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Abendausgabe

Nr. 277 41.Jahrgang Ausgabe B Nr. 139

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5 Goldpfennig

50 Milliarden

Sonnabend

14. Juni 1924

Vorwärts=

Berliner Volksblatt

Berlag und Anzeigenabteilung Geschäftszett 9-5 Uhr

Berleger: Borwärts- Berlag GmbH. Berlin S. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 2506-2507

Zentralorgan der Vereinigten Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands

Sozialdemokratie und Landwirtschaft.

Stellungnahme auf dem Parteitag.

Der Parteitag wurde heute am letzten Verhandlungstag mit einer Rundgebung der Trauer um den italieni­schen Genossen Matteotti eröffnet. Während die Teilnehmer sich von den Plägen erhoben, gedachte Vorsitzender Wels

in ergreifenden Worten dieses ausgezeichneten Kämpfers und Menschen, der feigen Meuchelmördern zum Opfer gefallen ist. Unwillkürlich muß diese Mordtat an die Opfer des deutschen Faschismus erinnern und so sprach Wels auch von Erzberger und Rathenau und den vielen anderen, die den deutschen Hafenkreuzbanditen zum Opfer gefallen sind. Rache wird die Sozialdemokratie nehmen durch die Tat der Revolutionierung der Köpfe gegen Barbarei und Reaktion in allen Ländern.

Der Parteitag nahm fast einstimmig die Entschließung an, die unseren Parteigenossen jede Mitarbeit an der Moskauer Propaganda- Unternehmung, genannt Inter­nationale Arbeiterhilfe" untersagt. Das Beamtenprogramm wurde genehmigt, der Bil dungsausschuß in seinen Aemtern bestätigt.

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Einen breiten Raum nahm in den fachlichen Berhand lungen die Stellungnahme der Sozialdemokratie zur Agrarfrage ein. Genofje Selling, der als Borsigen der des Vereins nordwestdeutscher Heuerleute die Nöte der Kleinbauern und Bächter aus nächster Nähe erlebt, dabei aber auch kritisch genug war, zu betonen, daß eine 3er fchlagung des Großgrundbefizes der Sozialdemokratie fern liege, forderte mit allem Nachdruck den Ausbau der Sied Jungstätigkeit und der besonderen Nugbar machung des Debgeländes. Die Enteignung von Debland stößt meist auf den schärfsten Widerstand der Eigentümer. Die Anliegersiedlung müsse ferner gefördert werden. Der Redner wandte sich gegen die Annahme, daß es zweckmäßig fei, städtische Arbeiter auf das Land zurüd­zuführen. Für ihn tommt mehr die Wohnsiedlung mit seinem Landbefiz in Betracht. Ganz besonders widmete sich Helling der Frage des Pachtschutzes. Die Pachtschuhverord­nung, die unter der Regierung Hermann Mül= Iers feinerzeit erlassen worden ist, ist eine politisch anerkannte Tat. Ihre Durchführung jedoch scheitert oftmals am Wider stand von Vorsitzenden der Bachteinigungsämter, die selten gegen den Großgrundbesig entscheiden. Besonders empörend ist es, wenn man hört, wie Großagrarier die Nöte der Pächter ausnußen, um einen politischen Drud auf sie auszuüben, sei es, indem sie sie zwingen wollen, dem deutschnatio= nalen Landbund' beizutreten, sei es, weil sie sich dafür rächen wollen, daß viele Pächter sozialdemo­fratisch gewählt haben. Helling wies weiter darauf hin, daß die Bielheit der Steuern den Landwirten die Steuerhinterziehung erleichtert und ents wickelte das Programm einer Einheitssteuer, die eine reine Heftarsteuer sein soll( diese Steuerreform hat Helling auch im Borwärts" ausführlich begründet). Nicht kommunistische Bodenaufteilungspläne, sondern Bodenreform und gerechte Steuern werden auch auf dem Lande für die Sozialdemokratie werben. Dazu muß die Steuergesetzgebung produktions­fördernd sein.

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Inzwischen war die Nachricht von der furchtbaren Eisenbahnfatastrophe am Potsdamer Bahn hof eingetroffen, die Genosse Wels in einer furzen Rede würdigte. Der Parteitag hatte sich zur Beileidskundgebung für die Opfer und ihre Angehörigen erhoben.

Sodann erhielt Genoffe Georg Schmidt das Wort zu einer Diskussionsrede, in der er sich mit aller Schärfe gegen die Lohndrückerei der Agrarier wandte, die verlogene fommunistische Demagogie tennzeichnete und an die Mitarbeit aller Genossen appellierte, auf dem platten Lande für die Sozialdemokratie zu werben.

Genossin Adelheid Popp , die Führerin unserer Ge­noffinnen in Deutschöftereich, war inzwischen auf dem Partei­tag eingetroffen. Sie wurde lebhaft begrüßt, als sie das Wort zu einer furzen Ansprache nahm. Es habe den österreichischen Genossen, versicherte fie, teine Ruhe gelaffen, auf einem reichs­deutschen Parteitag nicht durch persönliche Delegation vertreten zu sein und so sei fie gekommen, um die unbedingte Solidarität und unzerreißbare Berbundenheit der deutschösterreichischen Sozialdemokratie mit der reichsdeutschen Bruderpartei zu ver­fünden. Sieg und Niederlage, Aufstieg und Kämpfe find den beiden Parteien gemeinsam. Der Parteitag dankte der Red­nerin durch stürmischen Beifall und Genosse Wels fügte den Dank der Partei für die brüderliche Hilfe der österreichischen Genoffen in fchwerer Inflationsnot hinzu.

Darauf begann Genosse Dr. Silferding fein großes Referat über die Reichstagswahlen. Bei Schluß des Blattes begann die Diskussion. Als erster Redner sprach Dr. Levi. Nach Beendigung dieser Debatte, die fich zugleich auch auf das Referat Hilferdings er streckt, wird das Ergebnis der Wahl des Parteivorstandes und der Kontrollkommission mitgeteilt werden und nach Erledi­gung der etwa noch vorliegenden Anträge wird der Parteitag geschlossen werden.

Dritter Verhandlungstag.

Sonnabend, den 14. Juni 1924, Bormittagssigung.

Die heutige Sigung des Parteitags stand ganz unter dem Ein­brud der Nachricht von der ruchlosen Ermordung unseres italienischen Genossen Matteotti . Gleich nach Er öffnung der Tagung erhebt sich Genosse Weis, um im Namen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands der italienischen Bruder partei das Beileid auszusprechen und seinen Abscheu vor der feigen Untat der Faschisten auszudrücken. Seine Rede gestaltete fich zu einer flammenden Auflage gegen den Faschismus in allen Län­bern, vor allem auch in Deutschland . Im einzelnen führte Gen.

wels aus:

Bahrscheinlich in derselben Stunde, zu der am Eröffnungstage des Barteitages Crispien hier der Mitarbeit des Genossen Matteotti an der internationalen Berständigungsarbeit gedachte, ift Matteotti dem Stahl von Meuchelmördern er­legen.( Stürmische Pfuirufe. Die Teilnehmer des Parteitages erheben sich von den Bläßen.) Mit Matteotti verliert der inter­nationale Sozialismus einen seiner fähigsten und mutigsten Köpfe. Wir sehen in ihm die Intarnation des persönlichen utes, des Bekenntnisses zum Sozialismus auch in den schwersten Beiten. Mannhaft widerstand er den Maßnahmen des Diktators Muffolini und seiner aufgehegten Banditenbande. Bor uns steigen auf die Schatten der in Deutschland ermordeten Blutzeugen der Revolution, vor uns fteigen auf die Schatten Grabergers und Rathenaus, die durch Gesinnungsgenossen derer fielen, die Matteotti zur Strede brachten. Ein edler Wild fiel niemals. Wir machen die Schergen Italiens verantwortlich für die Saat, bie folche Früchte trägt, wir rufen auf zum Kampf gegen lin­fultur und Barbarei. In Watteotti fehen wir einen Märtyrer für die Befreiung der Arbeiterklasse. Sorgen wir dafür, daß es nicht bei dieser Ehrung durch Worte bleibt, sondern daß wir Rache nehmen durch die Tat, durch die Revolutionierung der Köpfe gegen die Barbarei und Reaktion in allen Ländern.( Lebhafter Beifall.)

Sozialdemokratie und JAH.

Es wird dann zunächst die Resolution fast einstimmig an­genommen, die eine Beteiligung an der Internationalen Arbeiterhilfe als unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei erklärt.

Das vorgelegte Beamtenprogramm wird mit einigen Aenderungen afzeptiert. Der Reichsausschuß für sozialdemokratisches Bildungswesen wird in seiner bisherigen Zusammenfeßung bestätigt.

Auf Vorschlag des Borfizenden des Bureaus werden hierauf die noch ausstehenden Referate zu den Punkten: Die Sozialdemo­tratie und die Landwirtschaft" und" Die Reichstagswahlen und die Sozialdemokratie" nacheinander entgegengenommen, und die Dis­fussion foll dann gemeinsam über beide stattfinden.

Unsere Stellung zur Landwirtschaft. Zum ersten Punkt referiert

Genosse Wilhelm Hlling: Unserer städtischen Bevölkerung fehlt vielfach das Verständnis für die Bedürfnisse der Landwirtschaft. Die Sozialdemokratische Partei hat früher stets die theoretische Auf­faffung vertreten, daß die ökonomische Entwicklung mit Saturno­wendigkeit zur Bernichtung des Kleinbetriebes audy in der Landwirtschaft führen müsse. Das trug natürlich nicht dazu bei, besseren Programm hätte man sie nach meinen Erfahrungen in der die Kleinbauern für die Partei zu gewinnen. Aber auch mit einem Bandagitation infolge ihrer geistigen und wirtschaftlichen Abhängig. feit schwer für die Partei gewinnen fönnen. Bereits 1894 wurde auf dem Barteitag von Bollmar anerkannt, daß die Partei ein­gehender die landwirtschaftlichen Zustände studieren müsse. Der den verschiedenen Barteibagen. In der Nachkriegszeit hat dle Redner schildert im einzelnen die Entwicklung der Agrarfrage auf Partei dann mehr praktische Arbeit auf diesem Gebiete geleistet. Eine wertvolle Bereicherung der agrarpolitischen Literatur bot das Buch des Genossen Dr. David: Sozialismus und Landwirtschaft", das der Entwicklung der letzten Jahrzehnte Rechnung trägt. Nach dem Reichsfiedlungsgefet kann Debland auf Antrag eines Siedlers enteignet werden. Das Enteignungsverfahren stößt aber meist auf schärfften Widerstand der Eigentümer, die mit einem Stab von Rechtsanwälten die Siedlung sabotieren. Die Großgrund. befizer im Osten erklären, es gibt im Westen, noch 2 Millionen Hektar Moor- und Dedland, die Grundeigentümer des Westens behaupten, wir brauchen Dedländereien für unsere Stinder und Rindestinder; man solle zunächst einmal den Großgrundbefizern im Often zu Leite rüden und die Statsdomänen aufteilen. Das Sied­lungsgefeß muß zunächst so gehandhabt werden, daß den Latifundien befizern der größte Teil durch den Staat gegen angemessene Ent­Schädigung enteignet wird.

Der Großgrundbesih soll nicht zerschlagen werden; das wäre schädigend für die Boltsernährung. Aber wenn einer 20 Güter von je 500 Heftar hat, dann genügt es, wenn er eins für sich behält und 19 abgibt.

Im Osten müssen unwirtschaftliche und unrentable Kleinbetriebe bis zu einer Ackernahrung vergrößert werden. Die Statistit von 1882 bis 1907 zeigt, daß die landwirtschaftlichen Klein= betriebe sich um 160 000 vermehrt haben. Die betriebs. technische Entwicklung vollzieht sich in der Landwirtschaft anders als in der Industrie. Heute steht fest, daß der Kleinbetrieb pro Flächen­einheit unbedingt mehr erzeugt als der Großbetrieb; hingegen ist der Produktionsprozeß im Großbetrieb rentabler. Der Kleinbetrieb verfügt vielfach über zu kleine Flächen, um die Arbeitsfraft einer Familie voll auszuwerten. Das trifft vielfach auch auf die Pächter zu. Der Arbeiter aus der Stadt tann ruhig ein Häuschen mit zwei Morgen draußen gewinnen; aber davor möchte ich warnen, anzu­nehmen, daß es zweckmäßig wäre, Arbeiter als Landwirte zurückzusiedeln auf das Land. Die Aufgabe fann nur fein, den Ueberschuß der Landbevölkerung durch Zubeilung von Land auf dem Lande zu erhalten. Siedlermaterial ist vorhanden. Der Ein­

Katastrophe auf der Wannseebahn .

Zwei Tote, 22 Schwer- und 20 Leichtverletzte.

Auf dem Potsdamer Bahnhof in Berlin hat sich heute in| aufgingen. Die Fenster waren so ineinandergeschoben, daß die In­den Morgenstunden ein Eisenbahnunglüd von schwersten Folgen zu getragen. Die erste amtliche Meldung darüber besagt:

Heute um 8,15 Uhr vormittags fuhr der Personen3ug 361 bei der Einfahrt in den Potsdamer Fernbahnhof auf den vor dem Einfahrtssignal haltenden Vorortzug 4121 a auf. Nach den bisherigen Feststellungen wurden zwei Reisende getötet, 20 Reisende schwer und 20 Reisende leicht verletzt. Tote und Berlehte wurden sofort durch die Rettungswache geborgen und die Verletzten dem Elisabeth- Krankenhaus zugeführt. Die Schuld an dem Unfall trifft den Fahrdienstleiter im Be­fehlsstellwert des Potsdamer Fernbahnhofes, der den Vorortzug 4121a durch Blod zurüdmeldete, ohne daß die Einfahrt des Zuges erfolgt war. Er war hierzu in der Lage, weil seit Eintritt einer Blockstörung um 7,40 Uhr vormittags die Auslösung der Blodtaster­sperre mit der Hand erfolgen mußte. Der Fahrdienstleiter hat es weiter verfäumt, fofort nach Eintritt der Blockstörung das dann allein maßgebende Zugmeldeverfahren einzuführen.

Wie der Zusammenstoß erfolgte. Der Wannseer Zug 4121a war fahrplanmäßig 8.10 Uhr in Berlin eingetroffen und mußte, da Einfahrtssignal nach dem Wannseebahn­hof noch nicht gegeben worden war, an der Hafenplatzbrüde halten. Der ungefähr acht Minuten später temmende Personenzug aus Magdeburg scheint nun das Holtesignal übersehen zu haben unb fufyr, allerdings scharf gebremst, weiter. Grit ganz furz -wohl drei Meter entfernt- jah der Zugführer des Fernzuges din haltendon Borortzug. Er versuchte mun, den Zug auf der Stelle zu bremsen, und zwar zog er die Luftdrucktremse an, doch geschah dies zu spät, die Cotomotive fuhr auf die letzten Wagen des Vorort­zuges, so daß sich diese aufeinandertürmten. Die Lage der Baffagiere der Borortzug war bis auf den letzten Plas ge­füfft- war eine furchtbare. Die einzelnen Abteile hatten sich ineinander verschachtelt, so daß die Türen der Kupees nicht mehr

fassen der Abteile, die dazu überhaupt noch fähig gewesen waren, nicht mehr durch dieselben herausspringen fonnten. Außerdem aber waren Nebenstrecken durch andere Züge befeßt. Sum Unglüd explodierte noch ein Gasbehälter eines Wagens. Die Flammen schlugen empor und verwehrten so den Passagieren in einigen At­teilen sich selbst zu retten. Die zahlreichen Arbeiter des in der Nähe gelegenen Güterschuppens der Potsdamer Bahn eilten fofort zur Hilfe herbei und man alarmierte die nächste Feuerwache 11, die alsbald, kaum einige Minuten nach dem Unglück, auf dem Tatort eintraf. Die Sappeure schlugen nun unter dem Jammergesches der zahlreichen Verletzten die Türen und Fenster mit den Aerten ein und fo gelang es schließlich, die Insassen der drei Wagen aus ihrer furchtbaren Lage zu befreien. 15 Personen, die schwerere Ber­fetzungen erlitten hatten, wurden durch die Rettungswagen des Ber­Miner Rettungsamtes mit Hilfe der Samariter der Feuerwehr nach verschiedenen Krankenhäusern gebracht. Zahlreiche Leichtverletzte be­gaben sich nach den nahegelegenen Unfallstationen und ließen fich hier die erste Hilfe leisten. Nach den Aussagen von Baffagieren, die fast alle Bewohner ber Bororte Groß- Berlins find, haben bie ersten agen des Zuges wenig oder fast gar nichts von dem Zusammen­stoß gemerkt. Nur in den letzten fünf Wagen war der Anprall ein so furchtbarer, daß die meisten Insassen zu Boden fielen und leichtere und schwere Verletzungen davontragen. Viele Frauen und Mt à dchen wurden, wie ein Augenzeuge aussagt, ohnmächtig oder verfielen in Schreiträmpfe. Dazu trat noch das Sammern und Web­Hagen der in den letzten sieben Abteilen befindlichen eingeklemmten Personen, bie faft durchgängig schwere Kontufionen davongetragen haben. Die Güterarbeiter, die zuerst an der Stelle waren, versuchten mit Brechfangen und Aerten die Türen zu öffnen. Es gelang ihnen nicht und erst die hinzukommende Feuerwehr brachte Hilfe. Der Anblick der Schwerverwundeten war ein furchtbarer. Sie wurden faft alle blutüberströmt herausgezogen.

( Weitere Meldungen fiche 3. Seite.)