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Str. 263+ 41.Jahrgang Ausgabe A nr. 135

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Zentralorgan der Vereinigten Sozialdemokratifchen Partei Deutfchlands

Redaktion und Verlag: SW 68, Lindenstraße 3. Fernsprecher: Redaktion: Dönhoff 292–295 Verlag: Döuboff 2506-2507

Freitag, den 6. Juni 1924

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Heute Entscheidung im Reichstag.

Um das Gutachten der Sachverständigen. to

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Wo ist der deutsche Molière, der die Kömödie des ent­larvten deutschnationalen Tartüff schreibt?

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Im Reichstag wird heute die Entscheidung darüber fallen, lich notgedrungenes Geständnis. Man hat sich nicht erfun-| übernommen. Sie hat durch die gestrige Rede des Genossen ob eine Mehrheit vorhanden ist, die bereit ist, der Reichsregie digt", man hat nur Informationen" eingeholt, und zwar hat Löbe einen großen moralischen Erfolg errungen. Diese rung zur Annahme des Sachverständigengutachtens die 3uman das im Gespräch mit einem geheimnisvollen Aus- Rede war ein Musterbeispiel für die sozialdemokratische Me­stimmung zu erteilen. Die Mittelparteien haben einen länder getan, noch ehe die Oeffentlichkeit von der Tirpit- thode, durch die Macht der Argumente die Stellung des Antrag eingebracht, der eine flare Antwort auf diese Schick- Kandidatur etwas erfahren hatte, ja noch ehe die Deutsch Gegners zu erschüttern und diesen selbst zur Achtung zu falsfrage fordert. Die Deutschnationalen wünschen, daß der nationalen mit ihrem Vorschlag an die anderen Parteiführer zwingen. Bieles , dessen sich die Arbeiterschaft zu schämen Reichstag der Regierung, an der sie nicht beteiligt sind, sein herangetreten waren. hat die geistlosen Radauszenen der Kommunisten ist Mißtrauen ausdrücken und sich dadurch für den Bürgerblod wieder gutgemacht worden durch diese Rede des Sozialdemo­und die Tirpiz- Lösung" aussprechen solle. Auf einen ganz besonderen Trick ist schließlich die nationalsozia= fraten und ehemaligen Schriftfehers Löbe, sie hat die Ehre der Arbeiterbewegung wiederhergestellt. listische Partei verfallen: fie hat einen Vertrauens antrag für die Regierung eingebracht, den sie selber ab­zulehnen entschlossen ist. Sie hat damit zu dem Mittel ge= griffen, das einst von den Konservativen im preußischen Drei Plaffenhause angewendet wurde, die in gleich negativer Ab­ficht einen Vorschlag auf Einführung des gleichen Wahlrechts einbrachten, um auf solche Weise die Bethmannsche Wahl­reform zu Fall zu bringen. Ein solcher Antrag, der von denen, die ihn stellen, nicht ernst gemeint ist, ist nichts weiter als ein Wig, ein Dreh, eine Schiebung und verdient, dem­entsprechend behandelt zu werden.

Die Mittelparteien haben daraufhin ihrem Antrag eine Ergänzung hinzugefügt, durch die alle anderen Anträge gleich zeitig für erledigt erklärt werben. Um diesen Antrag dürfte fich heute der Hauptkampf entspinnen, von seiner Annahme oder Ablehnung hängt nicht nur ab, ob die Regierung im Amt bleiben. fann oder nicht, sondern auch, ob sich für die Annahme des Sachverständigengutachtens eine Mehrheit im Reichstag ergibt oder nicht.

Es handelt sich also um eine fachliche Entscheidung von Paum abmekbarer Tragweite. Würde der Reichstag die An­nahme des Gutachtens ablehnen, so wäre gar nicht abzusehen, was weiter daraus werden sollte. Die ablehnenden Parteien mürden sich mit einer Berantwortung belasten, die sie gar nicht zu tragen imſtande find. Daraus darf geschlossen werden, daß es ihnen selbst mit der Ablehnung gar nicht so ernst ist. Auch aus den Reihen der Opposition wird heute abend mancher Seufzer der Erleichterung aufsteigen, wenn der Präsident die Annahme des Antrags der Mittel­parteien verfünden wird.

Sollte jedoch wider alles Erwarten der Antrag der Mittel­parteien abgelehnt werden, so bliebe als das einzige ver­feffungsmäßige Mittel zur Lösung der dadurch entstandenen innen- und außenpolitischen Krise die Auflösung des Reichstags und die schleunige Vornahme von Reichstags­wahlen übrig, die dann ganz im Zeichen der Annahme oder der Ablehnung des Sachverständigengutachtens ausgefochten werden müßten.

In einen Wahlkampf unter dieser Parole könnte feine Partei mit stärkerem Selbstbewußtsein und befferen Hoff­mungen eintreten als die Sozialdemokratie.

Schon die wenigen Sizungen des neuen Reichstags haben bewiesen, wie unhaltbare Zustände durch den Fehl­spruch des Bolts am 4. Mai geschaffen worden sind. Wenn vor jenem Tage hier immer wieder gewarnt wurde, die Wähler sollten die deutsche Volksvertretung nicht zu einem Marrenhaus machen, so hat sich jetzt schon gezeigt, wie berechtigt diese Warnung gewesen ist. Gestern hat sich au allem übrigen auch die Ludendorff- Partei als die gleiche Feindin jeder parlamentarischen Ordnung erwiesen wie die Scholem - Bartei. Sie hatte freilich einigen Grund zur Aufregung, da Herr Henning, in die Enge getrieben, geftehen mußte, daß er, der große Held und Judenfresser, den jüdi­schen Oberregierungsrat Weiß um Schuh für Ludens Dorff angefleht hatte. An dieser grotesken Tatsache, die töblich wirken muß, sofern es wahr ist, daß Lächerlichkeit tötet, fann ales völtische Gejohle und Gezeter nun nichts mehr ändern.

Noch gründlicher aber war die moralische Erledigung, die dem Führer der Deutschnationalen, dem Grafenestar p, zuteil wurde. Man muß es erlebt haben, wie dieser Retter des Baterlandes in edelstem Pathos losschmetterte gegen die Würdelosigkeit der Linken, die sich im Fall Tirpitz auf das Urteil des Auslandes berufen hätte, und wie der Demo­frat Koch dazwischen fuhr mit der Feststellung, Graf Westarp sei es ja selbst gewesen, der sich in den Ber handlungen über die Regierungsbildung auf die angeblich fchon festgestelltes Zustimmung des Auslandes zur Tirpitz Kandidatur berufen hatte! Wie ward ihm da? Wie stand er da? Blaß, Mund auf, nach Luft schnappend, stammelnd: Ich lehne es ab, mich hier auf Brivatgespräche einzulaffen!" Zum Schluß langes Hin und Wider der persönlichen Be­merkungen, Ableugnungen, Ausredeverfuche Westarp, Hergt, zappeliger als je, Koch und wieder Westarp schließ

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Henning, Graefe, Hergt, Westarp, so sehen die Männer aus, die Deutschland retten wollen. Wem fällt nicht beim Anblick solcher Heldengestalten das alte Verschen ein:

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Nicht deutsch, nicht treu, nicht ritterlich, nicht ehrlich Nur ganz unglaublich dumm, und das macht sie gefährlich! die Wähler zu treten und sich für ihre Taten im Reichstag ein Sollten diese Herrschaften Lust verspüren, jeht wieder vor Zeugnis ausstellen zu lassen? Wir glauben es nicht von ihnen, wir glauben es auch nicht von den Kommunisten. Diese Parteien wissen, daß ihnen der 4. Mai ein unverdientes Glück beschert hat, das ihnen nie wieder zuteil werden wird, sie werden nicht das Urteil des Boltes herausfordern, das zu scheuen sie alle Ursache haben.

Die Sozialdemokratie hat im Kampf für eine Bolt und Wirtschaft erhaltende Außenpolitik die Führung

So hat die Sozialdemokratie alle Ursache, der Entschei­dung des heutigen Tages in ruhiger Entschlossenheit entgegen­zusehen. Sie tämpft nicht für den Bestand dieser Regierung, fondern für ihre eigene Sache, für die Sache der inter­und ihre Sache ist die Sache des ganzen deutschen Volkes, nationalen Verständigung, für Republik und Sozialismus. diefes unglüdlichen Boltes, an dem sich bisher das alte Wort, doß Not denten lehrt, leider noch nicht bewährt hat.

Siegt heute die Vernunft, so ist das unser Sieg. Unter­liegt sie, desto größer wird unser Sieg von morgen sein!

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In der heute fortgefeßten Debatte wird Gen. Breit scheid für die Sozialdemokratie sprechen, für die Deutsch­nationalen Herr Schlange- Schöningen. Auch die an­

Verfassungskonflikt in Frankreich .

Herriot läßt sich von Millerand nicht ernennen!

Paris , 5. Juni, 9 Uhr abends.( Eigener Drahtbericht.) Nach einstündiger Besprechung mit dem Präsidenten der Re­publik hat Herriot es abgelehnt, den Auftrag zur Re­gierungsbildung aus den Händen Millerands entgegenzu­nehmen. Abends 8 Uhr hat sich Herriot aus dem Elysée in die kammer begeben, um mit den führenden Politikern der Linken die politische Lage zu besprechen.

Entgegen der Gepflogenheit hat sich die Kammer nicht bis zur Bildung des neuen Ministeriums vertagt, sondern eine Sigung auf morgen Freitag nach mittag anberaumt. Ein Antrag auf Vertagung bis Dienstag wurde mit 324 gegen 206 Stimmen abgelehnt.

Millerands Manöver.

Paris , 5. Juni. ( Eigener Drahtbericht.) Der Besuch pain­levés am Donnerstagmorgen als neugewählter Präsident der Kammer beim Präsidenten Miller and hatte rein zeremo­niellen Charaffer. Die Unterredung hat nur wenige Minuten gedauert. Den Besuch hat Millerand eine Stunde später im Palais Bourbon erwidert.

Die offiziellen Besprechungen des Präsidenten der Republik zur Neubildung des Ministeriums haben am Donnerstag­nachmittag begonnen. Um 4 Uhr wurde als erfter Senatspräsident Doum ergue empfangen, der mit Millerand eine dreiviertelstün­dige Unterredung hatte. Eine Stunde später traf Painlevé im Elyjée ein. Obwohl keinerlei Mitteilung über diesen Empfang aus­gegeben wurde, verlautet auf das bestimmteste, daß beide Politiker Millerand in voller Loyalität, aber auch in rüdsichtslosester Offenheit die politische Lage dargelegt und ihm über die Ent­fchloffenheit der Linken, sich seinem weiteren Verbleiben mit allen verfaffungsmäßigen Mitteln zu widersehen, keinen Zweifel ge. lassen haben. Beide haben, wie zu erwarten war, Herri of für die Nachfolgerschaft Poincarés empfohlen. Herriot war auf 6.30 Uhr abends ins Elysée berufen worden.

Präsidentschaft und Verfassung.

Paris , 5. Juni. ( Eca.) Im Anschluß an die Unterhaltung zwischen Millerand und Herriot ist vom Elysée ein Rommuniqué ausgegeben worden, in dem ungefähr folgendes ausgeführt wird: Entsprechend den Angaben der Präsidenten des Senats und der Kammer, Doumergue und Painlevé , hatte Millerand heute nach mittag Herriot zu sich gebeten, um ihn zu fragen, ob er geneigt fei, ihm in der Bildung des Kabinetts seine Unterstützung zu ge währen. An diese Frage schloß sich ein Gedankenaustausch, bei dem zu Tage trat, daß eine Uneinigkeit über das Programm zwischen Millerand und Herriot nicht bestehe. Herriot schnitt als dann die Präsidentenfrage an, Millerand weigerte sich, auf diese Frage einzugehen, da dies ihm der Respekt vor den Befehen verbicte. Er machte darauf aufmerksam, daß die Verfassung für die Dauer der Amtszeit eines französischen Präfi­denten sieben Jahre vorfehe, und

daß er entschloffen sei, alle Mittel anzuwenden, um zu sichern, daß er die gefehliche Frist ausfülle. Außerdem wolle er, daß die Berfassung respektiert werde und kein Präzedenzfall für die Berlegung der Verfassung geschaffen werde. Unter diesen Umständen hat Herriot dem Präsidenten Millerand mit­geteilt, daß er die Aufgabe der Kabinettsbildung nicht über­

nehmen fönne.

Paris , 5. Juni. ( Eca.) Wie wir erfahren, hatte Herriot im An­

schluß an seine Unterhaltung mit Millerand eine Aussprache mit Bainlevé und Blum in der Kammer.

Paris , 5. Juni. ( Eca.) Herriot hat etwa ein Viertel nach 7 Uhr das Elysée durch eine Hintertür verlassen, um sich den Fragen der Journalisten zu entziehen.

Millerand hat um 28 Uhr abends seinen militärischen Adju= tanten zu dem Präsidenten der Budgetkommission des Senats, La Croix, gesandt.

Paris , 5. Juni. ( Eigener Drahtbericht.) Der von den Sozia­listen angekündigte Antrag, die Kammer zu vertagen in Erwartung einer Botschaft des Elysée", ist am Donnerstag noch nicht eingebracht worden. Ein Blatt des Nationalen Blods will wissen, daß unsere Genossen durch eine Intervention Briands zum Berzicht auf diese gegen Millerand gerichtete Demonstration veranlaßt worden seien. Diese Darlegung ist frei erfunden. Die Einbringung des An­trags ist lediglich zurückgestellt worden, um die Entwicklung ber Dinge im Lauf des Donnerstags, der für den weiteren Verlauf der Präsidentschaftskrise entscheidend ist, abzuwarten. Millerand jedoch entschlossen zu sein scheint, die bereits angekündigten Manöver bis zu Ende durchzuführen, jo ist nicht ausgeschlossen, daß die Krise sich bis Mitte nächster Woche hinziehen wird. In diesem Zusammenhang ist auch die Meldung bemerkenswert, daß der Generalgouverneur von Algier , Steeg, am Donnerstagnachmittag nach Paris abgereift ist. Man vermutet, daß Steeg, der offiziell der Linken angehört, einen Auftrag zur Bildung eines provisorischen Ka=

binetts von Willerand annehmen wird.

Herriots Zweidrittelmehrheit.

Da

Paris , 5. Juni. ( Eigener Drahtbericht.) Die Blätter der Rech­ten hatten es am Donnerstagmorgen als einen großen Triumph gefeiert, daß Painléve bei der Präsidentenwahl nur 296 Stimmen auf sich zu vereinigen vermocht hat. Sie schlossen daraus, daß die Mehrheit der Linken weit schwächer sei, als man noch zu Beginn der Woche hätte annehmen müssen. Dabei wurde verschwiegen, daß eine ganze Anzahl von Politikern der Linden am Mittwoch ver­

geffen hatte, daß der Beginn der Sizung mit Rücksicht auf das zeitraubende Wahlverfahren eine Stunde früher als sonst angeſetzt war und die fich durch ihr Zuspätfommen selbst unfreiwillig von der Teilnahme an der Abstimmung ausgeschlossen hatten. Die eigent liche Stärke des Linksblocks hat sich am Donnerstag gezeigt bei der Abstimmung über einen Antrag auf öffentlichen Anschlag der Präsidentenrede Bainlevés. Dieser Antrag wurde mit 340 gegen 176 Stimmen der Rechten und Kommunisten angenommen.