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Abendausgabe

Nr. 271 41. Jahrgang

Ausgabe

Nr. 136

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Vorwärts

Berliner Dolksblatt

5 Goldpfennig

50 Milliarden

Mittwoch

11. Juni 1924

Berlag und Anzeigenabteilung: Geschäftszeit 9-5 Uhr Berleger: Bordets- Beclag Gmb. Berlin S. 68, Lindenstraße 3 Jernsprecher: Dönhof 2506-2507

Zentralorgan der Vereinigten Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands

Vor der Präsidentenwahl.

Der Sieg der Demokratie in Frankreich .

Die Drehung der Weltkonstellation hat in dem Kampf| wußt angestrebt. Sie sieht den Sturz Millerands und um die Person Millerands eine weithin sichtbare Sym­bolisierung gefunden. Mit Millerand fällt in den Entente ländern die letzte amtliche Stüße jener Nachkriegspolitik, die die Fortsegung des Krieges mit anderen Mitteln war. Der Geist des Friedens und der Verständigung bricht sich Bahn. Eine entschiedene Aenderung der Tendenz der Außenpolitik hat sich vollzogen nicht im Sinne jener deutschen Natio­nalisten, die mur die Methode der Gewalt und nicht die Me­thode der Berständigung fennen, wohl aber im Geiste der modernen Demokratie, die eine Bürgschaft des Friedens nach außen und innen ist.

Das französische Bolt hat in seiner Mehrheit sich unzwei­deutig für die Abkehr von den Methoden Poincarés aus gesprochen. Die Mehrheit der französischen Kammer und des französischen Senats hat mit den gegen Millerand gerichteten Beschlüssen den Willer des Volkes vollstreckt. Der Kampf gegen Millerand vollzog sich nicht auf der Grundlage der Macht und der Willfür, sondern auf der Grundlage des

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demokratischen Rechts auf einer anderen Bafis, als in Deutschland der Handel um den Regierungseintritt der Deutschnationalen sich vollzog. In Frankreich hat die Mehr Deutschnationalen sich vollzog. In Frankreich hat die Mehr heit des Volkes sich unzweideutig für die Aenderung des politischen Kurses ausgesprochen in Deutschland wolltent die Deutschnationalen das Steuer herumwerfen entgegen dem flaren Willen der Mehrheit des Volkes. In Frankreich be­deutet die Machtübernahme durch den Linksblock die Siche rung des Rechts, der Demokratie, der Verfassung, in Deutsch fand hätte der Rechtsblock unter deutschnationaler Führung eine Fälschung des Willens des Volfes, eine Beugung des Rechts bedeutet.

Die Mehrheit der französischen Rammer hat mit großer politischer Geste das Recht durchgefeßt gegen den Bräsidenten der Republik . Sie hat gefiegt mit den Methoden der Demo­fratie, die für ihren außenpolitischen Kurs bestimmend sein sollen. Millerand hat bis zuletzt in der innerpolitischen Aus einanderseßung mit dem Linksblock sich der Methoden be. dient, mit denen er bisher das Verhältnis Frankreichs zu an­deren Ländern bestimmt hat der Methoden der Willkür. der Rechtlosigkeit, die dem Geifte wahrer Demokratie ins Ge­fidyt schlagen. Diese Auseinandersehung zwischen Millerand und der Kammermehrheit hat daher nicht nur formale Be deutung und nicht nur Bedeutung für den Inhalt der fran­ zösischen Politik, sondern grundsägliche Bedeutung für die Demokratie in Europa .

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Formell ist der Sturz Millerands ein Schulbelspiel dafür, wie die demokratische Methode es gestattet. mit einem Mindest. maß innerer Reibung und in verhältnismäßig furzer Zeit die politische Führung und die ausübende Gewalt der Aenderung des Willens des Boltes nachfolgen zu lassen. Mit den Mitteln der Demokratie ist in Frankreich eine Umwälzung vollzogen werden, wie sie in Ländern mit weniger demokratischer Tra­dition und weniger demokratischer Disziplin auf diesem Wege undenkbar gewesen wäre.

Man stelle sich einen der deutschen engstirnigen Gewalt­politiker vom Schlage Ludendorffs als deutschen Reichspräfi­denten vor. Würde ein parlamentarischer Linksblock in der Lage sein, ihn so hinwegzufegen, wie die französische Kammer­mehrheit Herrn Miller and hinweggefegt hat? Würde ein solcher Gewaltpolitiker in Deutschland nicht Widerstand leisten mit den Methoden der Kapp und Ehrhardt, der Hitler und Ludendorff? Ist das deutsche Volk bereits so diszipliniert in den Methoden der modernen Demokratie, daß ein solcher Konflikt in Deutschland nicht den Bürgerkrieg, die politische Umänderung nicht zugleich blutige Revolution bedeutet hätte? Ist diese demokratische Disziplinierung bei allen Organen des Staates so vorgeschritten, daß ein sich gegen den flaren Willen des Boltes stemmender Machtpolitiker nicht wagen dürfte, gegen das Recht der Demokratie an die Gewalt zu appellieren? Wir sind in Deutschland nahe an einer großen Gefahr vorübergegangen. Es wäre ein Verhängnis gewesen, wenn entgegen dem Willen der Mehrheit des Bolkes die Führung der deutschen Politik den Deutschnationalen in die Hände gespielt worden wäre. Dann hätte sich die Situation ergeben, daß in Frankreich der Geift der Demokratie triumphiert, wäh, rend in Deutschland dem Gedanken obrigkeitlicher Führung des Boltes nachgegeben wird, daß in Frankreichy prinzipiell die inneren Grundlagen für eine Verständigung der Nationen und für die Herbeiführung des Friedens geschaffen werden, während in Deutschland der Kurs abgelenkt wird vom Ge­danken des auf Recht gegründeten Friedens der Völker zum Gedanken der reinen Machtpolitik und der Berewigung des Kampfes der Nationen. Zwei Prinzipien wären scharf ein ander gegenübergestellt worden, zwischen denen eine Ver­föhnung nicht möglich ist. Deutschland wäre zurüdverfekt worden in die verhängnisvolle Situation aus der Zeit des Krieges, in der das Brinzip des Obrigkeitsstaates schwerstes Hemmnis des Friedens war.

B

Die deutsche Rechte hat eine solche Divergenz zwischen der französischen und der deutschen Entwicklung bes

den Sieg des demokratischen Gedankens in Frankreich mit schlecht verhohlenem Mißvergnügen. Grundsätzlich und ge­fühlsmäßig sieht sie in Miller and den Vertreter der macht politischen Gedankengänge, denen sie auf der anderen Seite selbst folgt, in der siegreichen Kammermehrheit aber die Ver­törperung jener verhaßten Demokratie, der ihr Kampf in Deutschland gilt. Die Deutsche Zeitung", das Organ der Alldeutschen, des intranfingenten Flügels der Deutsch nationalen, applaudiert der Botschaft Millerands an die französische Kammer und den franzöfifchen Senat. Sie gibt die Botschaft wieder unter der Ueberschrift Die Willfür der Mehrheit". Das ist der Zornesschrei jener, die durch die Willtür der Minderheit das deutsche Volk in den Kurs der Gewaltpolitik hineinziehen wollten. Sie sehen, daß der Vor­wände für ihre Politik in Europa immer weniger werden, und in ihrem Unmute zeigen sie unverhohlen die Bundesge­nossenschaft mit dem Geifte der Poincaréschen und Millerand­schen Gewaltpolitik. Eine Bundesgenossenschaft bis über das Grab hinaus!

Die Machtübernahme durch die Rechte in Deutschland Vorzeichen bedeuten, die den Weg zum Frieden ebenso ver würde die Wiederkehr der alten Konstellation mit ungefehrten sperren würde wie die bisherige Konstellation. Heute morgen schreibt der" I a g", der Parteigänger der Deutschnationalen: ,, Aber wir geben uns feinen Illusionen über das praf­tische Ergebnis der fünftigen Berhandlungen zwischen Frankreich und Deutschland hin, weil uns auf der einen Seite das Kartell der Linken feine absolute Garantie für die pöllige Beseitigung des Poincaristischen Machtgeistes in der französischen Politik gegen Deutschland bietet und auf der anderen Geite eine er füllungsbereite Reichsregierung steht, die bie natio­nalen Belange bisher nicht in der Weise vertreten hat, daß mir zu ihr jenes uneingeschränkte Vertrauen haben fönnten, dessen sie im vaterländischen Interesse für die erfolgreiche Führung der Auseinandersetzung mit Frankreich bedarf."

Diese Leute scheinen sich verderblichen Illufionen über die Ursachen der Drehung der politischen Konstellation hinzugeben! Der Bille zur Berständigung ist im Wachsen nicht wegen des mangelnden Berständigungswillens der deutschen Rechten, sondern trog ihres mangelnden Verständigungswillens! Es ist nicht der Gedanke der von den Deutschnationalen ver­tretenen Machtpolitik in Deutschland , der zum Sturze Mille rands geführt hat, sondern der Geist der Demokratie, und die Abkehr vom Geiste der Demokratie und der Verständigung in Deutschland fönnte diese Entwidlung leicht wieder rüd läufig machen!

Millerands Abschied.

Paris , 11. Juni .( Eca.) Millerand dankte gestern den Mit gliedern des Kabinetts François Marsal , wie eine offizielle Note mitteilt, mit folgenden Worten: Meine lieber: Freurbel Darf ich der Selbstlosigkeit haben Sie sich um unseren Freund François Ihnen aus innerstem Herzen meinen Dant ausdrücken. Mit rühren Marsal geschart, um einem Präsidenten Ihre Freundschaft zu be zeugen, deffen Mitarbeiter Sie fast alle gewesen sind, und die Ber. fassung gegen eine Verlegung zu schüßen, bie für das Regime selber bedrohlich war. Wenn troß Ihrer Anstrengungen und den Be­mühungen der klarbenkenden Republikaner das Barlament vor unseren Warnungen das Ohr verschlossen hat, so hat das Land diese

doch vernommen."

Paris , 11. Juni .( Eca.) Die Mitglieder des Kabinetts François Marjal trajen um 12 Uhr im Elysée zu einem Minister­rat unter Borfit Millerands zusammen. Millerand teilte den Teri feiner Rüdtrittsbotschaft mit; die Botschaft wird heute nach miltag 3 Uhr in beiden Häusern des französischen Parlaments ver­lesen werden.

Ein Kartell der Linken.

Paris , 11. Juni .( Eca.) Die Mitte, die gestern durch ihre ein mütige Abstimmung die Demiffion Millerands erzwungen hat, steht nunmehr vor der Aufgabe, einen gemeinsamen Kandidaten als Nachfolger Millerands aufzustellen. Die Nationalversammlung wird übermorgen in Versailles zusammentreten. Die französische Verfaffung bestimmt, daß die Neuwahl des Präsidenten im Ber laufe von drei Tagen" nach Abgang des Präsidenten zu erfolgen hat. 3n der Zwischenzeit fällt die Erefutivgewalt dem jeweiligen Mi­nisterpräsidenten zu, in diesem Falle also François Marsal , der auch nach der Wahl des neuen Präsidenten die Aufgabe hat, diefen in sein Amt einzusetzen. Für die Nachfolgerschaft Millerands stehen nach wie vor Painlevé und Doumergue im Vordergrund. Bon den Blättern des Linken Blodes tritt nur der Quotidien" ausdrücklich für Bainlevé ein, während sich die übrigen Blätter zurückhaltend zeigen. Die Ere Nouvelle" schreibt: Die Namen Gafton Doumergue und Baul Painlevé werden in den Bordergrund geftellt. Es ist nicht unfere Sache, für den einen oder anderen Partei zu ergreifen. Domergue ist ein loyaler Republikaner, ein hervorragender Senatspräsident. Er genießt die Achtung aller unserer Freunde, die es mit großem Bedauern sehen würden, wenn er den Vorsiz des Senats aufgäbe. Es bestände dann die Möglich keit, daß er durch Poincaré ersetzt werden könnte."

Im übrigen besteht die linte Bresse jedoch darauf, es sei umbe­fingt notwendig, daß das Rartell mit einem einheitlichen Kandidaten vor die Nationalversammlung träte. Es ist vor läufig noch nicht klar, welche Fraktionen und Barteigruppen an der Versammlung der Linden teilnehmen würden, bei der die Kandidatur für die Präsidentschaft aufgestellt wird. In einer Notiz, die gleich­lautend von fast allen Blättern des Linten Blods gebracht wird, werden die Frattionen des Kartells eindringlich aufgefordert, sich auf einen Kandidaten zu einigen. Im übrigen wird die Mög­lichkeit ins Auge gefaßt, daß die Nationalversammlung in Versailles bereits morgen, Donnerstag, zusammentritt.

Befriedigung der Linkspreffe.

Paris , 11. Juni .( EP.) Die Demission Millerands hat in der linksstehenden Bresse begreiflicherweise die größte Befriedi gung ausgelöst. Im allgemeinen bezeichnet man Painlevé als voraussichtlichen Nachfolger Millerands. Das Deuvre" schreibt: Wir haben nicht die Gewohnheit, die Besiegten mit Füßen zu treten. Aus der gestrigen Gigung fönnen wir aber die furze und inhaltreiche Lehre ziehen, daß Frankreich zum zweitenmal proffamiert hat, daß es

unter feinen Umständen einen persönlichen Machthaber

nicht verstanden, mit Eleganz zu demiffionieren. Er habe den Augen­anerkennen würde. Im Beuple" wird erklärt, Miller and habe es blid verpaßt, wo er feinen Gegnern mit einer gewissen Ironie hätte zurufen können: Auf Wiedersehen, meine Herren!" Er habe sich hinter die These der Achtung vor der Verfassung gestellt, Vergleiche angestellt, Stimmen gezählt und jeden Morgen sich bestrebt, dis Lösung der Krife, die vorauszusehen war, noch um 24 Stunden zu verzögern. Er habe die Berabschiedung dem freiwilligen Rücktritt vorgezogen. Die Ere Nouvelle stellt frohlodend fest, Milleront fei niemals auf seine Rechnung gekommen. Er sei mindelweich geslagen worden. Seine Präsidentschaft endige in der Ber. achtung. Der Quotidien" schreibt, daß, wenn Millerand einige Tage früher demissioniert hätte, dies nur das Ende einer Bräsident schaft der Republik bedeutet haben würde. Nach den gestrigen Er eigniffen bedeute aber Millerands Demission auch

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das Ende Millerands als Politiker.

In der Bictoire" schreibt Hervé, daß Frankreich seit gestern feine legale Regierung mehr befize. Gestern fei ein Staatsstreidy verübt worben. Es wäre überraschend, wenn es der Oppofition nicht ge­lingen follte, in den nächsten vier Jahren im Lande die nötige Agitation zu veranstalten, um dann wieder die Mehrheit zu ge winnen. Die neue Regierung möge sich aber in acht nehmen und das Land nicht in zu große Unordnung stürzen, denn in diesem Falle würde sie nicht durch die Stimmzettel, sondern durch Fußtritte aus dem Barlament hinausgeworfen werden.

Der neue Kurs.

England für deutsche Einheit und Republik . Condon, 11. Juni .( WEB.) Der diplomatijche Bericht erstatter des Daily Telegraph beglückwünscht die belgische Regie. gener in der belgischen Zone. Er ift der Ansicht, man könne sid rung zu der beabsichtigten Freilassung politischer Gefan darauf verlassen, daß die kommende franzöfifche Regierung ein gleiches Berfahren verfolgen werde. Die britische Regierung merbe Belgien für seine Haftung dankbar fein, die, wie man glaube, eine rasche Befferung in den Beziehungen zwischen den Alliierten und

Deutschland zustande bringen werde.

London , 11. Juni .( WTB.) Im heutigen Leitartikel des Daily Telegraph " beschäftigt sich das liberale Parlamentsmitglies Fisher mit der Deutschen Einheit. Er behandelt die französischen Bersuche, die Zersetzung des Deutschen Reiches herbei­suführen, denen er die Auffassung ber Engländer entgegensetzt, die im Sturz der Hohenzollern monarchie einen wirklicher und wesentlichen Fortschritt für die Sache des Weltfriedens erblickt. Für England sei dieser Sturz ein Ergebnis von fapitaler Bedeutung gewesen. Fisher betont, daß die beutsche Republi? schwach fei, weil sie die demütigenbe Laft des Berfailler Friebensvertrages zu tragen habe. Wenn die deutsche Re­publit verfuche, den Bertrag zu erfüllen, so feßt sie sich dem Wider­ftreben eines Teiles des deutschen Boltes, wenn fie dagegen in Ber zug gerät, der Rache der Alliterten aus. Fisher ist der Anficht, daß die deutsche Republit trobem eine beffere Garantie für die Republit Frankreichs bildet als eine deutsche Monarchie. Die Berwendung farbiger Truppen im Rheinlande und die Besetzung des Ruhrgebiets hätten zweifellos die monarchistischen Parteien gestärkt. Biele Franzosen glaubten, daß es zur Sicherheit Frankreichs bei trage, wenn die deutsche Republit immer mehr ins Chaos finde uns das Leben jeder deutschen Regierung in dauernder Gefahr schwebe. Die separatistische Bewegung im Rheinlande, in der Pfalz und Bayern erscheine dem Durchschnittsfranzosen als eine weit vernünf­tigere und wirksamere Methode, um das Mächtegleichgewicht her zustellen. Es sei die Klaffische französische Politik Richelieus, Ma­zarins, Colberts und Napoleons , Deutschland zu zerteilen, um es zu fontrollieren. Demgegenüber betont Fisher, daß sich die Entwick lung Deutschlands im Gegenteil zu einer größeren Zentralisierung hinbewege. Man könne nicht glauben, daß irgendein nennenswerter Erfolg befchieden sein könne, wenn Teile des Deutschen Reiches vos Baterland losgelöst würden.