Tr.286 41.Jahrgang Ausgabe A nr. 147
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Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutfchlands
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Freitag, den 20. Juni 1924
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Stürmische Fortsetzung der Kammerdebatte
Die Sigung mehrmals unterbrochen. Die Erklärung der Sozialisten. Herriot antwortet dem Nationalen Block.
In der gestrigen Sigung der Kammer wurde die Debatte über die Regierungserflärung mit einer Interpellationsrede des früheren Generalberichterstatters des Budgets und Marineministers im legten Poincaré Rabinett, Botanowski, eingeleitet, der sich beson ders über die Finanzprobleme verbreitete. Der Redner bemühte sich um den Nachweis, daß die Finanzlage Frankreichs , dank der bisherigen Bolitik, glänzend sei und daß die Regierung Herriot infolge der Ermächtigungsgesetze Poincarés eine sehr günstige Erbschaft
übernommen habe.
Diese Ausführungen riefen wiederholt lebhafte Protestrufe bei der Linken hervor und schließlich zerstörte mit einer furzen Zwischen bemerkung Genosse Vincent- Auriol , der Finanzspezialist der sozia. listischen Fraktion, dieses unverfrorene Selbstlob Bokanowskis, indem er erklärte:
„ Die innere Schuld betrug am 31. Dezember 1919 173 Miiliarden, hingegen am 31. Dezember 1923 277 Milliarden. Das sind 104 milliarden mehr, wozu noch ein Defizit von 77 Milliarden fommt, das dem Egoismus und der Beschränktheit der früheren Regierung zuzuschreiben ist, insbesondere aber der des Redners, der niemals den Mut hatte, seine Tätigkeit als Budgetberichterstatter aufzugeben, obwohl er das Defizit fannte. Bei alle dem hat Botanowifi auch noch vergessen, daß die frühere Mehrheit den Frant mit einem Bert von 70 Centimen übernom men, hingegen mit 25 Centimen zurüdgelassen hat. ( Lebhafter Beifall links.)
Schließlich wandte sich Bokanowski unter dem Beifall der Minderheit gegen die vom Linksblod geplante Kapitalsteuer, die die neben den bereits bestehenden Einkommensteuern den Wiederaufstieg der Industrie gefährde.
Sodann verlas namens der Sozialistischen Partei Genosse Paul Jaure
eine Erflärung, in der es heißt, die Sozialistische Partei glaube, daß durch die Wahl vom 11. Mai in Frankreich nicht nur eine Verfchiebung der Parteiſtärke eingetreten sei, sondern daß das Bolk zu verstehen gegeben habe, daß auch auf politischem Gebiet eine vollkommene Aenderung vorgenommen werden solle. Frankreich habe vor allem bedeutet, daß es in Frankreich und ganz Europa die graujamen Folgen des Krieges und des vollkommen mangelhaften Friedens beseitigen wolle. Frankreich wolle einen dauerhaften Frieden. Es wolle in einer
von Mißtrauen und Haß gereinigten Luft
Sodann ergreift
unter lebhaftem Beifall der gesamten Linken das Wort und führt aus: Leider muß ich darauf dringen, daß die Debatte heute abend zu Ende geht, damit ich morgen meine Reise nach Lon. ich wieriger als lediglich Früchte zu ernten. Man kann der Redon antreten fann.( Sehr gut!) Die Aufgabe der Regierung ist gierungserklärung nicht vorwerfen, daß sie nicht flar und genau sei. Die Regierung würde auf die Macht verzichten, wenn die Umstände es ihr nicht gestatten würden, fernerhin auf eine wirklich demotratische Mehrheit zu bauen.( Lebhafte Unterbrechungen rechts, Beifall links.)
Während der Rebe Herriots fommt es zu derartig hef tigen Unterbrechungen seitens der Rechten, daß die Sigung faft zu einer Schlägerei
dem Protest des Borsitzenden sowie seiner Aufforderung an. Als verschiedenen Zurufe Verschiebung der Sigung verlangen, bittet Herriot darum, daß man ihm seine Ausführungen beendigen läßt. Die Forderung, fährt er fort, eine Botschaft beim Vatikan zu unterhalten, sei in feiner Weise berechtigt. Im Orient sei es Frantreich, daß auf Grund alter Rechte die Aufgabe habe, die Katholiken nicht die katholische Welt Frankreich . Herriot wendet sich alsdann zu schüßen. Frankreich habe die katholische Welt zu beschützen und den Ausführungen Bokanowskis zu. Die Regierung werde in der energischsten Form gegen die Budgetunordnung auftreten, und sie sei entschlossen, in das Budget feinerlei Ausgaben einzufügen, die nicht durch entsprechende Einnahmen gedeckt feien. Herriot wendet sich dann gegen die Berleumdungen der Presse der früheren Mehrheit. Diese Kampagne sei im übrigen nicht nur in Frankreich , sondern auch im Auslande aufgetreten. Die Regierung sei entschlossen, den Franken energisch zu verteidigen.
ausgeartet wäre. Painlevé mußte infolgedeffen etwa um 7 Uhr Denn es gebe feine gute Politit, ohne ein wirtschaftliches und poft die Sigung furz unterbrechen.
Nach Wiederaufnahme fährt Herriot fort:
Die vorgelegten Gesezentwürfe müsse man diskutieren, aber es habe feinen Wert, sich zu enzyklopädischen Debatten herzugeben, in deren Berlauf man alle Fragen anschneide, ohne auch nur eine einzige zu lösen. Er ersuche die Mehrheit, Arbeitsgeist zu entfalten und fich nur auf die Diskussion der notwendigen Reformen zu beschränken. Aus diesem Grunde wolle er heut nur drei Fragen behandeln: Die Frage der Abschaffung der Botschaft am Batitan, die Finanzfrage und die Frage der Außen. politif.
Er sei fein Antifleritaler, aber er müsse feststellen, daß er schon 1919 bei der Errichtung der Botschaft beim Batikan fich hiergegen ausgesprochen habe. Sein Vorgehen habe nichts mit Intole: anz zu tun. Er habe nicht die Absicht, die Gefühle der Katho: lifen zu verlegen, und er erfenne wohl an, was die fatholische Religion Gutes geschaffen habe und noch schaffe. Er müsse aber den Grundsägen tre u bleiben, die er früher vertreten habe.
und handeln wie ein Führer der Oppofition!) Herriot erwidert: ( E: ne Stimme rechts: Ein Regierungshaupt darf nicht sprechen Ein Führer der Oppofition darf nicht fagen, was er nicht durchführen tann, wenn er die Regierung übernimmt.( Lebhafter andauernder Beifall auf der ganzen Linfen .) Jch habe seinerzeit gegen die Wiederherstellung der Botschaft beim Batikan gefämpft. Ich habe es getan im Interesse des religiösen Friedens.( Lebhafte Unterbrechungen rechts.) Und wenn man daran denkt, daß Frankreich mit dem gleichen Wohlwollen Katholiken, Protestanten, Israeliten. Mohammedaner und Freidenfer behandeln
tisches Verstehen. Frankreich hat uns, während man daran arbeitet, es zu entmutigen( stürmische Zwischenrufe rechts und in der Mitte, andauernder Beifall links), sein Vertrauen bewiesen und es hat recht gehabt, dieses Vertrauen zu zeigen. Wir stehen am Vorabend bebeurender Schwierigkeiten. Das Jahr 1925 wird ein gefähr tes Jahr sein und viel Borsicht bei der Verwaltung erfordern. Er tritt alsdann den Ausführungen Le Trocquers entgegen. Le Trocquer müffe etwas Bescheidenheit zeigen, wenn er der Regierung Ratschläge geben wolle.
Der frühere Wiederaufbauminister Reibel greift nunmehr in die Debatte ein, um darzulegen, daß Deutschland mit sämtlichen Wiederaufbaufragen schlechten Willen gezeigt hätte. Es set unzulässig, daß Abgeordnete versuchen, die französische Regierung anzuflagen, um Deutschland zu entschuldigen.( Neuer Lärm.) Dokumente zeigen, daß Frankreich stets den besten Willen(?) an den Tag gelegt habe, während Deutschland das Gegenteil getan habe.( Neue Ünterbrechung.)
Herriot ergreift wieder das Wort: Ich brauche mich gegen Intereffen Deutschlands unterstützen wollen.( Buruje in der Mitte Beleidigungen nicht zu verteidigen( lebhafter Beifall links). Es ist eine leichte und banale Anklage zu fagen, man hätte die und rechts.) Herriot tritt alsdann im einzelnen in zahlenmäßigen Ausführungen Reibel entgegen. Ich flage Sie an," ruft er aus. ( Lebhafter Beifall links.) Sie, der Sie uns eine Ceffion von Patriofismus geben wollen, daß Sie 750 millionen, die man dem Lande schuldete, einfach geopfert haben."( Lebhafter Beifall auf der äußersten Linken und der ganzen übrigen Linken.)
Der frühere Kriegsminister Maginot verlangt, daß die Regie
atmen. Es habe begriffen, daß der Wiederaufbau verbunden sei mill, fann man den Schluß ziehen, daß fein Anlaß vorliegt. rung die Befehung des Ruhrgebiets aufrecht erhalte.
mit dem allgemeinen Fortschritt der Friedenskräfte und der Demokratien, und daß der wirtschaftliche Ausgleich und der Währungsausgleich als Endbedingung des dauer: haften Friedens die ungestörte Arbeit und das gegenseitige Vertrauen der Völker vorausfege. Diesen Willen habe das französische Bolt am 11. Mai zum Ausdrud gebracht. Einer Politit, die nationalistischen Egoismus, die Mißtrauen und Haß geschaffen habe, habe es ein En be bereitet, um an ihre Stelle eine Politik zu sehen, die aufgebaut sei auf dem Gedanken inter nationaler Solidarität. Die Sozialistische Partei glaube als Beauftragte der Arbeitermassen zu handeln, wenn sie der gegen wärtigen Regierung, die entschlossen sei, das Werk der Reparationen durchzuführen, Vertrauen schenke. Die Arbeiter feien jedoch intelligent genug, um zu begreifen, daß eine vierjährige Mißwirt. schaft nicht in wenigen Wochen beseitigt werden fönnte. Die Sozialistische Partei erwarte von der neuen Regierung, daß sie sich freu bleibe; fie verlange von ihr nicht, daß das Programm der Partei, sondern daß das ihre durchgeführt werde.
Sie werde der Regierung so lange treu bleiben, solange fie ihren eigenen Grundsäßen nud ihren Bersprechungen treu bleibe. Die sozialistische Partei habe volle Freiheit gegenüber der Regierung, wie die Regierung selbst gegenüber der Partei frei fei. Die sozialistische Partei habe auf teinen ihrer Grundsäge verzichtet. Sie wolle lediglich ihren Beistand leihen, von dem
Willen nach Friedenn, Gerechtigkeit und Fortschrift beseelt. Nach dieser Erklärung, die von den Parteien des Links blocks mit Beifall aufgenommen wurde, wurde die Sigung unterbrochen.
Nach Wiederaufnahme der Sigung ergriff der ehemalige Mi nifter für öffentliche Arbeiten Le Trocquer das Wort.
So wie sein ehemaliger Ministerkollege das Loblied der Finanzpolitit des Nationalen Blods gesungen hatte, verteidigte Le Trocquer die Ruhrpolitik der früheren Regierung, zu deren Vorfämpfern er bekanntlich gehört hatte. Er wiederholte die früheren Anklagen Poincarés gegen Deutschlands schlechten Willen und verfuchte zu beweisen, mie erträgnisreich die Ausbeutung der Ruhrbergwerke für Frankreich geworden sei. Schließlich warnt Le Troqueur die neue Regierung vor einer Aufgabe der Eisenbahnregie und vor einer militärischen Räumung des Ruhrgebiets. Die Außen politik Boin: carés jei vom Volte gebilligt worden. Die dreiste Behauptung rief ftürmischen Widerspruch bei der Mehrheit hervor.
und Bewegung.) Der Royalist Baudry d'Afson ruft dazwischen: den Papst wie einen Souverän zu behandeln.( Lebhafter Beifall Wie hält man es in anderen Ländern? Herriot antwortet: Frank reich hat das unbeschränkte Recht, sich lediglich von seinem eigenen freien Geist leiten zu laffen.( Lebhafter Beifall auf der ganzen Linfen . Stürmische Unterbrechungen rechts.) Die höheren Intereffen Frankreichs sollen doch wohl nicht geopfert werden? Ich jedenfalls glaube das nicht.( Lebhafter Beifall. Unterbrechungen rechts.) Ein Abgeordneter der Rechten ruft dazwischen: Je mehr man die fatholische Religion angreift, um so stärker wird fie.( Lärm links.) Herriot: Ich habe eine Ueberzeugung. Als Angegriffener muß ich mich darauf beschränken, meine eigene Ueberzeugung auszudrücken.( Lange Unterbrechungen rechts.)
Die Rechte unterbricht weiter den Ministerpräsidenten häufig, geordnete General de Saint- Just , der der Demokratisch- Republiwas Gegenfundgebungen seitens der Linken hervorruft. Als der Abfanischen Union angehört, eine Bemerkung macht, ertönt von Links der Ruf: Die Mordgenerale sollen schweigen!" Es entsteht ein ungeheurer Tumult. Die Diener müssen eingreifen, um Handgreiflichkeiten zu verhindern. Nur mit Mühe kann sich der Rammerpräsident Gehör verschaffen, der den Abgeordneten, der diese Bemerkung gemacht hatte, auffordert, sich zu melden und feine Aeußerung zu erläutern. Es meldet sich der kommunistische Abg. Renaud, der erklärt, er habe von dem spechen wollen, was sich während des Krieges ereignet habe. Diese Erläuterung wird als unbefriedigend erklärt und viele Abgeordneten der Rechten drin gen auf die Ministerbank ein und schreien: Nollet! Mollet! Nollet! In diesem Augenblick hebt der Kammerpräsident Pain levé die Sigung auf. Damit ist der Tumult jedoch noch nicht beendet. In dem großen Stimmengewirt ist es unmöglich, die Aeußerungen zu verstehen, die seitens der Kammermitglieder von rechts und links gemacht werden. Die Saaldiener haben die größte Mühe. Tätlichkeiten zu verhindern. Erst als der Abg. Renaud das Wort ergreift, um sich zu entschuldigen, tehrt allmählich die Ruhe wieder, so daß der Kammerpräsident Bainlevé um 10 Uhr die Sigung wieder eröffnen fann, um Ministerpräsident Herriot Gelegenheit zu geben, seine Rede fortzusetzen.
levé in seiner Eigenschaft als Borsigender mit, daß der Abgeord Nach Wiederaufnahme der Sigung um 10 Uhr teilt Painnete Renaud seine Aeußerungen mit dem Ausdrud des Bedauerns zurüd genommen habe. Er fordert die ganze Stammer auf, Zurüdhaltung zu üben.( Beifall.) Herriot schließt sich
Herriot erwidert. daß, wenn man sich an die Durchführung der im Sachverständigenbericht enthaltenen Bestimmungen über die Durchführungsgarantien hielte, die Befehung 37 Jahre dauern werde. Herriot erklärte, daß das friedliche Frankreich die Frage der Zahlungen und der Sicherheit löfen könne. Frankreich hoffe, daß die deutsche Demokratie begreife, daß sie wie Frankreich an der Lösung dieser Frage intereffiert fei.
Frankreich wolle nicht nur bezahlt sein, es wolle auch nicht mehr angegriffen werden. Er, Herriot , sei sicher, daß er an der Spize der englischen Regierung den liberalſten und intelligentesten und ten sichersten Freund finden werde. Man habe oft Worte vernommen, die man hätte ruhiger auslegen fönnen. Bertange man
doch nicht von zwei großen Völkern, daß sie sich ähnlich seien, verzusammenfinden. lange man nur, daß sie sich erkennen und sich zu einer wirkungsvollen Zusammenarbeit im Intereffe der anderen Völker
dann werde ich mein Land mit ganzer Kraft verteidigen. Wenn ich mit Ihrem Vertrauen nach London abreisen darf, Der rechtsstehende Abgeordnete Rollin ruft dazwischen: „ Und die Sicherheit?"
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Herriot erwidert:„ Ich habe mich darüber ausgesprochen. Wir werden uns gegenseitig unterstützen, und wenn wir von der großen Mehrheit dieses Landes unterstützt werden, dann werden wir unsere Aufgabe erfüllen, wie ich fie auseinandergesetzt habe. Wenn wir aber keinen Erfolg haben, dann wird die Ordnung dadurch nicht gefördert werden,
Bei Beendigung der Rede Herriots flatschen die Abgeordneten der Linken stehend Beifall. Der Ministerpräsident wird, als er auf seinen Siz zurückkehrt, von sämtlichen Ministern beglüc wünscht. Darauf wird die Sigung unterbrochen.
In der neuen Sigung wird vermutlich nur über die noch einzubringenden Tagesordnungen verhandelt werden. Die Abstimmung erfolgt voraussichtlich erst in später Nacht
Die Besprechungen Herriot- Macdonald. Paris , 19. Juni. ( Eigener Drahtbericht.) Herriot wird bereits morgen, Freitag, spät abends in London eintreffen. Die Besprechungen mit Macdonald werden Sonnabend und Sonntag erfolgen. Herriot wird voraussichtlich von maßgebenden französischen Finanzfachverständigen begleitet jein, da er beabsichtigt, auch die Frage der Kriegsschulden mit dem englischen Premier zu erörtern.