flar und folgerichtig, wenn eines nicht wäre: die auswärtige Politik!

Hier ist der Punkt, an dem die Politik der Deutschen Volkspartei  aufhört, überhaupt noch Bolitik zu sein. Diese Partei selbst hat sich eben noch zu der Außenpolitik der Regierung Mary- Stresemann be­fannt, frotzdem zerbricht fie die gemeinsame Front, um einer neuen Regierungsbildung die Bahn freizumachen, trotzdem die Deutsch nationalen das entscheidende Ja zu dieser Außenpolitik bisher noch nicht gesagt haben. Diese halten an ihren Klausein und Einschränkungen fest, ohne darzutun, daß die Annahme des Sachverständigenberichtes durch die Regierung Marr- Stresemann doch tatsächlich bereits erfolgt ist, daß es sich gar nicht mehr um ge­bundene oder ungebundene Hände für den Unterhändler handelt, sondern nur noch darum, ob die neue Regierung das Wort ber alten einlöst oder es umwirft. Von dieser Frage aber hängt das Schicksal Deutschlands   ab, nicht mehr und nicht weniger. Und darum muß auf sie jetzt alles abgestellt werden, was nach dieser frivolen Zerstörung der Regierung Marry und der fie bisher tragenden Parteifonstellation nun zur Lösung der Krise geschehen foll. Wir sind heute mehr denn je überzeugt, daß die Wahlen vom 4. Mai feine Mehrheitsentscheidung gegen die bisherige Außenpolitik ergeben haben und daß bei Auflösung des Reichstages und Ausschreibung von Neuwahlen unter der flaren und eindeutigen Fragestellung Rettung Deutschlands   durch Annahme und ehrliche Ausführung des Sachverständigen gutachtens, trotz aller furchtbaren Opfer" oder Chaos und Zerstörung", eine sichere Mehrheit für die Rettung und gegen das Chaos herauskommt. Es wäre eine Miß­deutung des Wahlergebnisses vom 4. Mai, menn jetzt eine Regie rungsbildung versucht würde, bei der die Fortführung der außenpolitischen Linie nicht tlar und ehrlich gesichtert wäre. Der Versuch einer solchen Regierungsbildung war ja auch im Reichs tag felbft von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen, denn in dieser Hinsicht ist auch die Haltung des Zentrums offen und deut. lich. Deshalb waren wir gegen den Rücktritt der Regierung Marg, roaren dafür, daß sie sich dem neuen Reichstag stellen und in ihm sich eine Mehrheit verschaffen sollte, auf die ihre Außenpolitik ficher rechnen konnte. Jetzt ist durch den Rücktritt des Kabinetts und noch mehr durch die Untreue der Boltspartei die Lage viel verworrener geworden. Zwischen den Parteien, die die Außenpolitik der bisherigen Regierung zu stügen verpflichtet maren, tlafft nun ein neuer Riß.

-

Der Reichs präsident- so schließt die Frankfurter 3eitung" steht damit vor einer ungeheuer schweren Aufgabe. Aber die Richtung ist ihm gewiesen durch den Aus­gang der Wahlen vom 4. Mai: nur eine solche Regierung zu berufen, die mit allen Mitteln für die Aufrechterhaltung der bisherigen Außenpolitik fämpfen und keine Rückschritte dulden will. Das ist die historische Aufgabe, die ihm heute obliegt.

Schwierige Verhandlungen im Ruhrkampf.

Bisher keine Annäherung.

Die Verhandlungen im Reichsarbeitsministerium zwischen schwierig. Es wurde bisher in feiner Frage eine Bergarbeitern und Zechenverband gestalteten sich äußerst Annäherung erzielt. Unter diesen Umständen ist es fraglich, ob die Verhandlungen heute Abend zum Abschluß fommen werden.

Der neue Kurs in Frankreich  . Die Generalräte zur Regierungsbildung. Paris  , 27. Mai.  ( WTB.) lleber die Sizungen der General­räte wird berichtet: Der Generalrat des Departements der Rhone  Mündung in Darseille nahm eine Tagesordnung an, in welcher ausgedrückt wird, die Sozialisten möchten sich an der Regierung be­tciligen und das Programm des Kartells der Linken, das für den Wiederaufbau des Landes unerläßlich sei, durchführen. Im De­partement Puy- de- Dôme   erflärte Senator Clementel, in dem viele Radikale den zukünftigen Handelsminister erblicken, die große Mehrheit der Wähler wünsche, daß die radikale Partei und die sozia­listische Partei sich gemeinsam bemühten, ein Regierungsprogramm zur Geltung zu bringen und gemeinsam die Berantwortung für die Regierung zu übernehmen. Im Departement Tarn   wurde eine Re­solution eingebracht, die fordert, die Kammer möge den Präsidenten der Republik   auffordern, sein Amt niederzulegen. Diesen Willen habe das Land formell zum Ausdrud gebracht. Im Departement Haute Savoi, wurde eine Tagesordnung angenommen, in der die radikale Regierung zur Durchführung eines Programms auf gefordert wird, welches Frankreichs   Sicherheit garantiere und die Reparationen, auf die es Anspruch habe, sicherstelle. Im Departe ment Yonne erflärte der Borsitzende der radikalen Fraktion des Senats, Senator Bienvenu Martin  , Deutschland   werde fich täuschen, wenn es glaube, die Radikalen würden weniger feft als früher auf der Forderung der Rechte Frankreichs   bestehen und weniger ent. schlossen sein, ihnen Achtung zu verschaffen. Die Departements 2a Manche und Seine Inférieure haben dem Präsidenten der Republik und Boincaré erneut ihr Bertrauen ausgesprochen.

Landesverrat.

Zum Gutachten des Reichswehrminifteriums. Bon Otto Landsberg  .

Wer über das Bestehen von Geheimorganisationen Mit teilung macht, die durch den Versailler Vertrag verboten sind, begeht, ohne daß es darauf ankommt, ob seine Behauptungen wahr, ob sie den Auslandsstaaten bekannt sind, und ob der deutschen   Regierung eine Mitwirkung bei der Vertragsver­legung vorgeworfen wird oder nicht, das Verbrechen des Landesverrats." Das ist der Sinn des Gutachtens, das das Reichswehrministerium in der Strafsache gegen 3eigner erstattet hat. Der Vorwärts" hat in seiner Sonntagnummer diese Auffassung mit Gründen bekämpft, die dem besonderen alle Seigner entnommen sind; fie ergeben sich aus dem Wesen des Parlamentarismus und den Pflichten einer com Volf eingesetzten und ihm verantwortlichen Re­gierung und find staatsrechtlicher Art. Aber das Gui­achten bezieht sich nicht nur auf den Fall Zeigner, sondern es beansprucht allgemeine Geltung. Deshalb muß es auch ven allgemeinrechtlichen Gesichtspunkten aus geprüft werden. Zunächst ist festzustellen, daß das Gutachten gar fein Gutachten ist, sondern ein Urteil. Der Sachverständige ist nicht Richter, sondern Gehilfe des Richters. Er hat auf Grund besonderer Sachkunde dem Gericht Aufklärung über Tat­umstände zu geben, die für die Bildung des richterlichen Ur­teils von Erheblichkeit sind und die der Nichtfachmann nicht zu erkennen oder zu würdigen vermag. Die Fällung des Ur­teils aber ist stets und ausschließlich Sache des Richters. Das Gutachten des Reichswehrministeriums verbreitet sich nicht etwa über militärische Dinge, sondern es schreibt den Gerichten die Auslegung des Landesverratsparagraphen des Strafgesetzbuchs vor. Mithin stellt es den Versuch einer ebenso unzulässigen wie groben Beeinflus ung des Richterstandes dar. Daß Sachverständige, die infoige mangelnder juristischer Schulung die Grenze zwischen ihrem Amt und dem des Richters nicht tennen, dem Gericht die Urteilsfällung abnehmen, statt sich auf ihre Erleichterung zu beschränken, ist im Gerichtssaal nicht un gewöhnlich. Der ausgezeichnete Verteidiger Rechtsanwalt Mundel hat einmal einen solchen Fachmami in seine Schranken zurückgewiesen, indem er auf die Frage des Vor­fizzenden, ob zu dem Gutachten Bemerkungen zu machen seien, mit föstlicher Ironie antwortete: Der Herr Sachverständige. hat sich noch nicht über das Strafmaß geäußert." Neu ist aber, daß juristisch gebildeten hohen Beamten einer Zentralbehörde der Unterschied zwischen den Aufgaben des Sachverständigen und des Richters nicht bekannt ist.

Leider ist dies nicht der einzige Punkt, in dem die Ge des lehrten Reichswehrministeriums eine eine befremdende juristische Unwissenheit an den Tag legen. Das Strafgesetzbuch bestraft wegen Landesverrats denjenigen, der Nachrichten, Don denen er weiß, daß ihre Geheimhaltung einer anderen Regie­rung gegenüber für das Wohl des Deutschen Reiches oder eines Bundesstaates erforderlich ist, öffentlich bekanntmacht. Wie ist es bei diesem Wortlaut des Gefeßes möglich, einen Landesverrat in der Behautpung von Tatsachen zu erblicken, die einer anderen Regierung" bereits bekannt sind! Wie fann man unterschiedslos jede das Bestehen von Geheim­zeichnen, die unser Land derart schädigt, daß man in ihr einen Landesverrat erblicken muß! Wenn eine andere Regierung das Wohl des Reiches durch die öffentliche Bekanntmachung durch ihre Kontrolleure oder auf andere Weise über das Da­fein von zehn Geheimorganisationen unterrichtet ist, wird dann verlegt, daß noch eine elfte besteht?

organisationen betreffende Mitteilung als eine Handlung be­

Aber weiter: wir Sozialdemokraten sind über den Ber-. dacht erhaben, daß wir uns zu Verteidigern der einseitigen Abrüstung Deutschlands  , wie fie der Versailler Vertrag vor­schreibt, aufschwingen wollen. Unser Ziel ist die Welt. abrüstung, die wir im Interesse des Weltfriedens erstreben. Daß ein einzelner Staat, deffen Nachbarn mehr oder minder große Armeen unterhalten, an der Entfaltung militärischer Verteidigungsmittel durch Zwang verhindert wird, bedeutet in unseren Augen feine Friedenssicherung, sondern eine hohe Kriegsgefahr. Indessen der Vertrag von Versailles   ist von Deutschland   angenommen und ist zum Gesez des Deutschent Reiches geworden. Und wem die hieraus entspringende mora­lische Bindung nicht genügt, um sich zur Beachtung auch der ungerechtesten Bestimmungen des Vertrages in den Grenzen der Möglichkeit für verpflichtet zu erachten, der sollte aus Gründen der Klugheit Erfüllungspolitik treiben. Was im be­fonderen die Vorschriften des Vertrages über die Abrüstung betrifft, so hat niemand überzeugender die Unmöglichkeit nach gewiesen, fie durch Schaffung von Geheimorganisationen fraft. los zu machen, als der Reichswehrminister Dr. Geßler. Wer sich durch das Scharnhorstsche Beispiel den Kopf ver­drehen läßt, übersieht den tiefgreifenden Unterschied zwischen der politischen Lage nach 1806 und nach 1918. Damals waren zwei mächtige Feinde Napoleons  , Desterreich und Rußland  , von dem Orkan, der über die Welt gebraust war, im wesent lichen unversehrt geblieben. Heute sind die Gebiete beider Staaten politische Depressionssphären, und auf dem ganzen Kontinent sehen wir fast nur Mächte, die an Deutschlands  Niederhaltung ein Interesse zu haben vermeinen. De utiche Geheimorganisationen fönnen nur Deutsch  land selbst gefährlich werden, und zwar no ch mehr innen als außenpolitisch, da der Marsch