Nr. 362 41. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Sonntag, 3. August 1924
Lehnerty
Es ist manchmal hart, die Erinnerungen sprechen zu lassen. Erinnerungen an ein Verhängnis, das den Reim der Ratastrophe schon in sich trug, als es laut und begeistert geboren wurde und unerbittlich seinen Weg zog. Wir wissen jetzt, wohin der Weg führte und wus uns damals noch verborgen lag, verhüllt unter dem Wust der Tiraden und glanzvollen Reden, hat sich in furchtbarer Deutlichfeit enthüllt. Die Erinnerung aber an das, was diesem Weg der Jrriümer vorherging, soll nicht in feiger Scham ausgelöscht sein, es soll unvergessen dastehen als grause Warnung, im Gedenken der Dinge, die nachher kamen.
Spionenwahn.
Es war in den ersten Tagen des August vor zehn Jahren nicht ganz ungefährlich, sich auf den stets überfüllten, mit lauten, lärmenden und singenden Menschen besetzten Straßen zu bewegen, und die Schuhmannschaft wußte nicht, wo sie zuerst einschreiten und Ruhe stiften sollte. Dazu kam, daß diese Tage von einer glühenden bize erfüllt waren und wehe dem, der nach Ansicht eires der allzu wild Begeisterten verdächtig aussah.„ Der Kerl ist cin Spion!" Schnell sprang dieser Schrei auf, wurde sofort von vielen aufgenommen und weitergetragen, dichte Menschenmassen umringten ihn, zerrten an ihm herum und schleppten ihn, troßdem er beteuerte, ein Deutscher zu sein und Beweise dafür anbot, nicht selten unter Mißhandlungen zur Polizeiwache, von der er dann bald als velisiändig harmloser Passant entlassen wurde. Brutale, häßliche Szenen spielten sich bei dieser Spionensucherei ab, und cin besonders krasser Fall ereignete sich an der sogenannten Kranzlerea'e. Von einer aufgeregten Menschenmasse wurde ein älterer Herr sumringt, der sich mit tausend anderen unter die Massen gemisch hatte und sich die allgemeine Begeisterung ansehen wollte. Ob nun wirt. lich die Form feines Hutes und der Schnitt seines Mantels etwas Seltsames gehabt haben, wie nachher zur Entschuldigung behauptet|
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Bedenken verschiedener Natur und Wichtigkeit überfielen ihn erst auf der Straße in der Nähe des Hauses Nummer 37, mie eine lästige Fliegenschar. Er kam sich wie ein hartherziger Egoist vor, ein falter Mensch und ein eitler obendrein, der ohne Rücksicht auf den schmerzvollen Tag der Witwe Blumich, vielleicht den schmerzvollsten ihres jungen Lebens, gedenhafte Toilette gemacht hatte. Was würde sie denken, wenn er fo vor ihr erschiene, nachdem sie ihn gestern in seinem gewöhn lichen Zustand gesehen hatte? Würde sie nicht mit Recht beleidigt, getroffen, ja schmerzlich bewegt sein? Es war vielleicht überhaupt nicht günstig, heute die Witwe Blumich zu besuchen. Man müßte sich ein wenig auch vor dem toten Mann schämen, der noch nicht in der Erde lag. Andreas hatte eigentlich sehr viel Grund zu warten, der Witwe Zeit zu lassen, bis sie mit ihrem ersten Mann vollkommen ins reine fommen würde. Außerdem hatte sie ihn ja selbst nicht etwa für heute, sondern erst für morgen bestellt, ja, man konnte sagen: gebeten. An diesem Tage hatte Andreas Bum so viel Glück, wie noch nie, seitdem er mit der Drehorgel in die Höfe wanderte. Sei es, weil die ungewöhnlich heiße Stunde alle Leute zwang, ihre Fenster weit offen zu halten und sie den Klang einer Musik zum erwarteten Anlaß nahmen, Luft zu schöpfen und sich über die Brüstungen zu lehnen, sei es, weil ihnen der frischrasierte, saubere und mit einem glänzenden Kreuz gezierte Andreas ganz besonders sympathisch erschien wir wissen nicht, wieso es fam, daß es rings um Andreas Geld regnete und daß er Mühe hatte, sich zu bücken, so oft mußte er es tun. Es war fein Zweifel mehr: das Glüd war zugleich mit der Witwe Blumich in sein Leben getreten. Und lächelnd, mild und gütig, wie die Strahlen der untergehenden Sonne, die noch auf den Giebeln der Häuser ruhte, kehrte Andreas heim, lange noch vor Anbruch der Dämmerung, einen herzlichen Gruß für Willi auf den Lippen und mit einem gesegneten Appetit, der oft eine angenehme Begleiterscheinung einer gefunden Zufriedenheit zu sein pflegt.
5.
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Noch ahnte Andreas nichts von seinem Nebenbuhler, der in Anbetracht seines Berufes ein gefährlicher genannt werden fonnte. Es war der im Hause Nummer siebenunddreißig wohnende, jugendliche, schlanke und vom Scheitel bis zur Sohle verführerische Unterinspektor der Polizei, Binzenz Topp,
wurde, steht nicht fest. Jedenfalls aber rief jemand:„ Seht den Kerl| wurde haltgemacht. Der Führer begab sich in den betreffenden
da! Das ist ein Ruffe!" Bevor der also Bedrohte noch recht wußte, daß diese Worte ihm galten, hatte man ihn umringt, die Kleider vom Leibe gerissen und schwer gemißhandelt. Ein paar Baffanten, die bei aller Begeisterung einen flaren Kopf behalten und nicht ganz die Besinnung verloren hatten, holten schnell einen Schußmann, dem es nach vielen Mühen gelang, den Aermsten, der aus mehreren Wunden blutete, den Händen seiner Peiniger zu entreißen. Nachdem der Mißhandelie auf der Unfalistation verbunden war, stellte man seine Personalien fest und erkannte, daß man einen preußischen Oberstleutnant a. D. vor sich hatte. Dieses standalöse Berkommnis gab endlich der Polizei Veranlassung, das Publikum ernstlich vor derartigen Ausschreitungen zu warnen und die Bürger Berlins gleichzeitig aufzufordern, sich mit ausreichender Legitimation zu versehen. Das half ein wenig, und derartige brutale Szenen ereigneten sich nicht mehr.
Das Goldauto.
Unter die Rubrik Spionensuche fällt auch die famose Geschichte mit dem Goldauto. Blöglich, cm 2. oder 3. August, wurde bekanntgegeben, daß ein Auto, über und über mit Goldgeld beladen", den Weg aus Frankreich nach Rußland genommen habe. Man beschrieb ganz genau Form und Farbe des Autos, das angeblich die deutsche Grenze bei Saarlouis bereits passiert habe und nun auf Berlin zu rase, man gab ein Bild von den Insassen, zwei Männern und einer Frau, und wies alle Polizeibehörden auf das energischste an, das Goldauto anzuhalten. Große Belohnungen wurden für die Ergreifung ausgesetzt. Und nun ging die hat los!. Wer damals im Auto über Land fuhr, befand sich in steter Gefahr, er schossen zu werden, und wirklich fiel auch in Ostpreußen ein Landrat, der sich mit seinem Auto auf einer Dienstreise befand und nicht schnell genug auf den Anruf eines übereifrigen Bürger
wehrmanns hielt, zum Opfer. Er wurde durch Kopfschuß getötet. In den westlichen Berliner Bororten aber waren überall cuf den Hauptstraßen große Barrikaden aus Wagen der Straßenreinigung und der Feuerwehr gebaut. Ketten waren dazwischen geschlungen, die sich zum Durchschreiten nur dem öffneten, der sich legitimieren fonte, und bei diesen phantastischen Verschanzungen standen mit grimmen Mienen die sonst ach so harmlosen ländlichen Bolizisten. Über mit dem Goldouto war es nichts. Es war eine Ente! In den ersten Tagen des August traf man in Berlin in fast allen Haupt- und Geschäftsstraßen eine seltsame Kolonne. Sie marschierte mit todernsten Gesichtern und mit einer Miene, als menn sie das wichtigste Amt von der Welt verwaltete. Vor jedem Loden, dessen Schild ein paar französische, englische oder gar russische Worte enthielt, dessen Schaufenster die meistens nichtssagenden Säge aufmies: On parle français! English spoken!
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ein Frauenliebling jener Gegenden, in denen er Dienst hatte, ein Mann, der seine berufliche Würde mit einer gefälligen Sanftmut wohl zu verbinden wußte, leutselig gegen Passanten und Untergebene, und gegen Vorgesezte von einer sympathischen Korrektheit, der doch gleichwohl ein wenig stramme Auch in die Adjustierung wußte Demut beigemengt war. Binzenz eine persönliche Note einzufchmuggeln, so daß er nicht nur schmucker als seine Kameraden erschien, sondern auch vorschriftsmäßiger. Er war menschlich im Dienst, soldatisch im privaten Umgang.
Frau Blumich hatte während der langen Krankheit ihres Mannes mit einem durch Entbehrung doppelt geschärften Sinn die Vorzüge ihres Nachbarn in ihrer ganzen verwirrenden Fülle entdeckt und die Arnehmlichkeiten eines furzen Bortwechsels, eines gelächelten Grußes nicht selten genossen. Sie war fich jedoch darüber klar, daß der Unterinspektor wohl eine furze Zerstreuung für entbehrende Frauen fein konnte, aber niemals ein getreuer und zuverlässiger Gatte. Dazu fam der Nachtdienst dreimal in der Woche. Frau Blumich fürchtete sich allein, mit ihrem fünfjährigen Mädchen in ihren zwei fleinen, aber im Dunkel der Nacht fast unermeßlich scheinenden Zimmern. Und obwohl sie sich im allgemeinen wohl die Fähigkeit zutraute, zur Abwechslung neigende Männer zu zähmen und festzuhalten, so glaubte sie doch, gegenüber dem jugendlichen Uebermut des Herrn Binzenz Topp versagen zu müssen. Freilich war weder ihr Instinkt so zielsicher, noch ihr Verstand so scharf, daß sie gewußt hätte, wie sehr gerade der übermütig scheinende Unterinspektor sich nach der gesicherten Eristenz eines mit einer Witwe Verheirateten sehnte. Denn Binzenz Topp war im Grunde mit seinem Leben unzufrieden. Er glitt allmählich in die Jahre, in denen es lästig wird, Gedanken, Tage und sogar Geld den ewig wechselnden Objekten der Liebe zu widmen. Das Herz sehnt sich nach den beruhigenden Regeln der sittlichen Ehe. Wir wollen nicht mehr immer fozusagen unterwegs sein, um unser berechtigtes Verlangen nach der warmen Nähe der Frau stillen zu können. Unser Beruf allein schon macht uns heimatlos. Wir bedürfen eines traulichen Daheims, von dem aus gelegentliche Ausflüge nicht ausgefchloffen sind und schweigend verziehen werden. Wir bedürfen ferner einer eigenen, jetzt überhaupt nicht zu erreichenden Zweizimmerwohnung, möbliert, und einer ansehnlichen Familienzulage für Frau und Kind. Und schließlich der Ernennung zum Inspektor, die von einer Verheiratung zwar nicht abhängig war, aber durch einen Hinweis auf die gesteigerten Bedürfnisse bei einem günstig gestimmten Borge fetten beschleunigt werden konnte,
Laden und verlangte mit eherner Stimme die Entfernung der Anstößigkeiten. Wollte der Geschäftsinhaber dieses Verlangen nicht sofort erfüllen, wandte sich der Führer zu seinen draußen wartenden Leuten, die Leitern, welche sie mitführten, ansetzten, das Schild unter lautem Hallo der Umstehenden entfernten und die Buchstaben von den Schaufensterscheiben abrissen. Dabei ging es natürlich nicht ohne Beschädigung des Geschäfts ab. Endlich schritt die Polizei ein und machte dem Unfug ein Ende.
Die Garde rückt aus.
In den ersten Tagen des August rückte die Garde ins Feld. Der Auszug aus den Kasernen nach den Bahnhöfen, auf denen die Mannschaften verladen wurden, geschah nachts, oder aber am späten Abend. Die Angehörigen aber und die den Kasernen benachbart Wohnenden wußten von dem Auszug, und in hellen Haufen be= gleitete man die jungen Menschen, deren Leiber bald von Kugeln male jenes wehmütige Lied das in den folgenden Jahren so oft erzerfekt waren. Man warf Blumen und man sang damals zum ersten tönte, aber nie mehr geglaubt wurde:" In der Heimat, in der Heimat, da gibt's ein Wiedersehn!" Aber die Begeisterung bei diesen AtSchiedsszenen war ruhiger, verhaltener und mehr auf den Mollton bitteren Tränen und häufig genug hörte man die Worte:„ Da gestimmt. Man sah hier die erste große Trauer, die ersten führen sie unsere Männer und Bäter fort. Wer weiß, wer wiedertommt! Und wozu das alles? Wozu?" Und dann, nach ein paar Wochen, tamen die ersten Schlachtberichte, die ersten Listen derer veröffentlicht, die im Graben von Maschinengewehren, Grader Gefallenen, lang, endlos lang, wurden die Namen aller und die Tränen flossen, und dieser Born versiegte nicht bis zum naten und Gewehrfugeln zerrissen oder verstümmelt worden waren. letzten Ende, und es wurde still in Berlin , still wie in einer toten
Stadt.
In der Grenzstadt.
Kleine Carnisen in Ostpreußen . Die Grenze einen Katzen. sprung entfernt. Landleute arbeiten emfig auf den Feldern. Solbaten helfen als Ernteurlauber. Drückende Julihize. Vage Gerüchte durchschwirren die Luft, Kriegsgerüchte. Niemand glaubt fie, feiner will sie glauben, weder die Soldaten noch die Landleute, noch die Kleinstädter. Hier, an der Grenze, fizzt die Gefahr, hier wedi der Gedanke Krieg" teine Begeisterung. Arbeit soll das unbestimmte Grauen vor tommendem Unheil betäuben. Man beruft sich auf die Soldaten, die Ernteurlaub haben: Ei was, wenns Man schafft Krieg gibt, dann wären sie längst nicht mehr hier." weiter, man hofft, man weiß nichts Bestimmtes. Da, an dem letzten
Bon all dem ahnte, wie gesagt, Frau Blumich- sie hieß übrigens Katharina- gar nichts. Sie war gewohnt, Eindruck auf Männer zu machen, und sie fand nichts Besonderes daran, daß auch Vinzenz Topp ihr einen jener unternehmungslustigen und dennoch ehrfürchtigen Blicke zugesandt hatte, den alle Frauen zu schäzen wissen. Sie sammelte eine Menge solcher Blicke alle Tage im Hause und auf der Straße, im Bark und im Laden. Das hatte nichts zu bedeuten. Von den Männern ist einer leichtsinniger als der andere, alle wollen ohne Verantwortung genießen, jeder will haben, keiner will zahlen, wie das Sprichwort lautet. Katharina Blumich war eine nüchterne Frau. Auch den ersten Mann hatte sie sorgfältig erwählt. Daß er später lungentrant wurde, weil er Borstenarbeiter war, war Gottes Wille. Gegen das Schicksal fann man nichts unternehmen, aber den Verstand muß man trotzdem sprechen lassen. Dieser plädierte für einen Mann gesetzten Alters, mit einem förperlichen Mangel womöglich, der das eheliche Glück dennoch nicht verhindern konnte; die Bernunft gebot einen Bogel mit bereits geftuztem Gefieder, der leicht zu halten war und feiner aufregenden Disziplin mehr bedurfte. Dabei spielte der Stand feine Rolle oder nur eine geringe, insofern, als es Frau Blumich praktischer erschien, ein Wesen aus tieferer Sphäre zu sich emporzuziehen, als selbst emporgezogen zu werden. Dieses hätte sie zur Dankbarkeit verpflichtet und sie ihrer Autorität beraubt. In jedem Haushalt aber ist die Autorität der Frau das Wichtigste.
Aus diesem Grunde verzichtete Frau Katharina Blumich auf den Unterinspektor Vinzenz Topp. Mochte er eine andere unglücklich machen. Mochte er sein Leben lang überhaupt nur mit losen Frauenzimmern umgehen. Als eine ständige Bedrohung des rechtmäßig angetrauten Gatten und als ein Anlaß zu dessen Eifersucht war er ja stets nachbarlich zur Hand und gut zu gebrauchen. Man muß alles ausnügen, aber man darf sich nicht wegwerfen.
Der Tag, an dem Andreas Pum seinen offiziellen Antrittsbesuch im Hof des Hauses siebenunddreißig machte, war trübe und bleiern, trotz seiner spätsommerlichen Schwüle eine Vorahnung des Herbstes und von einem starken Feuchtigkeitsgehalt, der Andreas Schmerzen im fehlenden Bein verursachte. An diesen Tagen war er ohnehin schutzbedürftig. Kaum hatte er im Hof als ein schweigend ausgemachtes Erkennungszeichen die Loreley " intoniert, als Frau Blumich erschien, ihn bat, abzubrechen und in ihrer Wohnung sein Spiel fortzusetzen. Es war ein trauriges, ein melancholisches Lied und tat der Trauer feinen Abbruch.
( Fortsetzung folgt.)
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