Nr.255 41.Jahrgang Ausgabe A nr. 131
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Sonntag, den 1. Juni 1924
Der Kampf um Millerand.
Herriots Verfassungsbedenken.
Paris , 31. Mai. ( Cigener Drahtbericht.) Der am Freitag ge Das ist durchaus möglich. Was aber dann? Die Kammer hat es faßte Beschluß der republikanischen Sozialisten", gleich den Sozia- jedenfalls in der Hand, jedes von Millerand eingesetzte Ministerium listen den Rücktritt Millerands zu fordern, dürfte das zu stürzen, und diesem bliebe dann als letztes Mittel nur noch die Schicksal des Präsidenten der Republik besiegelt haben. Millerand Auflösung der Kammer. Dazu aber bedarf es der 3ustimmung hatte seine Hoffnungen auf die gemäßigten Elemente in den beiden dos Senats, die aber mehr als zweifelhaft ist. Denn was bei Neubürgerlichen Parteien des Linksbloces gesetzt, und er mußte am wahlen, die unter der Parole persönliches Regiment" geFreitag die schmerzliche Enttäuschung erleben, daß gerade in der am führt werden würden, herauskommt, das fann sich auch die Reaktion weitesten redts stehenden Gruppe sich nicht eine hand zu an den fünf Fingern ebzählen; die Linke würde mit einer noch feinen Gunst en geregt hat, sondern selbst zwei ehemalige größeren Mehrheit ins Barlament zurückkehren. Millerand hat also Ministerpräsidenten, Briand und Painlevé , den Urteilsspruch wohl die Möglichkeit, durch Schikanen der Prozedur die Präsident gegen ihn unterschrieben haben. Noch unentschieden ist die jaitung schaftsfrise, deren Vorherdensein heute auch von der Rechten nicht der Radikalſozialen Herriot, der sich als der kommende mehr geleugnet wird, in die Länge zu ziehen. Auf die Dauer Mann zu besonderer Korrektheit verpflichtet fühlt, hat am Freitag aber wird er sich den von der Mehrheit des französischen Volkes im Direktorialkomitee der Parte: ausgeführt, daß er gegen die Vergesprochenen Urteil nicht entziehen können, und es ist wahrscheinlich, fassung zu verstoßen fürchte, wenn er es ablehnen würde, daß tie beiden Häuser des Parlaments sich Ende der nächsten den Antrag zur Bildung der neuen Regierung vom gegenwärtigen oder spätestens zu Beginn der über nächsten Woche in Versailles Präsidenten dr Republik entgegenzunehmen. Die Partei hat auf zur Wahl eines neuen Bräsidenten vereinigen werden. feinen Wunsch die endgiltige Entscheidung vertagt, um die Beschlüsse der zu Sonntag früh einberufenen interfraktionellen Besprechung der Abgeordneten der drei Parteien des Linksblocks abzuwarten. Es ist ein offenes Geheimnis, daß innerhalb der radikclen und der radifclfozialen Partei eine Reihe von Politikern entschieden
gegen eine allzu brüste Entwidlung
Die sozialistischen Koalitionsgegner. Am heutigen Sonntag tritt der Parteitag unserer französischen Genossen zusammen, um über die Frage der Beteiligung an einer Regierung der Linken zu entscheiden. Der Pariser Bez rfsparteitag hat sich mit 1780 gegen 660 Stimmen auf die Seite der Koalitions: gegner gestellt. Die angenommene Resolution erklärt, daß in der augenbildlichen Situation die außergewöhnlichen Umstände, von denen die der Dinge ist und insbesondere in der Senatsfraktion leb Entschließung von 2 m sterdam( Weltkongreß 1904) die Beteiligung hafte Widerstände gegen eine auf Erledigung des Präsidenten gerich der Sozialisten an einem bürgerlichen Kabinett abhängig mache, tete Offensive laut geworden sind. Die Mehrzahl der Abgeordnicht gegeben feien. Die politische und gewerkschaftliche Spaltung neten, aber teilt die Auffassung der Sozialisten und der Republika- der franzöfifchen Arbeitschaft habe im Gegenteil eine neue Lage nischen Sozialisten. Es ist deshalb nicht sehr wahrscheinlich, daß gefchaffen, die den Kampf des in fich felbft uneinigen, Proletariats, Millerand von dieser Seite her Rettung femmen wird. Selbst wenn heute noch weit schwieriger geftalte als ehemals. Cine Teilnahme Herriot in übertriebener Gewissenhaftigkeit die Bildung des Kabinetts an der Regierungsbildung drohe daher die erfehnte Stunde der im Auftrage Millerands versuchen sollte, so wird er sich wahrscheinlich Einigung erneut hinauszuschieben. Aus dem gleichen Grunde sehr rasch davon überzeugen müssen, daß er mit einem Ministerium müsse die Partei eden Berfuch der Rekonstruierung eines Blocs dieser Art in der Kammer höchstens gegen die Linke, d. h. gegen der Linken oder des Abschlusses einer permanenten parlamenfeine Partei, regiren fönnte. Das ist von Herriot wohl nicht zu tarischen Koalition mit anderen Parteien ablehnen, da dies nur erwarten. Er wird also aller Wahrscheinlichkeit nach den Auftrag zur Folge haben könne, ihre eigene Stoßkraft zu schwächen und in die Hand des Präsidenten zurückgeben. Millerand wird sich ihren Charakter als Partei des Klassenfampfs zu verwischen. dann vielleicht an Painlevé oder Briand , und wenn er, wie vorausDagegen sei die Partei bereit, eine Politik der sozialen Reform und zusehen, hier dem gleichen Widerstand begegnen jollte, vielleicht an der internationalen Verständigung mit allen ihr zur Verfügung einen Politiker der gemäßigton Reaktion, wie Barthou oder stehenden Mitteln zu unterstüßen. Demgemäß könne jede Restehenden Mitteln zu unterstüßen. Demgemäß könne jede ReSteeg, wenden. Ein solches Ministerium würde sich dann wahre gierung, deren erste politische Handlung die Amnestie, die fcheinlich mit einer persönlichen Botschaft des Präsidenten dem Biedereinstellung der entlassenen Eisenbahner, die AufParlament vorstellen. hebung des Ermächtigungsgeseßes, ter Abbau der indirekten Steuern, insbesondere der Umsatzsteuer, die Reform der Militär gesetzgebung, die Wiederherstellung normaler Beziehungen mit Rußland und die Einleitung einer auf das Programm der Sachverständigen und die Räumung des Ruhrgebiets aufgebauten Außenpolitik sei, auf die nachdrück lichte Unterstützung der Sozialistischen Partei rechnen.
Die dem Elysée nahestehenden Blätter haben am Sonnabend früh eine Erklärung veröffentlicht, daß Millerand sich weder den Forderungen eines Parteiferngresses noch der Zufalls abslimmung eines der beiden Häuser des Parlaments beugen weite. Diese Erklärung deutet darauf hin, daß
Millerand damit rechnet, im Senat eine Mehrheit zu finden.
Der Beschluß der Volkspartei. Verschleppung statt Entscheidung.
Die Fraktionsfigung der Deutschen Bolkspartei ist am Sonnabend gegen 23 Uhr zu Ende gegangen. Ueber die Verhandlungen wird Stillschweigen bewahrt. Die Frattion gibt als Ergebnis ihrer Besprechungen zwei Refolutionen heraus, von denen die erste ein Vertrauensvotum für Dr. Stresemann enthält. Das Vertrauensvotum hat folgenden Wortlaut:
„ Die Fraktion der Deutschen Volkspartei weist die anläßlich der Regierungsbildung gegen ihr Fraktionsmitglied, den Reichsaußen minister Dr. Stresemann erhobenen Angriffe auf das Schärffte zurüd. Sie betont aufs neue, daß fie feine politische Tätigkeit und vor allem seine Arbeit als Reichsaußenminister durchaus billigt und sein Verbleiben in diesem Amte solange fordert, als Herr Dr. Stresemann selbst feine Dienste in diesem Amt dem Vaterland zur Verfügung stellt. Zu dieser Haltung wird sie in erster Linie durch die Erwägung bestimmt, daß es auch fachlichen Gründen geboten ist, im Inlande und im Auslande durch einen Wechsel der Person nicht den Anschein einer außenpolitischen Kursänderung hervorzu
rufen."
Das weitere Ergebnis der Gigung ist eine zweite Resolution, Das weitere Ergebnis der Situng ist eine zweite Resolution, die folgendermaßen lautet:
„ Durch die gestrige Erklärung der Deutschnationalen Volkspartei ist die Deutsche Volkspartei vor eine völlig neue Lage gestellt worden. Sie stand bisher unter dem Eindruck, daß die Deutschnationalen ebenso sehr wie die Deutsche Bolkspartei gemillt feien, unter Fortführung der Grundlinien der bisherigen Außenpolitik eine Zusammenfassung aller bür. gerlichen Kräfte herbeizuführen. Sie war zu dieser Annahme um so mehr berechtigt, als die gesamte außenpolitische Lage und die Situation der deutschen Wirtschaft einschließlich der Landmirtschaft namentlich in der Kreditfrage die Annahme und beschleunigte Durchführung des Sachverständigengutachtens gebieterisch fordere, wobei die Deutsche Volkspartet die Sicherung der politischen und Ehrenforderungen als selbstverständlich erachte. Die Deutsche Lolkspartei hat durch ihre Verhandlungen in den vergangenen Bodyen unrückbar an diesem Ziel festgehalten und ist in ihren Bemühungen unter Zurückstellung aller parteipolitischen und persön
lichen Interessen bis zur äußersten Grenze des Möglichen gegangen. Durch die Veröffentlichung des deutschnationalen Beschlusses mit seiner parteioffiziösen Kommentierung, insbe= fondere durch die Kursänderung in der Außenpolitif, find diese Bemühungen der Deutschen Volkspartei 3 ur Fruchtloligfeit perurteilt worden. Die Rolle der Deut. ichen Boltspartei als ehrliche Makler hat damit ein Ende gefunden.
Die Reichstagsfraktion der Deutschen Volkspartei wird zu der am Montag Lage in einer Fraktionssitung Stellung nehmen, zu der alle Mitglieder telegraphisch einberufen sind. Eine Verzögerung in der Regierungsbildung tritt dadurch um so weniger ein, als die Bayerische Volkspartei , die selbstverständlich zu diesen Verhandlungen herangezogen werden muß, frühestens Montag in Berlin verfügbar fein wird."
Die Deutschnationalen wollen wieder. Die Deutsch nationale Volts partei erklärte gestern parteioffiziös, daß der vorgestrige Beschluß nicht eine Absage an den Gedanken des großen Bürgerblods als solchen bedeutet, sondern nur gefaßt wurden, weil nach Ansicht der Frat tion die Verhandlungen mit Dr. Marg feine Aussicht auf Erfolg mehr boten. Daß irgend ein anderer Weg gefunden werden fönne, ist nach Ansicht der Deutschnationalen Fraktion nicht aus
geschlossen.
Die Demokraten gegen weitere Verhandlungen.
Der Vorsitzende der Demokratischen Partei und Reichstags frottion, Minister a. D. Koch, teilte dem Verein Deutscher Zeitungsverleger auf seine Erkundigung nach der demokratischen Beurteilung der Lage mit, daß ihm weitere Berhandlungen aus fichtslos erschienen, nachdem die Deutschnationalen mit der in wochenlangen Verhandlungen immer zurückgehaltenen Erklärungen hervorgetreten sind, daß auf dem Gebiete der Außenpolitik eine Kursänderung erfolgen und zum Ausdruc tommen müsse. Jede Wenderung der bisherigen Außenpolitik erscheine der Deutschdemstratischen Partei als eine Gefährdung der angebahnten Verständigung und als eine Verzögerung der von der deutschen Wirtschaft so dringend geforderten Lösung.
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Unfug und Politik.
Der schwankenden Mitte ins Stammbuch.
Der 1. Juni 1924 findet ein Europa ohne Poincaré . Der Mann, der in der Zeit vor dem Kriege und dann während der letzten Jahre eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat, steigt heute vom Thron seiner Macht herab und wendet sich wieder der Journalistik zu. Das neue Frankreich , das aus den Wahlen vom 11. Mai emporgestiegen ist, ringt noch nach seiner Gestaltung und geht vielleicht inneren Krisen entgegen, wenn Herr Miller and sich weiter im Elysée wie in einem Fort Chabrol verschanzen will. Der Kampf gegen ihn zeigt zum mindesten, daß die bürgerliche Linke ganze Arbeit zu machen gesonnen ist, daß fie Konflikte, wo sie notwendig sind, nicht scheut, und daß sie überhaupt von dem Glauben an die alleinfeligmachende Kraft der Leisetreterei und der Kompromiſſe weit entfernt ist.
Der tatkräftige Geist der bürgerlichen Linken Frankreichs findet seinen literarischen Ausdruck in einem soeben erschienenen Sammelband" La Politique Républicaine"( Paris , Felix Alcan), in dem Männer wie Herriot , Painlevé , Daladier und andere zu den dringendsten Fragen des Tages Stellung nehmen. Das Buch sei besonders deutschbürgerlichen Mittelpolitikern zu fleißigem Studium empfohlen. Sie werden dabei bemerken, daß es in Frankreich trotz aller reaktionärer Strömungen, etwas wie eine republikanische Kultur gibt, und sie werden den Unterschied begreifen lernen zwi schen einer geföpften Monarchie und einer lebendigen Republip.
Solches Studium lut unserem politisierenden Bürgertum um so mehr not, als es erst jetzt wieder in den qualvollen Wochen der neuesten Regierungstrife seine politische Intelligenzlosigkeit peinlich enthüllt hat. Man ist jetzt glücklich nach allem Hin und Her zu der Auffassung gekommen, daß es doch das beste sei, die alte Regierung der Mitte Marg- Stresemann wiederherzustellen und man hofft, daß die Deutsche Volks= partei am Montag diesem Blan ihren Segen geben wird. Allerdings muß das deutsche Volk noch zwei Tage länger, als sonst notwendig gewesen wäre, auf die neue alte Regierung warten, da es nicht möglich war, die großen 45 der Volkspartei über Wochenende in Berlin zusammen zu halten. Dies ist das Satyrspiel nach der Tragikomödie.
Das ganze erinnert start an die Karikatur von 1848: Wie der Hund mit der Wurft über'n Spudnapf springt, Und der Storch in der Luft den Frosch verschlingt.
Damit fängt es nämlich an. Dann ergeben sich tolle Berrenkungen: Die Wurst springt mit dem Spucknapf über den Hund, der Frosch verschlingt in der Luft den Storch usw., bis endlich die normale Ordnung der Dinge zurückkehrt. Bon Marr- Stresemann mit hundert Purzelbäumen. Verwicklungen, Mißverständnissen zurück zu Marr- Strese
mann.
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Was die Mittelparteien jetzt tun wollen, ist von ihrem Standpunkt aus in der Tat das einzig Bernünftige. Sie waren die Träger der bisherigen Regierungspolitit und haben die Aufgabe, was sie für richtig hielten, auch weiter zu vertreten. Wären sie ihren geraden Weg gegangen, so wäre ihnen wohler. Wozu haben sie über die Tirpiklösung", die neueste Marke, deutsch nationaler Patentlösung" erst verhandelt, warum haben sie dem Reichstag der Republit einen monarchistischen Präsidenten auf die Nase gesetzt. Warum hat die Volkspartei, die einen integrierenden Bestandteil der Regierung bildet und weiter bilden foll, ihren kindischen Flaggenantrag eingebracht, wenn es Durch all das haben sie nichts anderes erreicht, als daß sie alle schließlich in der Hauptsache doch beim Alten bleiben sollte?! politischen Faktoren im Ausland und im Inland, mit denen sie zusammenarbeiten müssen, verprellt haben! Es wird viel Mühe kosten, um den Schaden zu reparieren, den die Knifflichkeit und Pfiffigkeit der Scholz und Konsorten angerichtet haben unter Außerachtlassung aller politischen Gesichtspunkte, außer dem einen: die deutschnationale Konkurrenz so gründ
lich wie möglich hineinzulegen.
Für den Augenblick ist ihnen das ja auch gelungen. Die Krampfhaftigkeit, mit der die Deutschnationalen jetzt wieder die Unentwegten markieren, nachdem sie bereit waren, für einen entsprechend breiten Platz an der Futterkrippe sämtliche „ völkische Belange" Bug um zug zu verhöfern, wirkt erschütternd auf die Lachmuskel. Aber hat Deutschland in seiner gegenwärtigen Lage wirklich nichts anderes zu tun, als einen Fastnachtsschwank von den getäuschten Roßtäuschern aufzu führen?
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