K?.ZS2« 41. Jahrgang
I. Beilage öes VorWärts
5reitag, 15. August 1H24
Die Wogen der ersten Empörung und Bestürzung wegem der fast kannibalisch anmutenden Taten des Massenmörders Harmann be- ginnen sich zu legen. Di« Untersuchung und die polizeilichen Mchfor» schungen nehmen ihren Fortgangs die Gerichtsverhandlung wird in einigen Monaten völlige Klarheit über Tat und Täter bringen. Es scheint jetzt angebracht, die Ansicht eines Menschen zu hören, der auf Grund praktischer Erfahrung und wissenschaftlicher Eignung zu dem Fall Stellung zu nehmen imstande wäre. Es lag nah«, Dr. Mag- nus Hirschfeld auszusuchen. Man torm wohl sagen, daß er vielleicht mehr als mancher andere Sexualforscher geeignet erscheint, über diesen außergewöhnlichen sexuellen Kriminalsall Aufklärung zu g-ben.(Sein grundlegendes Wert über die Homosexualität steht einzig in der Sexualliteratur da. Sein Versuch, in einem dreibän- digen Werk«„Die Sexualpathologie"' die wissenschaftliche Zusammen- fassuiny seiner praktischen Erfahrungen zu geben, bietet die Gewähr fiir sein« Sachkunde und Obscktivität.) Dr. Magnus Hirschfeld hat sich nun über die sozial- und kriminal-psychologisch« Seite des Falles Haarmann ungefähr folgendermaßen geäußert. Die männliche Prostitution. Dar Fall Haarmann rührt an einer großen Zahl van.Pro- Äemen. Es liegt aber kein Grund vor, weil«s ein Teil de? Presse getan hat, die Frag« de? Homosexualität in den Vordergrund zu schieben. Jeder Kriminalist weiß, daß relativ selten Morde von Homosexuellen begangen werden-, viel öfters kommt es zu Morden an Homosexuellen. Es wäre ebenso töricht, die homosexuellen für Haarmanns Morde verantwortlich zu machen, wie etwa die Hetro - sexuellen für die Untaten der Frauenmörder Jack, th« ripp«. Lau- dru. Großmann u. a. Der Mechanismus des Lustmordes— vorausgesetzt, daß Haarmanns Toten Lustverbrechen waren— bleibt der ß'eichc, einerlei, ob der Trieb auf das eine oder auf das andere Geschlecht gerichtet ist. Die Fälle der Lustmord« durch Homosexuelle find überhaupt sehr gering, verhältnismäßig geringer, als die Zahl der Lustmorde an. Frauen. — Sehr viel besprochen wird das Pro« blem der männlichen Prostitution. Sie ist in nicht geringerem Maße«ine sozial« Erscheinung wie die weiblich«. Allerdings sind die psychologischen Voraussetzungen im ersten Fall« teils doch anderer Natur. Bei den jungen Menschen sind es nicht selten ihre HSus- tichcn Verhältnisse, die Genußsucht und in der letzten Zeit auch b«. sonders oft die Arbeitslosigkeit, die sie veranlasien, durch Verkehr mir homosexuell veranlagten Mens6>en sich einen Verdienst zu ver- schassen. Daß die männliche Prostitution für die Jugend«ine Ge- fahr bedeutet, darüber besteht kein Zweifel. Sie ist es aber für fi? in gleichem Maße wie die weibliche Prostitution für junge Mädchen. Man kann aber die Homosexuellen für dies« Erscheinung nicht in höherem Grade verantwortlich machen als die Hetro - sexuellen für die weibliche Prostitution. Das beste Mittel gegen dies« Gefahr ist einerseits die Hebung der allgemeinen Wirtschaft- lichen Verhältnisse und andererseits eine genügend« sexuell« Auf- värung und eine weit ausgebaute soziale Jugendfürsorge. Haar- manns Ops«r sind nur zu einem Teil« männliche Prostituierte gewesen, zum anderen Teile waren das zugereiste junge Men« schen. die vielleicht aus dem einen oder anderen Grunde mit ihm gingen. Daß sie aber mit ihm gehen konnten, spricht einerseits für den ungenügenden moralischen Halt dieser jungen Leutg und anderer. seit» für die vollständig unzureichende soziale Hilfe an den Orten, wo sie am notwendigsten ist. Wieviel junge-Mädchen fi«len Männern zum Opfer, wenn die Vahnhofsmissivn nicht auf ihrer Hut wäre. Kirafrechlllcher Verfolgung unterliegen nur bestimmt« Aeuhe rangen des homosexuellen Verkehrs— letzteren nachzuweisen ist-fast nie möglich. So wurde de? ß 175 zur Quelle von Erpressungen und zur Fall« für die Homosexuell «». Nachdem in den siebziger Jahren di« Kriminalpolizei unter Führung von Meerscheidt-Hüll«. fem sich einer humaneren Praxis tn bezug auf die Homosexuellen zu bedienen begann, hörten die kleinsichen Verfolgungen aus. und sie durften sich freier bewegen. Wenn Haarmann al» Kuppler und Zuhälter ausgetreten ist, so ist zu bedenken, daß es viel weniger Menschen dieser Gattung- unter homosexuellen als hetrosexuellen
Männern gibt. Es liegt also im Falle Haarmarm gerade wegen seiner Ungeheuerlichkeit eine gewiss« Gefahr in der Derallgemeine- rung. Es handelt sich hier um einen unglaublichen Sonderfall, der allein aus Haarmanns Persönlichkeit zu verstehen ist. Das Motiv öer Morde. Aus welchen Motiven hat mm Haarmann seine Derbrechen be- gangen? Wenn man in dieser Hinsicht sich nicht auf Aussagen junger Menschen, seiner Bekanntschaft wird stützen können, so wird man aus Haarmanns Behauptungen ollein angewiesen fein. Er wist di« Morde im Zustande völliger Bewußtlosigkeit begangen haben. Eine Simulation seinerseits ist in dieser Beziehung naturlich nicht ausgeschlossen. In seinen anfänglichen Aussagen wollte er ja seinen Opfern die Kehl « durchbissen höben. Sollte das der Wahrheit ent- sprechen, so würde«« sich um einen Lustmord handeln. Man muß sich dos so denken, daß Haarmann während des geschlechtlichen Ber- kehr? durch Grausamkeiten eine Lusterhöhunq erzielen wollt« und schließlich im Höhepmikt seinem Partner an die Gurgel gsng. Hier würde«n« Untersuchung von Haarmanns Gebiß die Entscheidung bringen, ob er überhaupt auf diesem� Wege di« Tötung zu begehen imstande war. Aehnlich liegt es mit de? Vermutung, er habe feine Opfer mit den Händen erwürgt. Auch dazu ist große physische Kraft erforderlich. Nicht unmöglich erscheint die Hypothese, daß er, wi« Dr. Kopp das voraussetzt, die unglücklichen jungen Menschen wäh- rend des Schlafes erdrosselt hat. Auch in diesem Falle könnte es sich um einen Lustmord handeln. Die andere in der Presie ausgestellte Vermutung geht dahin, daß Haarmann die jirngen Menschen umgebracht habe, um sich van lästigen Zeugen zu befreien. Das leuchtet jedoch wenig ein. Einmol hätte die Gesahr, der er sich durch die Mord« ausgesetzt hätte, in keinem Verhältnis zum Zwecke gestanden: zweitens war haarmann ein viel zu routinierter Mensch, um nicht imstande gewesen zu sein, sich die jungen Leute aus andere weise vom Halse zu halten. Ja, was hätte er denn von ihnen zu befürchten gehabt: ein« Erpressung— dazu war er zu sehr ge- mitzigt: eine Denunziation— dazu stand er in zu guten Beziehungen zur Kriminalpolizei. Höchstens, daß er sich ihrer hötte entledigen müssen, weil er als Sadist an ihnen sich so gewalttötig grausam vergangen hatte, daß sie ihm als Zeugen und Objekte dieser Grau- samkeit gefährlich werden tonnten. Dann hätte er, sozusagen, statt hakbe Arbeit ganze machen wollen. So lagen die Dinge im Falle der Ermordung des Knaben Heid«? in Berlin . Die Zerstückelung der Leichen durch Haarmann kann entweder als sadistisch« Hand- lung bewertet werden oder Äs Mittel, auf einfachstem Weg« sich der Leichen zu entledigen. Ist Haarmann pspchisch krank! Jedenfalls tappt man hier völlig'm Dunkeln. Nur eine ein» S>end« psycho- physische und fexualpsycholoaische Untersuchung des örd«rs wird vielleicht über die wahren Motive seiner Tat Auf- schluß geben. Nicht allein Haarmanns Seelenleben, sondern auch das seiner Eltern muß durchforscht, fein Leben und seine Entwick- lungsverhältnlsse müssen einer genauen Analyse unterzogen werden. Dann erst wird man sich aus der Gesamtpersönlichkeit dieses Men- schen heraus Sckstüsse über die Motiv« fein«? Tat erlauben können. Erst dann wird man auch ein Urteil darüber abgeben können, ob Haarmann seine ungeheuerlichen Handlungen im Zustande von Geisteskrankheit begangen hat und ob ihm der Z 51 zugesprochen werden kann. Es ist nicht leicht, zu glauben, daß ein geistesgesunder Mensch solche Taten begehen tonnt«. Zum Trost für die Menschheit erweisen sich derartig« Kapitalverbrecher fast immer, als geisteskrank« Menschen. Pie modern« Sexualforschunq verlangt größere Freiheit für sexuelle Partner, sosern sie freiwillig in Beziehung zueimmder treten. Um so schärfer verwirst sie aber jede Gewaltanwendung im sexuellen Verkehr. Man kann auch bei der Detrachtuna dieses Falles den verdächtigen Umstand nicht unerwähnt lassen, daß der Beginn von Haarmann» Mordtaten gerade in das Jahr 1S19 fällt, also in «ine Zeit, als die Folgen, des blutigen Krieges sich auszuwirken begannen. Man kam, sich nicht des Eindrucks erwehren, daß im Falle Haarmann. wie in vielen gleichen Fällen, nicht doch dos
Kriegsmorden die schlimmsten Instinkte im Menschen zum Hern- unrngslosen Sichausleben verholten hat. Moralisch reinigend, wie es viel« erhofften, hat der Krieg jedenfalls nicht gewirkt. -i- Soweit Dr. Magnus Hirschfeld . Eine genaue psychiatrische Durchforschung von Haarmanns Persönlichkeit erscheint unbedingt angezeigt. Man kann begierig sein, was sie zutage fördern wird.
Der potsöamer Experimentierplatz. Von einem Mitglied der Verkehrsdeputation wird uns geschrieben: Allen Ernstes: wir schlagen vor, daß die Reichsregierung sich demnächst auf dem Potsdamer Platz verfammell, um sich das Phänomen einmal anzuschauen. Es ist wirklich nicht uninteressant! Ein Regierungsrat P. macht ein«„Studienreis«'" nach London und Amerika , versteht sich, und entdeckt, daß wir Klein-Kleckersdorfer von Groß- Berlin eigentlich nur die reinsten Botokuden sind im Verhältnis zu den fortgeschrittenen Bewohnern von New Port Eity. Selbstverständlich wollen wir nicht Klein-Kleckersdorfer bleiben und darum muß bei uns schnell nachgemocht werden, was sich im Aus- lande bewährt hat. Di« Folge ist: Jeden Tag wird auf dem Pois - domer Platz eine neu« Insel gebaut, jeden Tag wird Größe und Format des Aussichtsturms mit dem obligat tutenden Schupomoun geändert. Das kann eigentlich ncl rnfiniturn fv weitergehen. Im Ernst: all dies« Experiment« an dem Potsdamer Platz gehen genau so wie die wohlgemeinten Ratschläge zahlreicher Ber - kehrskenner vollständig an der Tatsache vorbei,. daß der Berliner Verkehr ganz anders geartet ist als der Berkehr in London und New Norf. Ein« illustriert« Zeitung bracht« vor einiger Zeit sehr interessant« Bilder, auf denen der Berkehr auf Brennpunkten in New Port und London auf der einen Seite und in Berlin auf der anderen Seite gegenübergestellt wurden. In den englischen Hauptstädten ein hochkonzentrierter Cityoerkehr, bei dem dos Auto das Strahenbild beherrscht, in Berlin ein ungewöhnlich verteilter Verkehr, Die Berllner Vertehrszentren liegen keineswegs in der City, sonderen peripherisch verteilt. Trotzdem ist natürlich am Potsdamer Platz ein Verkehrsproblem zu lösen. Die Hauptschwierig- keit entsteht durch die ungeheuvo Häufung der Straßenbahnlinien. Die einfache Feststellung, daß die Straßenbahn ein veraltetes, vor- stntflutliches Verkehrsmftitut Ist. genügt nicht als Abhilfevorschlag. Selbst we-.:ti die Omnibuslinien in weitestem Maße ausgebaut wür- den, so kömrten sie aus absehbare Zeit den Strahenbahnverkehr doch nicht ersetzen. Das läßt sich nur durch Ausbau des Unter- grundbahnnetzes bewerkstelligen. Es ist bekannt, daß die Stadt mit bedeutenden Mitteln daran arbeitet, aber bis wir die Pläne des Zweckverbandes für den Untergrundbahnverkehr durch- geführt haben werden, wird einige Zeit vergehen, wenn nicht ein Krösus uns eine halbe Milliarde Goldmark für den Ausbau zur Verfügung stellt. Jeder weiß doch, daß daran nicht zu denken ist, und daß wir nicht reich genug sind, um innerhalb 24 Stunden dieses Ziel zu erreichen. Deswegen müssen wir zunächst neben der euer- zischen Förderung des Untergrundbahnboues leider alle Energie auswenden, um die nun einmal vorhandene Straßenbahn zur höchsten Leistungsfähigkeit auszubauen. Auf der Leipziger und Potsdamer �Straße geht es aber so nicht mehr weiter. Deswegen muß so bald wie möglich zur Entlastung des Verkehrs auf der, Leipziger Straße und damit auch auf dem Potsdamer Platz die Französisch« Straße alp zweite Verkehrsader ausgebaut und durch die sogenannten Ministergärten durch- geführt werden. Dann wird es möglich sein, einen großen Teil des Verkehrsstroms, der jetzt di« Leipziger Straße und den Potsdamer Platz überflutet,«wf kürzerem Wege abzulenken und ein« schnellers Verbindung nach dem Westen herzustellen. Technisch ist das Pro- jekt einfach zu lösen. Di« Vorarbeiten sind bei der Stadt längst geleistet.. Es kommt nur darauf an, daß die Oeffentlichteit und die städtischen Körperschaften endlich einsehen, wohin' wir in Berlin kommen, wenn man immer nur zu Quacksalbereien greift. 'Inseln, Grünflächen und Schupotürme und ähnliche Scherz« auf dem Potsdamer Platz mögen sehr gut gemeint fein, sie lösen aber das Problem in temer Weise. Der Durchbrach de,r Frau- zöfischen Straße durch die Ministergärten würde um mindestens den vierten Teil den Strahenbahnverkehr und zu einem grohen Teil auch den Fußgängerverkehr ablenken. Ebenso wichtig würde es selbstverständlich auch sein, wenn es gelänge, die nn Prosekt des Zweckverbandes vorgesehene Unter-
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10.
Am nächsten Morgen kam eine gerichtliche Vorladung vn den.Lizenzinhaber Andreas Pum". Das Schriftstück trug itin Amtssiegel, einen weißen lithographierten Wappenadler duf einem roten runden Papier, und' obwohl die Adresse von einer flüchtigen Hand geschrieben war und der Gerichte viel- beschäftigte Eile bewies, verbreitete das Schreiben dennoch eine Ahnung von jener langsamen Feierlichkeit, die unsere Aemter auszeichnet. Es enthielt die Vorladung vor die zweite Kammer, welche die eiligen und unbedeutenden Strafsachen zu behandeln hatte. Zum ersten Male wurde hier Andreas Pum als ein„Beschuldigter "" bezeichnet, ein Wort, das, wenn es von einem Gericht geschrieben war, schon sast wie„Be- strafter"" klang. Im übrigen enthielt das Schreiben nur noch die nähere Terminbestimmung, einen runden, roten Stempel, der etwas blaß und undeutlich ausgefallen war und die un- leserliche Unterschrift eines Richters, die anzudeuten schien, daß der Mann der Gerechtigkeit vorläufig nicht gekannt sein wollte. Mehrere Male las Andreas das Schreiben des Gerichts. in einer törichten und aussichtslosev Hoffnung, daß er zwischen den gedruckten Zeilen des Formulars etwas herauslesen könnte. Nützliches oder Schädliches, etipas von der Stimmung. die den Richter beherrschte. Als das nicht gelang, versuchte er. sich das Gericht vorzustellen, das Kreuz, die Lichter, die Barriere, die Angeklagtenbanf. den Lx-okkiew-Verteidlger. den Richter, den Schreiber, den Gcrichtsdiener. die Aktenbundel, und das große Bild des Gekreuzigten, zu dem er innerlich schon betete. Er ging in die Kirche aus gelben Ziegelsteinen hinüber, in der er seit seiner �rauung nicht gewesen war. Die Kirche war leer, ein Fensterflügel stand'n der Hohe eines Stockwerks offen und kalte Luft bl.es der Wmter in das Gotteshaus, das dennoch muffig roch, nach Menschen, ausge- löschten Talgkerzen und Tünche. Andreas faltete die Hände. kniete nieder und sagte mit der dünnen Stiinme, mit der er als Schulknabe vor dem Unterricht gebetet hatte, drei, vier, fünf Vaterunser auf. Hieraus fühlte er sich beruhigt, gesichert vor böser Ucber- raschung, vor dem gerichtlichen Urteil, dos im Schöße des Morgen lag. Er kehrte heim rmd kraf einen fremden Mann im Zimmer.
Der stand auf und verneigte sich leicht und. setzte sich wieder und sagte sitzend zu Andreas:„Ich warte auf Ihre Frau Gemahlin. Sie entschuldigen schon! Ihre Frau Gemahlin muß in einer Biertelswnde da sein. Ihre Frau Gemahlin war heute früh bei mir im Geschäft. Sie können selbst sehen, wie pünktlich ich bin. Den ganzen Tag unterwegs und immer pünktlich. Das ist meine Devise."" Andreas betrachtete den Mann feindselig, obwohl er ihn weder kannte, noch verstanden hatte. Gewiß war er zu irgendeinem bösen Zweck hier— Andreas ahnte es. Cr gab sich einige Mühe, den Beruf und die Absichten des Fremden zu erraten. Aber es gelang ihm nicht. Solange der Fremde saß, machte er den Eindruck eines großgewachsenen Mannes. wenn er aufstand, war er. sehr klein. Denn er hatte kurze Beine. Sein vorgewölbtes Bäuchlein hätte auf eins gewisse Gutmütigkeit schließen lassen, ebenso wie die rötlichen Mädchen- wangen unii. der harmlose kleine schwarze Schnurrbart und das glatte, gepuderte und säuberlich rasierte Kinn, das in der Mitte eine lächelnde Mulde hatte. Auch das Naschen war zierlich, sorgfältig und wie aus Gips geformt. Aber in den kleinen schwarzen Augen brannte ein böser Glanz. Der Fu-mde sah aus, wie ein pausbäckiger Knabe mit dem Wuchs und dem Gebaren, der Stimme und dem Bartwuchs eines Mannes. Von ihm ging eine heitere Bosheit aus, eine nieder- trächtige Gutmütigkeit. Er faß da und hatte gar nicht das Angesicht eines Wartenden. Es schien, daß er sich nicht einen Augenblick langweilte. Seine brennenden Augen sprühten Funken über die Gegenstände des Zimmers, den Teppich, den Tifchläufer, die Vase aus blauem Stein, das Kissen mit der Stickerei, als wollte er alles in Brand setzen, So saß er da, lebbaft beschäftigt, und ließ merken, daß ein reger Geist auch an den gleichgültigsten Dingen der Welt Interesse zu finden imstande war. Immer noch duftend, van einer Wolke parfümierten Frohsinns umgeben, trat Frau Katharina ein und. als hätte ihn plötzlich etwas auf seinem Sitz gestochen, sprang der Mann in die Höhe.„Ich begrüße Sic ergebenst!"" sagte er.„Wir wollen gleich ans Geschäft gehen. Nur nichts aufgeschoben!—- ist meine Devise." Katharina klirrte mit den Schlüsseln. Andreas beob- achtete sie und den Mann schweigsam aus der Ecke. Er folgte ihnen, als sie hinausgingen. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß und sein Herz klopfte in wuchtigen, die JBrust fast sprengenden, von Zeit zu Zeit ausfetzenden Schlägen. An die Tür gelehnt, die den Hof vom Flur trennte, stand«r und
sah. wie feine Frau den Stall Mulis aufsperrts und den Esel hinauszog. Es war sonnig und trocken, und das kleine Tier warf einen unwahrscheinlich riesigen Schatten auf den glitzern-- den Schnee. Vor Andreas Augen verfinsterte sich die Welt. Der strahlende Himmel wurde dunkelblau und schien sich her-- absenken zu wollen wie ein Vorhang. Alle Gegenstände wur- den dunkelgrün, wie durch ein Vierflaschenglas gesehen. Alles spielte sich in dieser zauberhaften Traumbeleuchtung ab. Der Fremde tätschelte den Esel. Er kniff ihn, als wollte er sich überzeugen, ob das Fell dick genug ist. Er kitzelte das Tier an den Ohrenspitzen, daß es unwillig den Kopf wandte und schüttelte. „Sehen Sie," sagte der Fremde,„was fang ich mit so einem Tier an? Ich will ja damit nicht gesagt haben, daß ich es überhaupt nicht brauche, aber was fang ich mit einem Tier an? Wenn es wenigstens ein Pferd wäre, ein kleines Pferd- chen," sagte er mit"zärtlicher Stimme, als spräche er schon zu einem kleinen Füllen. „Ich sagte Ihnen ja: ein Esel," erwiderte mit resoluter und schriller Stimme, die nichts Gutes verhieß, Frau Katharina. „Gewiß, gewiß," sagte der Mann mit niedergeschlagenen Augen,„ein Esel, gewiß. Aber so ein kleines Eselchen!" „Ein Esel ist doch kein Kameel!" schrie Frau Katharina. „Belieben zu scherzen, ha, ha, ein Esel ist gewiß ein Esel. Aber es gibt große und es gibt kleine Esel, auch ganz winzige Tierchen. Ich habe schon viel kleinere Tierchen gesehen!" „Na,.sehen Sie!" triumphierte Katharina,„Sie sagen's doch selbst!" Zögernd griff der Mann nach der Brieftasche. Er zog drei Scheine, sie waren sehr neu und knisterten und er zählte sie zweimal und hielt sie in die Lust und knatterte noch mit ihnen eine Weile. Dann schlang er sein kleines fettes Aermchen um Muli und daK Tier trottete hinaus, an Andreas vorbei. Katharina blickte über ihn hinweg, als wäre er ein Bestandteil des Tür- pfostens. Andreas sah seinem Esel bis zur Tür nach. Der Mann wandte sich noch einmal um und grüßte:„Ergebenster Diener!" sagte er. Andreas humpelte ihm nach. Er sah bis an das Ende der Straße. Da ging der Mann und Muli trottete am Rande des Bürgerfteigs, hart neben der Bordschwelle, das liebe Tier, das warme/kleine Wesen. Es hatte goldbraune Augen und fein grauer Leib barg eine menschliche Seele. (Fortsetzung folgt.)