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Nr. 352 41. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Das Heim der Kleinsten.

Eine moderne Säuglingspflegeanstalt.

Die Mütter sind in schönen hellen Zimmern, getrennt von den Kin­dern, untergebracht. Sie erholten neben der Anstaltskleidung volle Berpflegung unentgeltlich. Dafür müssen sie leichte Arbeiten über 50 Pf., ohne Mutter 75 Pf.; für Frühgeburten Eis zu 4 M., doch nehmen. Die Tagespflegefätze betragen für Säuglinge mit Mutter tann auch hier, den sozialen Verhältnissen entsprechend, der Tagesfaz bis auf 75 Pf. herabgesetzt werden. Zuweilen übernimmt das Jugendamt die Kosten für solche, die unter keinen Umständen in der

Bor etwa anderthalb Jahren wurde in Neukölln eine Abteilung| gesetzt, wenn sie Nahrung auch für andere Säuglinge hergeben. für Säuglinge im Waisenhaus und ein Säuglings- und Mutterheim geschaffen. Solche Einrichtungen sind in Berlin gerade nicht zu reichlich gesät. Auch dieses Heim ist erst nach großen Schwierigkeiten entstanden. Es ist das Verdienst unserer Parteigenossen, insbeson dere des jetzigen Dezernenten für Gesundheitswesen, Genossen Dr. Silberstein, für die Schaffung dieser Einrichtung mit aller Kraft eingetreten zu sein. Unsere Parteigenoffen ließen sich von der Anschauung leiten, daß es notwendig ist, jedes Menschenkind zu er­halten und gerade die Sterblichkeit der unehelichen Kinder einzu­dämmen. Sie wollten eine Stelle schaffen, zu der auch junge unehe. liche Mütter kommen konnten, um Rat und Hilfe zu erbitten.

Die Welt der kleinen.

In einfacher schlichter Form ragt das Heimgebäude gegenüber der Brandenburgischen Provinzialhebammenlehranstalt am Marien­dorfer Weg auf. Architekten und Mediziner haben in idealer Ge­meinschaftsarbeit ein Werk geschaffen, bei dem die Erfahrungen, die bei ähnlichen Bauten gemacht wurden, in einer Weise Berücksichti­gung gefunden haben, daß Mängel und Fehler möglichst vermieden wurden. Es ist eine Inneneinrichtung entstanden, die den modern­ften Anforderungen in hygt mischer und kultureller Hinsicht entspricht. Licht und Luft durchfluten die Räume, in denen jedes Fleckchen aus­genutzt ist. Durch den Haupteingang im Mittelbau gelangt man, ohne die eigentlichen Anstaltsräume selbst zu betreten, in das Auf­nahme und Amtszimmer, Jeder Säugling, ganz gleich, ob er ge­fund oder frank ist, kommt zunächst in die völlig abgeschlossen liegende Quarantänestation. 14 3immer sind hier, dazu bestimmt, je einen der kleinen Erdenbürger aufzunehmen. Sie find mit Glaswänden umschlossen und mit je einem Bettchen und einer Badeeinrichtung ausgestattet. Wenn der Arzt festgestellt hat, daß jede Ansteckungs­gefahr vermieden ist, wandert das kleine Geschöpf nach zwei bis drei Wochen in die eigentliche Säuglingsstation. In diefer Quaran tänestation steht auch ein Brutapparat", der dazu bestimmt ist, die fleinen Wesen aufzunehmen, die nicht früh genug auf die Welt kom­men fonnten. Das Zimmer wird durch Dampf erwärmt, so daß für das junge Leben die notwendige Temperatur je nach den Anforde­rungen erzeugt werden kann. Die Zimmer der Säuglingsstation, Die in vorbildlicher Sauberkeit glänzen, haben Fenster, die sämtlich nach Süden gelegen find. Geräumige Liegehallen sind ihnen vor­gelagert. In jedem dieser Zimmer stehen 6 Betten. Zwischen je zwei dieser Räume sind zwei Badewannen eingebaut. Jede Abtei­lung hat ihr Schwesterzimmer, eine Teeküche sowie einen Sammel­und Vorreinigungsraum für Säuglingswäsche. Oft hört man Mütter flagen, daß ihr Säugling sie nicht zur Ruhe kommen lasse und daß Die Nachbarn ihr die Hölle heiß machen wegen des Lärms, den ihr Kind verübt. Hier find 130 Säuglinge vereinigt und trotzdem herrscht hier eine wohltuende Ruhe. Ohne den Lutscher" und ohne Kissen liegen die Säuglinge flach in ihren Bettchen, leicht mit einem Hend chen befleidet. Durch die offenen Fenster strömt ungehindert frische Luft durch die Zimmer. Bei schönem Wetter werden die Betten in Die Liegehallen geschoben. Die Proletarierkinder, die hier unter­gebracht sind, sehen rotbäckig und munter aus. Man sieht ihnen Die gute Pflege an und erkennt, daß auch die Unterbringung ein­mandfrei ist. Der leitende Arzt Professor Dr. Orgler feßt seine ganze Tatkraft ein, um die Anstalt in mustergültiger Weise zu erhalten. Durch diese hier geschaffenen, geradezu idealen hygienischen Verhält­nisse ist es gelungen, die Sterblick it der Säuglinge auf ein Mini­mum herabzudrücken, obwohl zwei Drittel von ihnen frank einge­liefert werden. Wenn man die Säuglinge, die schon in den ersten 24 Stunden nach der Einlieferung sterben, abrechnet, so hat das heim eine Sterblichkeitsziffer von nur 2,6 Broz., während im allgemeinen

in anderen Heimen die Sterblichkeit 9-10 Broz. beträgt.

Bei den Müttern.

In dem Heim find ferner 40 Mütter untergebracht, die ihre eigenen Kinder stillen. Besondere Prämien aber sind dafür aus­

2]

Die Rebellion.

Roman von Joseph Roth .

Das Dörrgemüse, das die anderen Drahtverhau" nann­ten, schmeckte ihm weniger. Dennoch leerte er den Teller. Er hatte dann das befriedigende Gefühl, eine Pflicht erfüllt zu haben, wie wenn er ein rostiges Gewehr blank geputzt hätte. Er bedauerte, daß fein Unteroffizier kam, um die Geschirre zu kontrollieren. Sein Teller war sauber, wie sein Gewissen. Ein Sonnenstrahl fiel auf das Porzellan und es glänzte. Das mahm sich aus, wie ein offizielles Lob des Himmels.

Am Nachmittag tam die längst angekündigte Prinzessin Mathilde in einer Krankenschwestertrocht. Andreas, der in seiner Abteilung das Zimmerkommando führte, stand stramm an der Tür. Die Prinzessin gab ihm die Hand und er ver­neigte sich, wider Willen, obwohl er sich vorgenommen hatte, stramm zu bleiben. Seine Krücke fiel zu Boden, die Begleite­rin der Prinzessin, Mathilde bückte sich und hob sie auf.

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Die Prinzessin ging, hinter ihr die Oberschwester, der Oberarzt und der Priester. Alte Nutte! jagte ein Mann von der zweiten Bettreihe. Unverschämt!" schrie Andreas. Die anderen lachten. Andreas wurde zornig. Er befahl: Betten in Ordnung bringen, obwohl alle Decken sauber und vorschriftsmäßig dreimal gefaltet waren. Niemand rührte fich. Einige begannen, ihre Pfeifen zu stopfen.

Da kam der Gefreite Lang, ein Ingenieur, dem der rechte Arm fehlte und vor dem auch Andreas Respekt hatte und sagte:" Reg Dich nicht auf, Andreas, wir sind ja alle arme Teufel."

Es wurde sehr still in der Barade; alle sahen den Ingenieur an, Land stand vor Andreas und sprach. Man wußte nicht, ob er zu Andreas oder zu den anderen oder auch nur für selbst sprach. Er blickte zum Fenster hinaus und jagte:

Die Prinzessin Mathilde wird jetzt sehr zufrieden sein. Auch sie hat einen schweren Tag hinter sich. Sie besucht jeden Sonntag vier Krankenhäuser. Denn es gibt, müßt ihr wissen, schon mehr Krankenhäuser, als Prinzessinnen und mehr Kranke, als Gesunde. Auch die scheinbar Gesunden sind frank, viele wissen es nur nicht. Vielleicht machen sie bald Frieden." Einige räusperten sich. Der Mann in der zweiten Bett­reihe, der vorher alte Nutte" gesagt hatte, huſtete laut. Andreas humpelte zu seinem Bett, nahm vom Kopfbrett eine Schachtel Zigaretten und rief den Ingenieur herbei. Gute Zigarette, Herr Doktor!" sagte Andreas. Er nannte den Ingenieur Doftor".

Lang sprach wie ein Heide, aber auch wie ein Geistlicher. Bielleicht, weil er so gebildet war. Aber immer hatte er recht.

TIT

Lage find, selbst diese geringen Sätze zu zahlen. Die Mütter bleiben einige Monate, je nach dem Gesundheitszustand ihrer Kinder, in dem Heim. Die Säuglinge werden gewöhnlich ein Jahr lang hier be= halten, dann kommen sie in Privatpflege. Bemerkenswert ist, daß über das Betragen der Mütter in diesem Heim keinerlei Klage ge­führt wird, während in anderen Heimen solche Klagen an der Lages. ordnung sind. Es mag das auch an dem Einfluß der Oberin liegen, der ein tiefes menschliches Verständnis nachgerühmt wird. Außer den bereits bestehenden vier Mutterberatungsstellen des Bezirks Neukölln werden auch im Heim selbst Sprechstunden für Mütter an jedem Mittwoch abgehalten.

Im unteren Stockwert find außer der Wäscherei eine Milch sterilifiermaschine, eine Kühlmaschine und eine Flaschenspülmaschine untergebracht. Jim Lachgeschoß liegen die Küchenräume. Dadurch wird den lästigen Küchendünsten das Eindringen in die Anstalt ver­wehrt. Aufzüge forgen für schnelle und einwandfreie Beförderung aller Materialien. Leider hat der Geldmangel bisher die Einrichtung einer Röntgenstation verhindert, und auch der Operationssaal ist noch unvollständig ausgerüstet. Hier bleibt noch einiges in der Zukunft zu tun. Wer dieses Heim besucht. gewinnt den Eindruck, daß durch die Errichtung und sachgemäße Leitung ähnlicher Anstalten viel Men fchenleid gemildert werden könnte.

Man hatte Luft, ihm zu widersprechen und fand keine Argu­mente. Er mußte recht haben, wenn man ihm nicht wider fprechen fonnte.

Am Abend lag der Ingenieur auf dem Bett in Kleidern und sagte: Wenn die Grenzen wieder offen sind, fahre ich weit weg. Es wird nichts mehr zu holen sein in Europa ." Wenn wir nur den Krieg gewinnen," sagte Andreas.

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Alle werden ihn verlieren," erwiderte der Ingenieur. Andreas Bum verstand es nicht, aber nickte achtungsvoll, als müßte er dem Lang recht geben.

Indessen nahm er sich vor, im Lande zu bleiben und fünft lerische Postkarten in einem Museum zu verkaufen. Er fah ja ein, daß für Gebildete vielleicht kein Plaz war. Sollte der Ingenieur etwa Parkwächter werden?

Andreas hatte feine Angehörigen. Wenn Andere Be­fuche empfingen, ging er hinaus und las ein Buch aus der Spitalsbibliothet. Er war oft nahe daran gewesen, zu hei­raten. Aber die Furcht, daß er zu wenig verdiente, um eine Familie zu erhalten, hatte ihn gehindert, um Anny, die Köchin, die Näherin Amalie, das Kindermädchen Poldi an­zuhalten.

Er war mit allen drei nur gegangen". Sein Beruf war allerdings auch nicht für junge Frauen. Andreas war Nacht­wächter in einem Holzlager außerhalb der Stadt und nur einmal in der Woche frei. Seine eifersüchtige Natur hätte ihm die ruhige Freude am gewissenhaft ausgeführten Dienst gestört, oder diesen ganz unmöglich gemacht.

Einige schliefen und schnarchten. Der Ingenieur Lang las. Soll ich abdrehen?" fragte Andreas.

" Ja," sagte der Ingenieur und legte das Buch weg. " Gute Nacht, Doktor," erwiderte Andreas. Er fnipste das Licht ab. Er zog sich im Dunkeln aus. Seine Krücke lehnte an der Wand zur rechten Seite.

Andreas denkt, ehe er einschläft, an die Brothese, die ihm der Oberarzt versprochen hat. Es wird eine tadellose Prothese fein, wie sie der Hauptmann Hainigl trägt. Man merkt gar nicht, daß ihm ein Bein fehlt. Der Hauptmann geht frei, ohne Stod durchs Rimmer, als hätte er nur ein fürzeres Bein. Die Prothesen sind eine großartige Erfindung der hohen Herren, der Regierung, die es fich wirklich etwas fosten läßt. Das muß man sagen.

2.

Die Brothese kam nicht. Statt ihrer fam die Unordnung, der Untergang, die Revolution. Andreas Bum beruhigte sich erst zwei Wochen später, nachdem er aus den Zeitungen, den Vorgängen, den Reben der Menschen entnommen hatte, daß auch in Republiken Regierungen über die Schicksale des Landes walteten. In den großen Städten schoß man auf die Empörer. Die heidnischen Spartatisten gaben keine Ruhe.

Dienstag, 29. Juli 1924

Ein paar Kirschen.

Auf dem Askanische 1 Plaz, unmittelbar vor dem Anhaiter Bahn­hef. Auto auf Auto fährt vor dem Bahnhof vor, viele Droshken folgen, Privatequipagen, Reisende mit Rucksäcken, Gepäckträger mit Koffern, und das alles drängt und schiebt sich in die große Bahn­hefshalle hinein, die wie ein gewaltiger Schlund alles schnell auf­saugt. Auf den Gleisen unter dem hohen Glasdach stehen zwei lange D- 3üge zur Abfahrt bereit, besetzt mit lachenden, fröhlichen Men= schen, denn ihnen winkt Aufaimen, Erholungsaufenthalt im Ge hat man sich Kirschen gekauft, die der Händler in der Eile in schlecht birge oder im nervenstärke iden Wald. Auf dem Weg zum Bahnhof schließende Tüten gepackt hat. Die Tüten fließen über, und auf dem schnellen Gang über den Askanischen Platz nach dem Bahnhof und in den bald abfahrenden Zug fallen ein paar Kirschen aus der Tüte auf die Erde, rollen in den Straßenschmutz, fallen in die Gosse, in der Lachen von schmutzigem Rege iwasser stehen. Niemand fümmert sich darum, die Reisenden achten gar nicht des Verlustes, streben weiter und stürmen in die Bahnhofshalle, um den Zug nicht 3 versäumen.

Eine halbe Stunde später. Vor dem Bahnhof ist es still und einsam. Die Züge mit den vielen Reisenden sind aus der Halle gerattert, und nun ist wieder ein paar Minuten Ruhe im Bahn­betrieb. Da schleicht über den Askanischen Platz ein etwa zehn­jähriger Junge, die Blicke wie gebannt am Erdboden. Seine Klei­dung ist von einer Armseligkeit, daß sie auch den, der schon viel Armut und Elend gesehen, in Schrecken setzt. Der Junge ist außer= dem so elend und sieht so blaß aus, als ob er schon ein paar Tage im Grabe gelegen hätte. So schleicht er über den Play und sucht. sucht... da hat er die Kirschen in der schmutzigen Wasserlache ent­deckt. Hastig bückt er sich, gierig greift er nach den verlorenen Früchten, trocknet sie an seiner Hose ab und will die Kirschen in den Mund schieben. Nun tritt ein Herr dazwischen. Er vermeist dem Kinde sein Vorhaben, hält ihm eine große Rede von gesund­heitsgefährlichem Tun, Ansteckungsgefahr, unhygienischem Verhalten und was dergleichen erbauliche und schöne Redensarten mehr sind. Der Junge horcht erstaunt und verschüchtert auf, wirft die Kirschen fort und trollt sich weiter wie ein verprügelter Hund. Der Herr aber geht hocherhobenen Hauptes wie einer, der ein gutes Wert getan.

Die Szene hat ein anderer bemerkt, dem man ansieht, daß er wohl nicht soviel von Hygiene versteht wie der Herr mit der pracht­vollen Predigt vorhin, daß er aber das Leben und die Praxis besser versteht und weiß, was not tut. Er geht eilig dem Kinde nach, klopft ihm auf die Schulter und sagt: Na, nun weißt du, was man darf und nicht darf, und bist ebenso flug wie vorher! Hier hast du fünfzig Pfennig, geh' und bauf' dir Kirschen!" Damit verschwindet er schnell um die Ecke. Der Junge aber steht vor Erstaunen wie angewurzel1. Dann aber läuft er, das Fünfzigpfennigstück in der kleinen Faust zum nächsten Händler, und sein Gesicht strahlt vor Verwunderung der Welt geschenkt. und Freude so hell auf, als habe man ihm eben alle Kostbarkeiten

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Ein Berliner Messe- Amt. Die Arbeiten der Gemeinnügigen Berliner Messe Aufbau- Gesellschaft haben in den letzten Wochen einen guten Fortgang erfahren, der seinen Ausdruck nunmehr auch in der Begründung des Berliner Meise Amtes ge funden hat. In einer vertraulichen Besprechung, an der die zu ständigen Reichs- und Staatsbehörden, sowie Vertreter der zunächst beteiligten Industrien teilnahmen, erklärten der Reichswirtschaftsminister und der preußische Handels­minister ihre Zustimmung zu den Bielen des Berliner Messe­Amtes, und gaben ihr durch Eintritt in den Ehrenausschuß bandssyndikus Dr. Adolf Schick berufen worden. Die Räume Ausdruck. Zum Direktor des Messe- Amtes ist der bisherige Ver­befinden sich in Berlin SW 48, Friedrichstr. 225( Telephon: Nollen­dorf 7587, 7888, 7889). Der Leitung des Messe- Amtes untersteht bereits die Meise der Schuh- und Lederwirtschaft, die vom 3. bis 6. August in Berlin stattfindet.

| Wahrscheinlich wollten sie die Regierung abschaffen. Sie mußten nicht, was dann folgen würde. Sie waren schlecht oder töricht, sie wurden erschossen, es geschah ihnen recht. Ge= wöhnliche Menschen sollen sich nicht in die Angelegenheiten der Klugen mischen.

Man erwartete eine ärztliche Kommission. Sie hatte über den Bestand des Spitals, über die Arbeitsunfähigkeit, über die Versorgung seiner Insassen zu entscheiden. Das Gerücht, aus anderen Krankenhäusern herüberflatternd, wollte wissen, daß nur die Zitterer bleiben würden. Alle anderen bekamen Geld und vielleicht eine Drehorgellizenz. Von einem Brief­markenverschleiß, einer Wächterstelle in einem Park, in einem Museum fönne feine Rede sein.

Andreas begann zu bedauern, daß er kein Zitterer war. Von den hundertsechsundfünfzig Kranken des Kriegsspitals Numero XXIV zitterte nur einer. Alle beneideten ihn. Er war ein Schmied, namens Bossi, italienischer Abkunft, schwarz, breitschultrig, finster. Sein Haar wuchs schwer über den Augen und drohte, sich über das ganze Angesicht auszubreiten, die schmale Stirn zu überwuchern und, die Wangen bedeckend, eine Vereinigung mit dem wilden Bart zu finden.

Bossis Krankheit milderte nicht die furchtbare Wirkung seiner förperlichen Gewalt, sondern vergrößerte seine Unheim­lichkeit. Die schmale Stirn faltete sich und verschwand zwischen den buschigen Augenbrauen und dem Haaransay. So traten die grünen Augen hervor, der Bart bebte, man hörte die Zähne klappern. Die mächtigen Beine krümmten sich, daß sich die Kniescheiben innen bald berührten und bald ausein­anderstrebten und die Schultern zuckten empor und fielen zu­rück, während der wuchtige Kopf in einem ständigen leisen, verneinenden Schütteln verharrte, wie man es bei kraftlosen Häuptern alter Frauen sieht. Die ununterbrochenen Be­wegungen des Körpers hinderten den Schmied, deutlich zu! sprechen. Er sprudelte halbe Sätze hervor, spuckte ein Wort aus, blieb eine Weile stumm und setzte wieder an. Daß ein fo fräftiger, wilder Mann zittern mußte, ließ die allgemein bekannte Strankheit furchtbarer erscheinen, als sie war. Eine große Traurigkeit befiel jeden, der den zitternden Schmied fah. Er war wie ein schwankender Koloß auf unsicherem Grunde. Er hielt alle in der Erwartung seines bald erfolgenden Zu­sammenbruchs und brach dennoch nicht nieder. Unglaubhaft war, daß ein Mann von solchen Ausmaßen beständig wankte, ohne sich selbst und seine Umgebung erlösend, endgültig aus­einanderzustürzen. Sogar die unglücklichsten Invaliden, die ein zerschossenes Rückgrat hatten, gerieten in Bossis Nähe in eine unübersichtlich endlose Furcht, wie man sie vor Kata­strophen empfindet, die nicht eintreffen wollen und deren Aus­bruch eine Erlösung wäre.

( Fortsetzung folgt.)