Abendausgabe
Str. 256 41. Jahrgang Ausgabe Nr. 129
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Vorwärts
Berliner Volksblatt
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Montag
2. Juni 1924
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Zentralorgan der Vereinigten Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands
Millerands Schicksal besiegelt.
Mehr als 300 Abgeordnete fordern seinen Rücktritt.
Paris , 1. Juni. ( Eigener Drahtbericht.) Die Hoffnungen, die Miller and auf die Haliung der Radikaljozialen Partei gesetzt hat, haben sich nicht erfüllt. In einer Fraktionssihung, in der insgesamt 170 Mitglieder anwesend waren, wurde nach furzer Diskussion gegen vier Stimmen folgende Entschließung angenommen, für die auch Herriot 'gestimmt hat:
„ Angesichts der Tatsache, daß Herr Alexander Millerand , Präsident der Republit, im Widerspruch mit der Berfajfung eine Politik getrieben hat, daß er offen Partei für die Politik des Nationalen Blocks ergriffen hat und dieser Politik inzwischen durch das Land das Urteil gesprochen wurde, ist die Fraktion der Radikalen und Radikalfozialen Partei der Auffaffung, daß das weitere Verbleiben Millerands im Elysee eine Berlegung des Geistes der Republik darstelle und eine Quelle des Konslifts zwischen der Regierung und dem Staatsoberhaupt, sowie eine dauernde Gefahr für das gegenwärtige Regime bilden würde."
"
Der Sozialistische Parteitag, der am Sonntag morgen zu sammengetreten ist, hat einstimmig einen Beschluß angenommen, der die Fraktion auffordert, jedes ministerium zu bekämpfen, das von Miller and inveffiert sein sollte, das zweitens für den Fall, daß Millerand innerhalb der Kammer einen Komplizen finden sollte, der die Verantwortung übernehmen werde, den unzweideutig zum Ausdrud gekommenen Willen des Landes zu brüskieren", die Parteileitung auffordert, eine energische kam pagne einzuleiten mit dem Ziel, dem willen des Volkes Respekt zu verschaffen.
In nicht minder scharfen Ausdrücken ist der Beschluß der Reublikanisch- sozialen Partei( Painlevé) gehalten:
Die Partei ist einmütig der Ueberzeugung, daß es un möglich ist, mit Herrn Millerand zusammenzuarbeiten, nachdem dieser in Migachtung der Pflichten feines Amtes die auswärtige Politit in eine Richtung zu drängen versucht hat, die vom Lande verworfen worden ist."
1. Die interfraffionelle Besprechung der Parteien des Cinfsblocks, zu der auf ihren Wunsch auch die von Coucheur neugegründete Fraftion der Radikalen Linfen" zugezogen wurde und die unter dem gemeinsamen Borjih ven Herriot, Painlevé und Leon Blum um 1 Uhr 45 minuten eröffnet wurde, hat nur wenige Minuten gebraucht, um sich auf einen gemeinsamen Beschluß zu einigen. Die am Morgen von der Radikalfozialen Partei angenommene Entschließung wurde von Renaudel im Namen der Sozialisten und, von Biolette im Namen der Republikanischen Sozialisten gutgeheißen und ohne Diskussion einstimmig ange
nommen. An der Abstimmung haben teilgenommen: 101 Sozialiffen, 51 Republikanische Sozialisten, 136 Radikalfoziale, 20 Mitglieder der Radikalen Linfen und 5 Unabhängige Kommunisten. Herrn Millerands Schicksal dürfte damit endgültig be. fiegelf sein.
Der französische Parteitag. Die Koalitionsfrage noch nicht entschieden. Paris , 1. Juni. ( Eigener Drahtbericht.) Der Außerordentliche Barteitag der Sozialisten, der am Sonntagmorgen un 10 Uhr zu sammengetreten ist, wurte nech kurzer Begrüßungsansprache mit der Debate über den Fall Miller and eröffnet. Von den zahlreich vorliegenden Entschließungen wurde, die bereits an anderer Stelle erwähnte des Abg. Renaudel angenommen. Der Parteitag trat sodann in die Disfuffion des Hauptpunktes der Tagesordnung, die Frage der Beteiligung an der Regierung, ein. Es gelangte zunächst der von dem Abg. Herriot an Leon Blum gerichtete Brief zur Verlegung, in dem Herriot die Ueberzeugung ausspricht, daß es der offenkundige Wille des Landes sei. daß die bei den Wahlen so erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen dem Sozialismus und der bürgerlichen Demokratie fünftig in den Beratungen der Regierung ihre Forifeyung findet. Das Bolt habe seine Pflicht getan, heißt es in dem Schreiben weiter, nun sei es an den Parteien, die ihre zu tun, und deshalb bitte er im Namen der Radikalfozialen Partei die Sozialisten um ihre rückhaitlose Unterstützung und Mitwirkung.
Poincarés Rücktritt.
Paris , 1. Juni. ( WTB.) Um 10 Uhr 30 Miunten vormittags hat Ministerpräsident Poincaré dem Präsidenten der Republik die Demission seines Ministeriums übermittelt. Der Demissionsbrief, der von allen Ministern unterzeichnet ist, hat folgenden Wort
laut:
„ Nach der Entscheidung, die die Regierung am Tage nach den Kammerwahlen getroffen hat, haben wir Ihnen die kollektivdemiffion des Minifteriums zu überreichen."
Der Ministerrat, der um 11 Uhr unter dem Vorsitz des Präfidenten der Republit zujammengetreten ist, war um 11 Uhr beendet. Nach seiner Beendigung hatten Poincaré und der Finanzminiffer François- Marjal eine Unterredung mit Millerand.
Die Eröffnung der neuen Kammer.
Die Eröffnung der neuen Rammer fand ungewöhnlicherweise an einem Sonntag statt, weil es die französische Verfassung strikt vor schreibt, daß das Parlament immer am 1. Juni zusammentreten muß, auch wenn dieser Tag auf einen Sonntag fällt.
Es waren nicht weniger als 6000 Gesuche um Tribünenfarten eingereicht worden, von denen nur ein kleiner Prozentsatz befriedigt werden konnte. Man hörte eine Eröffnungsrede des Alterspräfidenten, des radikalsozialistischen Pariser Abgeordneten Piccard, eines bekannten Professors der medizinischen Fakultät und Sozialhygienifers. Die Rede enthielt deutliche Vorwürfe an die Adresse des Nationalen Blocks, der den Frieden nicht habe schaffen tönnen und die Bundesgenossen entfremdet habe. Piccard bekannte sich zum Völkerbund und zur Gerechtigkeit durch Recht und nicht durch Macht". Nach einem Hinweis auf die bedrohliche finanzielle Lage des Landes, drückte Piccard sein umbeschränktes Vertrauen zu den neuen Männern aus und Schloß mit einer ernsten Betrachtung des bevölkerungspolitischen Problems.
Schwankende Beständigkeit.
Die Rolle der Volkspartei.
Bei Redaktionsschluß dauerte die Fraktionssikung.der Deutschen Boltspartei noch an. Es verlautet, daß die Deutsch nationalen eine neue Initiative eingeleitet haben, nachdem die Volkspartei die Rolle als ehrbarer Maller für beendet erklärt hat. Die Reichstagsfraktion der Deutschnationalen hat an die Bolkspartei einen Brief gerichtet, in dem sie erklärt, daß die Türen noch nicht zugeschlagen feien. Eine Regierungsbildung fei jedoch für die Deuffdhnationalen nicht möglich, wenn Dr. Stresemann Außenminiffer bleibe. Ueber diesen neuen Schritt der Deutschnationalen ist die Reichstagsfraktion der Volkspartei froß des Vertrauensvofums für Stresemann vom Sonnabend bisher nicht zu einer Entscheidung gelangt.
Die Reichstagsfraktion der Deutschen Bolkspartei sitt feit 11 Uhr wieder zusammen, um sich darauf zu besinnen, was sie will. Die Entscheidung fällt ihr nicht leicht. Es geht um den Kopf Stresemanns, und die Stresemann - Gruppe will dem rechten Flügel der Volkspartei nicht fampflos nachgeben. Am Sonnabend hatte die Rechte keine Mehrheit. Die Deutschnationalen hoffen, daß heute die Mehrheit in der Volkspartei fraktion anders sein werde. Der„ Lokalanzeiger" schrieb gestern:
" In dem Beschluß, die endgültige Entscheidung bis Montag zu vertagen, fönne man jedoch die Absicht der Partei erkennen, den bisherigen Weg noch nicht zu verlassen, auf dem man das Ziel des Großen Bürgerblocks erreichen wollte. Die Türen seien also noch nicht zugeschlagen, und bei einer anderen Kräfteverteilung in der nächsten Sigung fönne man immerhin mit einem Einlenten der Partei rechnen."
Da die Bayerische Volkspartei sich für die Regierungsbildung mit den Deutschnationalen ausgesprochen hat, ist es nicht unmöglich, daß die Deutsche Volkspartei heute tatsächlich wieder auf die andere Seite fällt. Sie hat sich zwar am Sonnabend ziemlich festgelegt aber bei der Volkspartei ist fein Ding unmöglich.
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Die Deutschnationalen fordern den Kopf Stresemanns. Das Bertrauensvotum der Reichstagsfraktion der Volkspartei legt die Entscheidung darüber, ob er geht oder bleibt, in feine eigenen Hände einen Fraktionswillen hat die Volkspartei nicht. Die Deutschnationalen reichen ihm nun die seidene Schnur. Wird er Gebrauch davon machen oder nicht? Wie lange werden Zentrum und Demokraten diesem Spiel zwischen Volkspartei und Deutschnationalen, das nur der Verschleppung dient, zusehen? Schleppung dient, zusehen?
Nach einer durch Zwischenrufe des Abg. Brace wiederholt unier brochenen Rede des Delegierten des Departements Gord, der unter Berufung auf Jaurès für den Eintritt in das Ministerium sich aus. spricht, löfte ein Antrag auf Beschränkung der Redezeit eine sehr heftige Geschäftsordnungsdebatte aus. Der Generalsekretär der Bariei Paul Jaure schlug vor, die Frage de: Beteiligung an der Regierung von der der Unterstützung eines demokratischen Mini steriums zu trennen. Dieser Anirag wurde von den Koalitions: freunden als taktisches Manöver bekämpft. Léon Blum trat für ten Vorschlag Jaures ein mit der Begründung, daß Herriot ihn Gebeten habe, is rasch als möglich eine prinzipielle Entscheidung herbeizuführen. Renaudel stellte den Antrag, ein viergliedriges Stomitze zu ernennen, das mit Herriot über die Festiegung eines politischen Mindestprogrammis verhandeln solle, da man erst nach feiner Kenntnisnahme über die Frage der Unterstützung einer bürgerbände berichtete Graf West at p über die Berhandlungen zur lichen Regierung sprechen könne. Dis sehr erregte Diskussion dauerte bis zur Mittagspause, ohne daß eine Einigung erzielt wurde.
Wegen der Eröffnungssigung der Kammer mußten die Berhandlungen des Porteitages bis zum Abend unterbrochen werden. Der endgültige Beschluß dürfte erst in später Nachtstunde oder am Moning fallen.
Westarp bei den Vaterländischen.
In einer Vertretertagung der Vereinigten Vaterländischen VerRegierungsbildung, wobei er betonte, daß die Deutsch
nationalen unbedingt an ihrem bisher eingenommenen grundsäglichen Standpunkt festhalten würden. Ein stimmig gelangte darauf am Schlusse der Tagung eine Entfchließung zur Annahme, in der ein Systemwechsel im Reich und in Preußen und die Ablehnung des Sachverständigengutachtens gefordert wurde.
Attentat auf Seipel.
Wien , 1. Juni. ( WTB.) Auf den Bundeskanzler Dr. Seipel wurde heute abend bei seiner Ankunft auf dem Wiener Südbahnhof von einem mit demselben Zuge reifenden Pejsagier ein Revolverattentat verübt. Der Bundeskanzler wurde durch einen Cungenschuß schwer verletzt. Der Täter gab turz vor feiner Verhaftung einen Schuß auf sich selbst ab und verlehte sich chenfalls schwer. Er ist noch nicht vernehmungsfähig.
Die Republik Deutschösterreich war, in wohltuendem Gegensatz zu ihrer großen deutschen Schwesterrepublik, bis jetzt von Mordanschlägen auf hervorragende Männer des Staates verschont geblieben. Das Attentat auf Dr. Seipel findet, wie alle Mordanschläge, unsere schärfste Verurteilung. Dr. Seipel, der schon in der Monarchie der Führer der Christlichsozialen Partei war, ist in den Augen der nicht zu den verbündeten Regierungsparteien( Christlichsoziale und Großdeutsche) gehörenden Desterreicher mit der Verantwortung für das Genfer Sanierungswert belastet, das die Selbständigkeit des Staates gegen die Völkerbundanleihe hingab, Desterreich der Kuratel des Völkerbundkommissars 3 immermann unterstellte und die Stabilisierung der Krone durch gewaltige Arbeitslosigkeit, massenhaften Beamtenabbau und Drosselung der Kulturausgaben teuer bezahlte. Gerade in diesen Tagen sollte Dr. Seipel Beschwerde führen und hilfeflehend zum Völkerbund nach Genf fahren, um wenigstens soviel Bewegungsfreiheit zu erreichen, daß den Bundesangestellten die Existenzmöglichkeit gesichert werde, was Herr Zimmermann
Derbietet.
Die Sozialdemokratie bekämpfte diese Sanierungspolitik auf das entschiedenste und mit um so mehr Recht, als sie vorher Sanierungswege gewiesen hatte, auf denen die Gesundung der Finanzen aus eigener Kraft zu erreichen gewesen wäre. Die österreichische Sozialdemokratie, die vor Jahren ihren Führer Schuhmeier durch ein ganz ähnliches Bahnhofsattentat verloren hat, ist in mancher Hinsicht zur Verteidigung nach reichsdeutscher Art, die Ostara- Leute ausgerüstet worden, gezwungen. Gegen die Sozialdemokratie sind die Terrorbanden und die überaus milde Beurteilung mörderischer Taten dieser Banden, denen mehrere unserer Genossen von der Ordnerschaft zum Opfer gefallen sind, hat die Arbeiter in steigendem Maße erregt. Gerade vor wenigen Tagen sind einige Hakenkreuzler, die der Ermordung unseres Genossen Still in Wien in höchstem Grade verdächtig sind, mit lächerlich geringen Geldstrafen davongekommen. Zurzeit demonstrieren die Arbeiter in zahlreichen Versammlungen gegen diese Justiz, die auch in Bes leidigungsprozessen führender Sozialdemokraten gegen reaf tionäre Berleumdungen ihr wahres Gesicht zeigt. Die große Arbeitslosigkeit, das Wiederansteigen des Inder ohne Ausgleich im Einkommen, die Straflosigkeit reaktionärer Attentate- das alles mag den Sinn des Attentäters verwirrt haben.
Wenn in einer Depesche behauptet wird, bei dem Atten täter sei 3eitungsmeldungen zufolge eine Mitgliedskarte einer sozialdemokratischen Organisation gefunden worden, so möchten wir diese Nachricht solange bezweifein, bis eine amiliche Bestätigung für fie vorliegt. Die österreichische Sozialdemokratie hat den Kampf gegen den Regierungskurs fachlich geführt, und nichts liegt ihren Absichten ferner, als die Uebernahme völkischer Mordmethoden. Die sinnlose Tat wird in ihren Reihen vorbehaltlose schärfste Berurteilung finden.
Es ist zu hoffen, daß Dr. Seipel von seiner schroeren Vera legung gesundet, und daß der auf ihn verübte Anschlag eines Einzelnen auf das politische Leben Desterreichs nicht jene zera rüttenden Wirkungen ausüben wird, die die Folgen jedes echt en politischen Attentats sind.
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Wien , 1. Juni. ( WTB.) Zu dem Attentat auf Bundeskanzler Dr. Seipel wird noch gemeldet: Um 7 Uhr abends traf Dr. Seipel auf dem Südbahnhof mit dem Zug, der von Wiener Neustadt kommt, ein. Er verweilte auf dem Berron, noch einen Augenblick im Ges spräch mit dem Polizeikommissar und dem Bahnhofsvorstand. Wäh rend dieser kurzen Unterhaltung fielen aus nächster Nähe zwei Schüffe. Der Bundeskanzler Dr. Seipel fragte die bei ihm stehena den Herren:„ Es hat wohl eben geknallt, Ift jemand von Ihnen getroffen worden? Ich spüre nichts." Unmittelbar darauf er bleichte er und wurde ohnmächtig. Die Herren der Umgebung fingen ihn auf und brachten ihn sofort in das in der Nähe gelegene Wiener Krankenhaus. Von den zwei Schüffen, die auf den Bundesa fanzler abgegeben wurden, ist der eine ein Streifschuß, der andere cin Lungenschuß. Bei dem Lungenschuß ist das Geschoß im Körper stecken geblieben. Ueber den Zustand des Verlegten kann ein abe schließendes Urteil noch nicht abgegeben werden. Die Verwunding ist jedoch sehr schwer, wenn auch nicht tödlich, s
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Der Zustand Dr. Seipels ist andauernd ernst. Er hat Lungenbluten. Der deutsche Gesandte. Dr. Pfeiffer hielt sich bis in die späten Nachtstunden in der Nähe des schwerverlezien Bundeskanzlers auf. Die Landeshauptleute der Bundesländer find angewiesen worden, sich sofort nach Wien zu begeben. Der Täter, der etwa 30 Jahre alt und verheiratet ist, gab bei seiner ersten Vernehmung an, um 5 Uhr nachmittags in Wiener Neustadt von der Fahrt des Bundeskanzlers mit dem Schnellzuge nach Wien ere fahren und sogleich den Entschluß gefaßt zu haben, mit ihn zur gleichen Zeit nach Wien zu fahren, um hier das Attentat zu verw üben. Im übrigen verweigert er jede Auskunft. heißt I a worek und ist ein Spinner aus Pottendorf .
Der Mann