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Nr. Z5H» 41. Jahrgang
1. Heilage des Vorwärts
Vonnerstag, 31. �uli 1424
Zänkereien unö Stänkereien. Ein Vormittag auf dem Mietergericht.
Der schmale AmKgerichtskorridor ist vor Eröffnung der Der- Handlung überfüllt wie in Moabit   bei einer«großen Sache*. Wohl an hundert Personen, Parteien und Rechtsvertreter, drängen sich vor -der noch verschlossenen Tür. Ein einziger Terminzettel reicht nicht aus, gleich zwei baumeln am Nagel des schwarzen Brettes, der für so manchen Beklagten ein Sargnagel wird, nebeneinander. Aorsorg- lich ist für das Rechtsgemetzel einer der Schöffengerichtssäle gewählt. Trotzdem gehen bei weitem nicht all« Geladenen hinein. Warum hat man sämtliche Parteien für die gleiche Stunde bestellt? Die letzten können sicher drei Stunden warten, bis sie an die Reihe kommen. Wer das Talent hat, sich vorzuschieben, rettet eine halbe oder ganze Stunde. Des Richters Aug« rollt über die schwatzende Hundertschaft:Ich muß um Ruhe bitten, meine Herrschaften...* Ach ja, er hat nicht so unrecht, der geplagte Mietsrichter, man kann kribbelig werden, wenn an einem Bormittag vierzig oder noch mehr Prozesse erledigt werdm sollen. Mit beschämender Deutlichkeit empfindet man es hier, wie viel Schmerzen sich oft gerade die Menschen selber zufügen, die eigentlich das größte Interesse daran haben müßten, durch freundschaftliches Zusammenhalten ihre allge- mein« Lage zu bessern. So aber zerreiben sie ihre Nerven und ihr« Kräfte, oft genug um Bagatellen. Mensch unö Tier nervös. Beklagt«, fast das ganz« Haus ist auf Sie wütend. Sie sollen sich ewig mit den Kindern herumgekracht und die Kinder und deren Eltern wüst beschimpft haben. Geben Sie das zu? Die Sache liegt anders, Herr Richter. Ich bin sehr nervös. Die Kinder haben, obwohl es ihnen vom Verwalter verboten war, auf dem Hofe und auf den Treppen einen fürchterlichen Lärm gemacht. Je mehr ich schimpft«, desto mehr Schabernack haben sie mir gespielt. Es war nicU mehr zu ertragen. Na ja doch, alle Kinder machen dumme Streiche und sind heutzutage besonders schwer zu regieren, ab«r deshalb braucht man doch nicht mit so unflätigen Redensarten um sich zu werfen. Glauben Sie, daß die Kinder davon etwas Gutes lernen? Mt Güte und Ruhe erreicht man doch viel m�hr. Man soll nicht immer nur verbieten und gleich schimpfen, sondern den Kindern liebevoll auseinandersetzen, weshalb sie dies oder jenes lieber nicht machen sollen. Dann hören sie gewöhnlich. Wir Erwachsenen waren doch in unserer Jugend auch oft recht ungezogen und sind anderen Leuten auf die Nerven gefallen. Die Beklagt«, ein älteres Fräulein, bricht in hysterisches Schluchzen aus. In der Beweisaufnahme wird fest- gestellt, daß auch die Gegenpartei es an übelsten Schimpfworten nicht hat fehlen lassen und die Kinder in ganz unangebrachter Erziehung?- Methode gegen die nervenkranke Beklagte noch scharf macht«. Die Räumungsklage wird deshalb abgewiesen. Das Gericht gibt aber beiden Parteien den guten Rat mit aus den Weg, den Haussrieden nicht mehr in so unschöner Weise zu stören. Die zweite Verhandlung richtet sich gegen den Besitzer eines nervösen" Hundes: Sie wollen den Hund also nicht abschaffen? Nein! Haben Sie einen Hund, Herr Amtsgerichtsrat? Haben Sie mal einen gehabt? Wissen Sie, wie unsereinem so ein Tier an» Herz g wachsen ist? Na ja, ich bin auch ein Tierfreund und verstehe Ihre Gefühle, aber es geht doch nicht auf die Dauer, daß Ihr Hund d�e Leute anspringt, die Treppe beschmutzt und stundenlang, wenn Sie nicht zu Haus« sind, heult. Die Zeugen sind ja hier, um es zu beschwören. Da hat der Vermieter die Pflicht, die belästigten Mieter zu schützen, und das Recht, gegen Sie auf Aufhebung des Miewer- hcltnisses zu klagen. Herr Gerichtsrat. das Gesetz spricht nur von Personen, die belästigen. Mein Hund ist doch kein« Person. .Kommen Sie uns doch nicht mit solchen törichten Quengeleien. Sie sind verantwortlich dafür, wenn der Hund die Ordnung und die Ruhe des Hauses stört. Auf ein Tier kann man doch nicht noch mehr Rücksicht nehmen als auf Menschen, die nach harter Arbeit schlafen wollen. Also bitte, erklären Sie sich kurz und bündig. Der Hunde- besitzer erklärt nun, er möchte den Hund behalten, wolle aber bestimmt dafür sorgen, daß niemand mehr sich belästigt fühl«. Der Kläger   ist damit einverstanden, wenn eine Bewährungsfrist von drei Monaten bewilligt wird. Führt sich der Köter bis dahin anständig auf, so soll die Klage erledigt sein. Da» Publikum lacht. Das Gericht schickt die Sache in die Ferien.
Unfrieöe in der Familie. Der Kläger  ...«in blutjunger Mensch, die Beklagte... fast noch ein Kind. Eheleute, einstmals. Und schon geschieden. Ein Drama zu dem Wort: Wenn Kinder heiraten... Sie wollen also Ihre geschiedene El�frau aus der noch gemeinsamen Wohnung heraus haben? Das geht Hunderten geschiedener Ehepaare so. Wohin soll denn die Frau? Sie hat den Mietvertrag mitunterschrieben und hat daher das gleiche Recht an der Wohnung wie Sie. Meine ehemalig« Frau bringt fast jeden Abend einen anderen Kerl mit in die Woh- nung. Das brauche ich nicht zu dulden. Die Frau: Nu' sieh' doch an! Jetzt mimt er den Moralischen, Während der Ehe hat er auf der Bärenhaut gelegen. Da war es ihm ganz recht, wenn ich Männer mitbrachte. Noch heute zieh« ich aus. wenn ich eine andere Wohnung bekomme. Raunen im Zuhörerraum: Diese halben Kinder! Ob's wahr ist, was da so ungeniert ausgeplaudert wird? Das Gericht oertagt, will Beweis« für die schweren gegenseitigen Beschuldigungen. Ein zweiter Fall: Schwiegersohn gegen Schwiegervater. Letzterer ist Untermieter beim Schwiegersohn, 81 Jahre alt und hochgradig lenil. Er ließ monatelang niemanden in sein Zimmer hinein, aus oem schließlich«in so ekelhafter Geruch drang, daß Bekannte, die den Schwiegersohn besuchten, sich erbrechen mußten. Auf die Tochter soll der Alte wiederholt mit dem Beil losgegangen sein. Den Schwiegersohn hat er mehrfach wegen angeblichen Diebstahls denun- ziert. Di« Kriminalpolizei   hat festgestellt, daß all« Anzeigen des Alten auf Greisenwahn beruhen. Nein, gutwillig geht der Alt« nicht, auch nicht in eine öffentlich« Altersoersorgungsonstalt. wohin er schon längst gehört. Das wäre für ihn und feine gepeinigt« Umgebung ein« Wohltat. Er ist selbst nach dem Gericht gekraxelt und bestreitet alles, mit dem krankhaften Eigensinn des hohen Alters. Armer Alter, arme Angehörigel Es gibt Dinge, die auch Blutsverwandtschaft nicht überbrückt. Das Gericht ordnet Beweisaufnahme an. 3>ie Ersatz- wohnung wird hoffentlich ein Stübchen im Allersheim fein. ch So geht es Tag für Tag. Zum Teil erschreckende Bilder aus dem Großstadtleben rollen sich auf. Eigentlich nicht» Neues unter der Sonn«. Schon in Friedenszeiten ließ man die häßlichsten Leiden- schaften Spießruten laufen vor dem Kadi. Nur die Füll« des Neides, de» Haffes, der Mißgunst, des Unrechts ist etwas Neue«, ist heraus- gewachsen au» unserer Jammerzeit, wird dem Mietgericht in aller Oeffentlichteit wie breit auseinanderlaufender Schmutz auf den Prä- sentierteller gelegt. Wäre doch die gräßliche Wohnungsnot, die fo viele Menschen zum Zusammenleben wider Willen verurteilt, erst zu End«.,..
Hlühenöe Zensier.
In diesen Zeiten soll dafür eingetreten werden, eine schön« In- stitution, wie sie kurz vor dem Krieg nach belgischem Muster in.Ber- lin eingeführt war, wieder aufleben zu lassen, eine Einrichtung, die Freude bereitet und außerdem noch die gerode heute unschätzbare Eigenschaft besitzt, der Stadt Berlin  , oder wem immer, der sich damit beschäftigt, kein G«ld zu kosten. Gemeint ist die P r ä m i i« r u n g d er blühenden Fenster, das Aussetzen und Verleihen eines Preises für denjenigen, besten Balkon oder Fenster den schönsten Blumen- schmuck zeigt. E- ist nichts Zufälliges, daß man gerade in Belgien  , dem Land der vielen Hochöfen, Minen und Gruben, mit der zahl­reichen Arbeiterschaft, die unter einem ewig schwarz-grauen, von Ruß, Rauch und Staub verhängtem Himmel lebt, die nichts weiß von der Frische der Felder und Wälder, die Sitte eingeführt hat, den­jenigen auszuzeichnen, der mit ganz besonderer Liebe seine Blumen gepflegt hat. Blumen und Pflanzen überhaupt beruhigen überreizte Nerven und abgespannte Menschen, sie lenken ab von der Fron des Alltags und leiten über zu anderen, besteren und lichteren Gedanken. Di« Arbeiterschaft Belgiens   weiß ja nichts von längerem Urlaub, Ausatmen und Erholen, für große Gärten und blühende Gefilde lasten die Kohlenfelder keinen Raum, und so bleibt als einziger Trost für die müden Augen, als einzige Erholung und Ablenkung der Blumenflor auf dem Balkon oder am Fenster. Um die Arbeiter
noch besonder« zur Blumenlieb« und Blumenpflege anzuspornen, hat man in Belgien   unter dem Namenccrnccrnrz des fenetres fleuries" Preise gestiftet für den am schönsten geschmückten Balkon. Der Name des Preisgekrönten wird veröffenllicht, er erhält neue, schöne Blumen oder Samen für den Balkon, und es entwickelt sich im An» schluß an die klein« feierliche Zeremonie, die gewiß, wie man sieht, kein Geld kostet, so etwas wie ein Bolksfest. Daß Blumen- und Gartenpfleg« im übrigen gewissermaßen erzieherische Wirkung haben, veredelnd und die Aesthetik des einzelnen verbessernd wirken können, weiß zum Beispiel auch die E i s e n b a h n v e r w al t u n g, die den Beamten mit dem nervenzerrüttenden Dienst auf den Stell- werken kleine Parzellen Land neben dem Stellwerk zur Bersügung stellt, auf denen sie zu ihrer Erholung und Erheiterung Blumen pflanzen und pflegen sollen. In Berlin   hatte man kurz vor dem Kriege, wie bereits erwähnt, die belgische Sitte ebenfalls eingeführt und sich viel Freunde damit erworben. Dann kam der Krieg und zerstörte auch dieses Liebes» werk. In Berlin   liegen nun gewiß die Berhältniste nicht so kraß, so grausam und erbarmungslos, wie in belgischen Fabrikstädten. Der Berliner   hat große Parks zur Berfügung, viele haben Laubenland, und auch an der Peripherie der Stadt sind die Straßen breit und luftig. Und doch! Man beachte einmal die Berliner   Balkons und ihr«n Schmuck in den verschiedensten Stadtteilen. Gewiß sieht man im Westen und in den vornehmen Vierteln Balkons mit unerhörter Blumenpracht. Aber man erkennt hier bald, daß dieses Protzenwm lediglich angelegt und vom bezahlten Gärtner unterhalten wir�, weil es viel Geld kostet. Der Wohnungsinhaber ist mit der Seele nicht dabei, und die Gnädige gießt höchstens mit spitzen Fingern die Blu­men, wenn sie es nicht vorzieht, auch dies« Arbeit dem Gärtner oder dem Stubenmädchen zu überlasten. Aber in den Arbeitervierteln, in den Gegend«», wo derklein« Mann* wohnt, der keine ander« Erholung k«nnt, da findet man die schönsten und am liebevollsten gepflegten Balkon». Daneben und dazwischen jedoch sieht man ver­wahrlost« Balkons, und die Menschen, die hier wohnen, sind so oer­zweifelt und müde am Leben, daß sie auch an dieser ablenkenden Be­schäftigung keine Lust mehr haben. Zahnüungen nach öem Irauenmöröer. Ew Interessanter Brieffund. Zu dem Frauemnord in der Leibnizstraße wird mitgeteilt, daß der Polizeioberwachtmeister Gustav Rebsdat noch nicht ergriff«» ist. In der Wohnung seiner ermordeten Stteffchwefter Frau Luise Röslor fand man einige Tage nach der Entdeckung des Verbrechens noch einen merkwürdigen Arte f. Der Brief war an Frau Rösler gerichtet und enthielt Wen­dungen, di« auf eine Liebschaft schließen lasten. Die Anschrift war von einer anderen Hand als der Prief selbst. Der Umschlag trug den Bahnpoststempel Berlin   Hannover  , als ob der Brief in Berlin   aufgegeben worden wäre. Um über dieses seltsame Schreibon und auch über di« Persönlichkeit des flüchtigen Rebsdat volle Klarheit zu schaffen, wurde Kriminalkommistar Geißel nach Hannover   entsandt. Die Feststellungen dort ergaben, daß Rebsdat amSü. Junid. I. ausderSchutzpolizeiausgeschieden ist. Erst nachträglich entdeckte man, daß er Unterschlagungen verübt hat. Rebsdat war schon in Hannover  «in richtiger Schürzen­jäger und brauchte stets Geld. Als er nach Berlin   fuhr, beauf­tragte er ein Mädchen, ihm nach der Leibnizstraße 10 zu schreiben. aber nicht an seinen Namen, sondern an den der Frau Rösler. Er werde, wie er sagte, die Brief« auch so erhalten. Dieses Verfahre» begründete tt mit einem geheimen Auftrag«, den er ja auch seiner Stteffchwefter vorschwindelte. Mit Rücksicht auf dieses vermeintliche Geheimnis schrieb das Mädchen auch nicht selbst den Brief, sonder» ließ ihn von einer Freundin schreiben. Nur die Anschrift schrieb es selbst auf den Umschlag. Den Brief steckte e» dann auf dem Bahn» steig m Hannover   in einen Kasten. Er wurde dann irrtümlich Berlin   Hannover   statt Hannover   Berlin   gestempelt. Die Beamten der Mordkommission und der Streif�eamtenschost der Krim   malpolizei sind jetzt für neu« umfassende Fahndungen mit dem neuesten Licht­bild de» gesuchten Mörders versehen. Selbstmordversuch mit einer Krawatte. Der 33 Jahre alte Schneider Jakob C. versuchte sich mit einem Selbstbinder m feiner Wohnung in der Prostauer Straße zu erdrosseln. Al« man ihn auffand, lag er mit dem festgeschnürten Selbstbinder um den Hals besinnungslos am Fußboden. Er konnte gerettet werden. Beweggrund ist Arbeitslosigkeit.
4]
Die Rebellion. Roman von Joseph Roth  .
Andreas kann, je nach seiner Stimmung, die Kurbel so schnell drehen, daß der Walzer flott und kriegerisch wird, wie ein Marsch. Denn er selbst har manchmal«in Bedürfnis nach einer Marschmelodie, besonders an kühlen und trüben Tagen. wenn sich der Regen durch Schmerzen in der Gegend des amputierten Beins ankündigt. Das längst begraben« Dein tut ihm weh. Die Stelle am Knie, an der es abgesägt wurde, läuft blau an. Das Kiffen in der Kniehöhlung der hölzernen Krücke ist nicht mehr weich genug. Es ist mit Roßhaaren ge- füttert und schon durchgetreten. Es müßte mit Daunen ge- füttert sein oder mit Pelz. An solchen Tagen muß Andreas einige Taschentücher in die Kniehöhlung der Krück« legen. Sie sind kein vollwertiger Ersaß. Die Schmerzen verschwanden sobald d-r   Regen kam. An Regentagen aber konnte Andreas nicht viel verdienen. Das Wachstuch, einst glänzend,- hart und waff-rdicht, war an ein- zclnsn Stellen gesprungen. Risse durchzogen seine Fläch« und bildeten eine Art Landkarte. Gelang es dem Regen, was Gott  bis jetzt verhütet hatte, durch die Hülle in das edle Holz und durch dieses in das Innere des Instruments zu dringen, so waren die Walzen verloren.,, Andreas stand, wenn es regnet«, stundenlang»n einem jener freundlichen Hausflure, in denen dasBetteln und Hausieren" nicht verboten war, in denen kein Icharfer Hund wachte und kein knurriger Hausbesorger oder gar dessen Frau die Heiligkeit des Hauseinganges hüteten. Denn mit dem weib- lichen Geschlecht hatte Andreas unangenehme Erfahrungen� ge- macht. Sie hinderten ihn nicht, von der grausamen Suße einer vorläufig noch ganz unbestimmten Frauenhand zu träumen, die man sein eigen nennen könnte. Andreas besaß keinen all- täglichen Geschmack: je bissiger der Fluch einer Frau war. die ihn zur Flucht veranlaßte, je schneidender der Klang ihrer Stimme, je drohender die Haltung ihrer Gestalt, desto besser gefiel sie ihm. Und während er der ungastlichen Pförtnerin den Rucken kehrte, entzückte ihn ihre Weiblichkeit in dem Maße.  in dem ihn der unerwartete Verdienstentgang enttäuschte. Abenteuer dieser Art bestand Andreas oft. Es waren seine ein- zigen Erlebnisse. Sie beschäftigten seine Rächt«, schufen ihm
Traumbilder von wehrhasten Frauen, und die Gedanken an S begleiteten, wie ein malerischer Text, die seriösen unter den elodien seines Leierkastens. Es kam so, daß er sein Instru- ment nicht wie«in mechanisches und sein Spiel als ein Virtuosentum betrachtete. Denn die Sehnsucht, die Bangigkeit, die Trauer seiner Seele legte er in die Hand, welche di« Kurbel drehte und er glaubte, nach Wunsch und Stimmung, stärker und leiser, gefühlvoller oder kriegerischer spielen zu können. Er begann sein Instrument zu lieben, mit dem er ein« Zwie- sprach« hielt, die nur er selbst verstand. Andreas Pum war ein echter Musikant. Wollte er sich zerstreuen, so betrachtete er die bunte Malerei auf der Rückwand des Leierkastens. Das Bild stellte die Szenerie eines Puppentheaters dar und einen Teil eines Steh- parketts. Blonde und schwarze Kinder spähten in die Richtung der Bühne, auf der sich spannende Ereignisse vollzogen. Eine grau- und wirrhaarige Hexe hielt eine Zaubergabel in der Hand. Vor ihr standen zwei Kinder, auf deren Köpfe Geweihe wuchsen. Ueber den Kindern weidete eine Hirschkuh. Es war kein Zweifel, daß dieses Bild eine Verzauberung menschlicher Wesen durch ein böses Weib darstellen sollte. Andreas hatte niemals an die Möglichkeit'solcher Ereignisse in der wirklichen Welt gedacht. Weil er ober das Bildnis häufig betrachten mußte, wurde es ihm vertraut und glaubhaft, wie irgendein anderer täglich genoffener Anblick. Es war fast nichts mehr Märchenhaftes an solch einer Verzauberung. Wunderbarer, als der Vorgang selbst, waren die bunten Farben, in denen«r dargestellt erschien. Andreas' Augen tranken die ölige Sattheit dieser Farben und es berauschte sich seine Seele an der klang- vollen Harmonie, mit der ein blutendes Rot in ein sehnsüchtiges Orange des Abendhimmels im Hintergrund verfloß. Zeit zu solchen Betrachtungen hatte er zu Hause genug. Allerdings war fein Heim nicht eines jener Art, in dem der Mensch etwa den ganzen Tag verweilen kann. Es bestand vielmehr aus einer Bettstelle in einem, wie es Andreas vor- kam, geräumigen Zimmer. In diesem schliefen außer Andreas noch ein Mädchen und ihr Freund. Sie hieß Klara und er Willi. Sie war stellvertretende Kassiererin in einem kleinen Kaffeehaus und er ein arbeitsloser Metalldreher. Willi arbeitete nur einmal in der Woche und auch dann nicht in seinem Be- rufe. Er führte einen Handwagen durch die Straßen, um Zeitungspapier einzukaufen. Am Abend brachte er seine Waren dem Althändler. Von jedem Pfund erhielt Willi ein Drittel.
Denn auch das geringe Betriebskapital steh ihm der Althändler. Es war klar, daß Willi von seinen Einnahmen nicht lebenl konnte. Er lebte von Klara. Sie hatte Nebenverdienste. Er war eifersüchtig. Aber in der Nacht, wenn sie sich beide unter der dünnen Decke befanden, suchte er zu vergessen, wovon er lebte und es gelang ihm. Am nächsten Morgen blieb er liegen, wenn Klara und Andreas längst aufgestanden waren. Er blieb den ganzen Tag zu Hause und ließ Andreas nicht vor dem An­bruch der Nacht ins Zimmer. Das begründete er immer mit dem Wort: Ordnung muß sein! Denn er war weit davon ent- fernt, Andreas, den Krüppel, etwa zu Haffen. Er liebte die Ordnung. Andreas Pum hatte eine Schlafftelle, aber keine Wohnung. Es ist so in der Welt eingerichtet, daß jeder mm das genießen darf, was er bezahlen kann. Auch Andreas war mit dieser Ordnung zufrieden und kam pünktlich nach Anbruch der Dämmerung. Er kochte Tee oust einer Spiritusmaschine. Willi trank den in einem Wasserglas verdünnten Spiritus, Andreas den Tee. Er dazu ein Brot. Willi lieferte manchmal die Wurst. Denn es ereignete sich nicht selten, daß Willi, wenn er an angenehmen Tagen einen Spaziergang unternahm, sich vor das Delikateffenhaus begab, an dessen Tür die prallen Würste wie Gehenkte an einem Nagel hingen. Mehr aus Uebermut, als aus Lust am Diebstahl schnitt Willi dann zwei oder drei Würste ab. Ihn lockten Gefahren und Freude an der eigenen Geschicklichkeit. Man hätte es außerdem als Sünde bezeichnen können, wenn er das Angebot des Schicksals ausgeschlagen hätte. Andreas ahnt« etwas von der Herkunft dieser Würste. Einmal fragte er, woher sie stammten. und schweig'," sagte Willi.Ordnung muß sein." Es verstieß glücklicherweise nicht gegen die Ordnung, wenn stch Andreas, während er sein Abendessen verdaute, der Be- trachtung der Malereien am Leierkasten hingab. Die un- vollendete Verzauberung, welche das Bild darstellte, zwang zu Fortsetzungen. Andreas hätte gerne weiter gemalt. Er hätte auch die zwei noch in menschlicher Gestalt lebenden Kinder in Hirschkühe verwandelt, oder in andere Tiere. Es ergaben sich viele Möglichkeiten. Konnte man Kinder nicht in Ratten ver­wandeln? Hühl Ratten! Oder.in Katzen: in junge Löwen  : in kleine niedliche Krokodile: in Eidechsen: in Bienen: in Vögel Tlrilil In Vögel! Ein guter Maler, der mit Pinsel und Farben umzugehen verstand, könnte das Bild fortsetzen. (Fortsetzung folgt.)