Abendausgabe
Nr. 285 41. Jahrgang Ausgabe B Nr. 143
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Dolksblatt
5 Goldpfennig
50 Milliarden
Donnerstag
19. Juni 1924
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Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
Die Erschütterung des Faschismus.
Forderungen der Opposition.- Wiedereinberufung der Kammer? Rom , 19. Juni. ( EP.) Die Oppositionsgruppen Spion der Mörderbande Dumini Volpi betätigte | haben sich gestern abend versammelt und sich von den bisherigen und jetzt wieder mit sozialistischen oder kommunistischen AbgeordMaßnahmen der Regierung als nicht befriedigt erklärt. Sie neten unter dem Vorwand Fühlung zu nehmen suchte, er fönne verlangen ein entschlossenes Vorgehen der Regierung zur resflojen Enthüllungen in der Sache Matteotti machen. Traischive, der Aufklärung des Verbrechens, feiner Auftraggeber und feiner Ver- entweder Desterreicher oder Russe ist, fagte aus, er sei unter Spiozweigungen. Sie haben sich für ein gemeinsames Borgehen nageverdacht im Gefängnis zu Neapel gewesen, als er auf Befehl auf parlamentarischem Boden verständigt, dem nur aus Rom freigelassen und zu Dumini nach Rom gerufen die Kommunisten fernbleiben. Am 25. Juni wird eine Berjamm- worden sei, der ihm eröffnet habe, es sei ein großer Streich auslung aller Oppofitionsabgeordneten als Gedächtnisfeier für zuführen. Vor allem müsse er den sozialdemokratischen Abgeord Matteotti ftattfinden, um eine Tagesordnung anzunehmen, in neten Matteotti genau verfolgen, um zu sehen, wohin er welcher die Lage als noch ungeklärt bezeichnet und die Forderun gehe und was er tue. Wenn die Sache gelinge, fönne er eine Be gen der Opposition zur Klärung der politischen Lage aufge- lohnung von 80000 tre verdienen. Da er jedoch gegen zählt werden. das Unternehmen Bedenken gehabt habe, habe er Matteotti von der Gefahr zu unterrichten versucht, habe aber dabei bemerkt, daß er felbst überwacht worden sei. Auf den Dienstag, an dem der Ueber fall auf Matteotti erfolgte, habe Dumini ein Stelldichein mit ihm verabredet, sei jedoch nicht erschienen. Tags darauf habe er ihm gesagt, seine Mitwirkung sei nicht mehr nötig, da schon ge fchehen sei, was hätte ausgeführt werden sollen. Die Frau Matteottis bestätigte, daß in der Woche vor dem Verschwinden Matteottis wiederholt ein Unbekannter mit ruffischem Typus in ihrer Wohnung erschienen sei und unbedingt Matteotti zu sprechen wünschte, dem er persönliche Mitteilungen zu machen habe. Frau Matteotti und das Dienstmädchen schickten ihn in die Kammer, wohin er aber als Ausländer nicht gehen wollte. Auf eine mit Swan unterzeichnete schriftliche Anfrage hin habe er dann später Matteotti auf der Straße getroffen. Matteotti fagte später zu feiner Frau, es handle sich um einen der gewonhten Langweiler. Es ist ein Spion, der sowohl mir wie dem anderen Dienste leisten möchte."
Die Gruppe der Einheitsfozialisten nahm eine Tagesordnung an, in der es heißt, die Verantwortung für das entfehliche Berbrechen beschränke fich nicht auf die gedungenen Mörder und die Auftraggeber, sondern treffe die ganze Regierung. Das Andenken Matteottis tönne nur würdig geehrt werden, indem man die Befreiung des Landes von der Dittatur vorbereite, die es unterdrüde und entehre.
Einige Abgeordnete beabsichtigen von der Regierung eine genaue Untersuchung über die Verwaltung des Prejsebureaus des 3nnern durch Roffi zu verlangen. Man ist sehr gespannt auf die Erklärungen, die Muffolini am nächsten Dienstag bei der Wiedereröffnung des Senates abgeben wird, jedoch erwartet man vorher noch den Zusammentritt eines Ministerrates. 3m Monte Cafforio wird so wohl von der Regierungsmehrheit als von der Opposition der Wiederzufam- mentritt der kammer in Aussicht genommen, die unter dem starken Eindruck des Verschwindens Matteottis und wegen des Sigungsstreifes der Opposition gefchloffen worden war. Die Regierung scheint einem Wiederzufammentritt des Parlamentes grundfählich nicht abgeneigt zu sein, so daß man die Wiedereröffnung in parlamentarischen Kreifen für die erste Julihälffe für möglich hält. Es wurde darüber noch kein Beschluß gefaßt. Die Kammer
gruppen werden sich heute abend nochmals versammeln.
Beschwichtigungsversuche.
Rom , 19. Juni. ( TU.) Mussolini hat ein neues propis forisches Direttorium der faschistischen Partei er nannt, um eine strenge Disziplin im Hinblick auf den bevorstehenden nationalen Parteifongreß durchzuführen. Die Abgeordneten der Mehrheit sind aufgefordert worden, sich nach ihren Wahlfreifen zu begeben und der Bevölkerung mitzuteilen, daß die politische Situation feinerlei Aenderung erfahren merde. Die liberale Partei hat Mussolini den Ausdruck ihrer Solidarität übermittelt.
Der neue Innenminister Feder: 3oni hatte eine lange Unterredung mit Mussolini , den er davon unterrichtete, daß in allen Provinzen vollkommene Ruhe herrscht und daß die Präfekten versichern, die Bevölkerung erwarte vertrauensvoll(!), daß das von der Regierung begonnene Werf der Gerechtigkeit mit unbeugfamem Willen fortgesetzt werde. Der neue Generaldirektor des Sicherheitsdienst es hat am Mittwoch sein Amt angetreten. Im Zusammenhang mit der Ermordung Matteottis hat die große fastische Tageszeitung„ Corri. ere Italian o" auf den Beschluß der Redaktion hin ihr Er scheinen eingestellt. In der Begründung spricht der Chefredakteur von einer verwickelten und schwierigen Lage des Blattes, die unbedingt eine gründliche Reorganisation und vielleicht völlige Umwandlung erfordere.
Rom , 19. Juni. ( WIB.) Die Vereinigung der Front tampfer, die fast alle ehemaligen Frontkämpfer umfaßt, hat eine Tagesordnung angenommen, in der versichert wird, daß das Ber. trauen der Massen zum Wert der Regierung Mussolinis lebhaft und
unerschütterlich sei.
Rom , 19. Juni. ( WTB.) Agenzia Stefani medet, das Diret. torium der Faschistischen Partei nahm aus allen Brovinzen einlaufende Kundgebungen entgegen, die alle ihr unerschütterliches Vertrauen zur Regierung und ihre völlige Ergebenheit für Mussolini bekunden. Der Vorstand der faschist i= schen Gewerkschaftsverbände nahm eine Tagesordnung an, in der tiefster Schmerz über das an Matteotti begangene Berbrechen zum Ausbruck gebracht wird und von neuem im Namen aller den Verbänden angehörigen italienischen Arbeiter das unerschhütterliche Bertrauen für Mussolini ausgesprochen wird.
Zwei neue Verhaftungen.
Rom , 19. Juni. ( EP.) Großes Aufsehen erregt besonders in Faschistenkreisen die nunmehr ebenfalls erfolgte Verhaftung des administrativen Generalsekretärs der Faschistenpartei in Rom Marinelli auf Befehl des Untersuchungsrichters. Mari. nelli wird beschuldigt, andere Personen verleitet zu haben, Matteotti seiner persönlichen Freiheit zu berauben. Er stand in engster Beziehung zum Pressechef Rossi und wird auch als Leiter der terro ristischen Bande innerhalb des Faschismus betrachtet, die die unversöhnliche Taftit der Partei begünstigte. Er zeigte sich von seiner Berhaftung äußerst überrascht und protestierte lebhaft. Marinelli gehörte auch dem Großen Faschistenrat an. Früher war er revolutionärer Sozialist und hatte sich dann der Bewegung Muffolinis angeschlossen.
Auf Grund einer Anzeige der sozialdemokratischen Gewerkschaften ist ein gewiffer Traifchipe perhaftet worden, der fich unter verschiedenen Namen in Arbeitertreifen als Spiel und
2017
Filipellis Geständnis.
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Rom , 19. Juni. ( EP.) Die Abendblätter berichten, Filipelli habe die ersten Geständnisse gemacht und dadurch dem Untersuchungsrichter viele Anhaltspunkte gegeben. Filipelli hatte miederholt Weinträmpfe und ist sehr niedergeschlagen. Sein Vermögen in Mailand wurde beschlagnahmt. Auch Dumini begann die indirekte Teilnahme an dem Verbrechen zuzugeben, als ihm das in seiner Tasche gefundene blutige Meffer gezeigt wurde. Er ist sehr gereizt, so daß der Untersuchungsrichter die schärfste Bewachung anordnete.
Der faschistische Erpressechef Rossi soll in der Toscana und dann in Livorno gesehen worden sein, wo die Polizei fieberhafte Fahndungen anstellt und alle im Hafen liegenden Schiffe und Boote absucht, bisher jedoch erfolglos.
Das Blatt Sereno" berichtet: Der Sekretär der römischen Faschistenfektion hat sofort nach dem Verschwinden Matteottis eine strenge Untersuchung bei allen Zweigseftionen in Rom angeordnet und in Erfahrung gebracht, daß ein Faschist der Entführungsszene zugesehen hat. Der Sekretär machte der Polizei sofort Mitteilung, die aber nicht einmal diesen Augenzeugen verhört haben soll. Die Blätter verlangen, daß die Berantwortung für diese Unterlassung genau festgestellt werde.
Das Programm von Chequers . Allgemeine Aussprache. Herriot und die fünf Punkte Poincarés.
Paris, 19. Juni. ( WTB.) Das„ Echo de Paris" berichtet, Herriot habe Macdonald über das Programm der bevorstehenden Beratungen befragen laffen. Gestern vormittag habe die Downingstreet erwidert, die Berhandlungen würden nur allgemeinen Charakter tragen, und es wäre nicht nötig, Sachverständige zu bemühen. Das Blatt hebt hervor, das Herriot gezwungen sein werde, zu er flären, in welchem Maße er den Inhalt des Poincarébriefes Sachverständigenprogramms von fünf Bedingungen ab. vom 14. Mai zustimme. In diesem Brief sei die Annahme des hängig gemacht worden, Herriot müßte also erklären, ob der Miniſterwechsel auch die allgemeinen politischen Linien schoben habe.
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Paris , 19. Juni. ( Eca.) Herriot hat gestern nachmittag eine große Anzahl politischer Persönlichkeiten und höherer Beamten, darunter den Vorsitzenden der Rheinlandkommission Tirard, den französischen Oberkommissar in Straßburg A. La Petit, den franzöfischen Botschafter in London Graf St. Aulaire, den franzöfifchen Gesandten in Wien Lefevre Pontalis , den italienischen Botschafter in Paris usw. empfangen. Besondere Bedeutung legt man dem Besuch Cambons und einer Unterhaltung mit Barthou bei. Der Unterhaltung mit Barthou, in der sich Herriot über die gesamte Lage der Reparationsfrage berichten ließ, wohnte dem„ Matin" zufolge auch der Direktor der politischen Abteilung des Quai d'Orsay, de Peretti de la Rocca, und der bekannte Wirtschaftsfachverständige Sendoug bei; vorher hat Herriot eine eingehende Note über den Stand der Reparationsfrage erhalten.
Die Krise der Diktatur.
Römische Lehren.
Der Sieg der Demokratie in Paris wird zeitlich begleitet vom moralischen Niederbruch der Diftatur in Rom.
ursachte Krise in Italien selbst haben wird, ist noch ungewiß. Welche Wirkungen die durch den Mord an Matteotti verursachte Krise in Italien selbst haben wird, ist noch ungewiß. Die internationalen Wirkungen dieser Krise sind heute schon flar ausgeprägt und unwiderruflich. Ganz besonders gilt das für ihre Wirkungen in Deutschland .
Seit dem 9. November v. J., das heißt seit dem Tage, an dem der verlogene Ruhm der ,, bayerischen Ordnungselle" mit einem Schlage zusammenbrach, war Italien das gelobte Land des deutschen Faschismus.
Die Diktatur Mussolini , das war ja in der Tat das völfische Ideal, ins Italienische übersetzt. Da war, ganz anders als bei den traurigen Erfahrungen, die man mit Kapp, Kahr, Hitler gemacht hatte, ein nationaler Diktator, der wenigstens fein Hanswurst war. Die italienische Bourgeoisie lobte sich die Ordnung, die der neue Herr nach Unterdrückung der Arbeiterbewegung und der öffentlichen Meinung geschaffen hatte, man erzählte Wunderdinge von der Pünktlichkeit des Eisenbahnverkehrs, von der wiederhergestellten Sauberkeit des öffentlichen Lebens. Die nationale Diftatur hatte also in Italien ihr Meisterstück bestanden, und es fam nur noch darauf an, auch für Deutschland den richtigen Mann zu finden, den deutschen Mussolini .
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Diese Herrlichkeit hat nun etwas über anderthalb Jahre gedauert, aber auch die nur zum Schein. Denn diese anderthalb Jahre hindurch war kein Mensch in Italien , der die Wahrheit zu sagen wagte, seines Lebens sicher. Das ist ja- unbestritten der große Vorteil der Diktatur gegenüber der Demokratie. Während die Demokratie jeden öffentlichen Tadel ertragen muß, ja die unaufhörliche Selbstkritik zu ihrem eigentlichsten Wesen gehört, hat die Diktatur ein ungeheuer einfaches Mittel an der Hand, ihre Ünfehlbarkeit zu beweisen durch terroristische Unterdrückung jeder Kritik. Wie in Rußland , so auch in Italien .
halten kann als die italienische, so liegt das nur an ihrer Wenn sich die russische Diktatur länger unangefochten ergrößeren Konsequenz in der Anwendung des Terrors und an ihrer geographischen Lage an der Peripherie der europäischen Volksgemeinschaft. In Rußland herrscht eine Parteioligarchie, die jedes Feigenblatt des Parla. mentarismus und der Pressefreiheit verschmäht. Hingegen war der italienische Faschismus genötigt, auf halbem Wege stehen zu bleiben. Weder schaffte er das Parlament des allgemeinen Wahlrechts radikal ab, noch schuf er sich ein Barteimonopol auf die Herausgabe von Zeitungen. Er mußte sich darauf beschränken, Kammerwahlen und öffentliche Meinung durch Drohungen und gewalttätige Eingriffe zu seinem Gunsten zu forrigieren.
Zwischen dem legalen Terror der Regierung und dem illegalen der herrschenden Partei entstand auf diese Weise ein Dualismus, der dem System verhängnisvoll zu werden drohte. Die faschistische Staatsgewalt hatte kein Mittel an der Hand,
um dem gefährlichen Kritiker Matteotti den Mund zu verschließen. Also trat die illegale Terrororganisation des Faschismus ergänzend in Aktion und besorgte das Geschäft auf ihre Weise.
Der Mord an Matteotti trägt alle Charakterzüge eines völkischen Fememordes. Der Unterschied ist nur der, daß in Deutschland gewöhnlich von unten nach oben ge= meuchelt wird, in Italien es aber von oben nach unten geschah. Darum ist die Kompromittierung des Faschismus durch diesen einen Fall nur noch gründlicher. System, das sich selbst im Besize der uneingeschränkten Macht noch des politischen Meuchelmordes bedient, um sich selbst zu erhalten, ist in den Augen der Welt gerichtet.
Denn ein
Der Mord an Matteotti war feine Affekthandlung politischer Fanatiker. Soviel an den Hintergründen dieses Komplotts noch aufzuklären bleibt, so ist doch jetzt schon gewiß, daß es an dieser Tat Interessenten gab, deren Interesse feinen Aufschub ihrer Ausführung mehr duldete. Matteotti wußte mehr, als die Großen des Faschismus ertragen fonnten. Er hatte Kenntnis erhalten von gewissen dunklen Affären der Korruption, deren Herde in den hohen und höheren Kreisen der herrschenden Partei zu suchen waren. Seit seiner Ermordung spricht ganz Italien und alle Welt von unerlaubten Beziehungen faschistischer Größen zum amerifanischen Petroleumfapital und vom schamlosen Mißbrauch des Diktatursystems zur forruptionellen Bereicherung vieler seiner Träger.
Koruption ist vom kapitalistischen System untrennbar. Aber wo die Kapitalsherrschaft, wie in Italien , die politische Form der Diktatur annimmt, wo die Sonde der demokratischen Kritik fehlt, da müssen die Wunden nach innen schwären. Jeder Butsch spült neben größenwahnsinnigen Volksbeglückern auch unlautere Elemente in die Höhe, die nicht imstande find, Macht auszuüben, ohne sie zu ihrem persönlichen Vorteil zu mißbrauchen, eine Reinigung des öffentlichen Lebens durch freie Kritik ist aber ausgeschlossen. Matteottis Tribüne. Da fiel man über ihn her und schlachtete ihn ab.
Die Ueberführung der deutschen Gefangenen. Paris , 19. Juni. ( WTB.) Die von den französischen Kriegsgerichten in den besetzten Gebieten verurteilten und in Frank- fittlicher Mut errang dieser freien Kritif im Parlament eine reich in Haft gehaltenen Deutschen , ungefähr 40 an der 3ahl, von denen die meisten sich auf der Insel St. Martin de Re befunden haben, sind gestern in die Gefängnisse des belegten Rheilandes übergeführt worden. Bei ihrer Durchreise durch Nancy erhielten sie den Besuch des Legationsfefretärs der deutschen Botschaft in Paris von Rintelen.