Die Haltung der Besatzungstruppen ist erkräglicher geworden. Die Paß- und Zollkontrollen sind nicht mehr so lästig wie ehedem, die Bewegungsfreiheit im besetzten Gebiet wird bald ohne Einschränkungen wieder gegeben sein. Der Verkehrsapparat der Eisenbahnen ist heute etwas ganz anderes als im vorigen November und genügt mehr den An- forderungen der Wirtschaft. Vor allem kann man heute wieder im Kohlenpott ungehindert telephonieren und Zeitungsverbote sind geringer geworden. Die Straßenbahn- linien wurden sogar in den letzten Wochen verschiedentlich weiter ausgebaut. An den Grenzgebieten wird der Verkehr von den Besatzungstruppen nur wenig behindert. Hoffent- lich stellt Frankreich die schwergeprüfte Bevölkerung an der Nuhr nicht allzu lange auf die Probe, und hoffentlich erlebt sie keinen Rückfall in wahnsinnige Methoden des Militaris- mus, denn das Land der schwarzen Diamanten braucht Ruhe: cs hat viel zu schaffen, zu reparieren und neu zu bauen, um für Freiheit und Boden arbeiten zu können.
Die halben£>e!üen. ' Der deutschnationale$falstaff. Die Deutschnationalen sind halbe Helden. Sie schrecken immer vor dem letzten Entschluß zurück. Jetzt ist es an ihnen, sich zu entscheiden. Jetzt gibt es keine„unverzichtbaren Vor- behalte" mehr, kein Ausweichen auf die Diskussion der Ver- Handlungsmethoden. Jetzt gilt nur noch das klare Ja oder Nein, annehmen oder ablehnen. Ein freies, aufrichtiges und ehrliches Manneswort. Man meint vielleicht, die Entscheidung der Deutschnatw- nalen sei selbstverständlich? Sie hätten doch eben erst laut ge- schrien: am Grabe der Hoffmingen— das zweite Londoner Ultimatum— ein zweites Versailles? Das stimmt, und gestern abend setzte ihre Presse dies Konzert fort: „Das Ergebnis von London ist aus all diesen Gründen d ar ch- aus unbefriedigend; es entspricht nicht den Zusagen der deut- scheu Reichsregierung: es legalisiert«inen der erbärmlichsten Raub- züge der Weltgeschichte und bildet dadurch einen Anreiz für später« neue Gewalttaten, und es bietet keinerlei ausreichende politisch« Gegenleistung für die Annahme der größten finanziellen Versklavung, die jemals durchgeführt wor- den ist. des Dawes-Plcmes."(Deutsche Tageszeitung.) „Wenn also von der Regierungspresse Erfolge in die Welt posaunt werden, so ist das weiter nichts als Stimmungsmach«. Erreicht wurden meist glatte Ablehnimgen; bestenfalls Versprechungen. Nicht IM oder auch nur 66% Proz. des vollen Erfolges find er- reicht, sondern die volle hundertprozentige Ver skia- vung Deutschlands durch die Weltfinanz." (Deutsche Zeitung.) Das sind doch klare Worte? Aber am Sonnabend hieß es „aus leitenden deutschnationalen Kreisen", es gäbe nur eine Haltung: ablehnen! Gestern, als die Führer der Deutsch - nationalen in der Parteiführerbesprechung nach ihrer Entscheidung gefragt wurden, machten sie A u s f l ü ch t e. Sie erklärten, man müsse erst abwarten, erst die Ge- setze kennen, sie könnten sich noch nicht endgültig entscheiden, noch keine endgültige Erklärung ab- geben. Versklavung Deutschlands — aber keine endgültige Erklärung; am Grabe der Hoffnungen Deutschlands — aber erst, wenn die Deutschnationalen die Gesetze kennen; ein zlö'eites Versailles — aber vielleicht wird man doch zustimmen! Sie können nichts ganz sein! Erst wollten sie die Rolle der Unentwegten spielen— aber da kamen ihnen die unangenehmen wirtschaftlichen Tatsachen in die Quere. Wendung zum Umsall, vielleicht sogar ein Geschäft damit zu machen— aber nicht einmal umfallen konnten sie ganz. Sie renkten und wackelten, aber dann kam die Konferenz. Zurück zur männlich heldenhaften Haltung der Unentwegten— die Welt glaubte schon, sie würden umfallen vom Umsall. Aber da hätten sie etwas ganz tun müssen, hätten den Mut haben muffen, im
innerpolitischen Kampfe, sei es auch im Wahlkampfe, um ihre jeweilige Anschauung zu ringen. Sie möchten gerne ganze Helden sein und Nein sagen— aber nun fürchten sie die Auflösung des Reichstags und die Wahl. Vielleicht kann man noch einmal umfallen, vielleicht einen Dreh finden, um die Entscheidung im Kampfe zu ver- meiden? Die ganze innere Qual der halben Helden enthüllt sich in der„K r e u z z e i t u n g". Vielleicht finden sich in den Gesetzen die großen Erleichterungen über unvermutete Erfolge in London ? Also behaupten wir zur Vorsicht: die Deutsch - nationalen, nicht die Delegation hat diese Erfolge gehabt: „Welches war der einzige Aktivposten, den die Herren Marx und Stvefemann nach London mitnahmen?— die deutschnationale Opposition. Was hat in London > e i n e b«- scheiden« Wirkung gehabt?— Die deutschnationale Opposition." Umsall gefällig unter der Parole: wir Deutschnationalen haben den Erfolg von London bewirkt? Aber es könnte ja auch anders kommen, man könnte ja Nein sagen müssen, wie vermeidet man Kamps und Auflösung? In der Furcht vor der Auseinandersetzung klammert sich das tapfere Organ an jeden Strohhalm. Vielleicht haben die Sozialdemokraten Angst vor den Kommunisten, vielleicht sind die Kommunisten die Retter in der Not: „Wenn auch ein Wahlaussall nie genau vorausgesagt werden kann, eins ist sicher: Erneutes Auwachsen der kommu- nistischen Fraktion aus Kosten der sozialdemo- k ratischen. Denn gegen die kommunistische Parole, die Arbeiter- schaft müsse die Hauptlast bei dem„kapitalistischen Geschäft" tragen, kann die Sozialdemokratie nicht aufkommen." Und wenn auch das nichts hilft— vielleicht kann man sich vergewaltigen lassen? Die„Kreuzzeitung " möchte nur zu gerne vergewaltigt werden: „Die Dawes-Gesetze aber wird man auf andere Weise unter Dach und Fach zu bringen suchen� wahrscheinlich durch Annahm« mit einfacher Mehrheit, die man vorher für statthast er- klärt. Das wäre verfassungswidrig? Du lieber Gott, was haben wir in der Republik nicht schon alles erlebt." Die Entscheidung steht, und niemand hilft den Deutsch - nationalen davor: umfallen oder kämpfen. In dieser Stunde wissen sie noch nicht was sie wollen. Das ist die Partei, die nach der Führung drängte, die Partei der Unbedingten, der Charaktere! Nicht einmal umfallen können sie mit Anstand! Und wenn sie Nein sagen, zum Kampfe gestellt: mit dem Fluche der Halbheit belastet werden sie in den Kampf ziehen, unsterblich lächerlich vor der Geschichte als die halben Helden, bei denen der Kampf im Grunde genommen, nur— ein Umsall wart..___ Vormarsch öes �Reichsbanners� Erfolge im ganzen Reich. Genosse Karl Höltermann , Redakteur unseres Magde- burger Partsiblattes und gleichzeitig Pressewark des„Reichs- banners Schwarz-Rot-Gold", gibt im neuesten Heft der „Glocke" einen Ueberblick über die Entwicklung des„Reichs- banners" in den wenigen Monaten seines Bestehens. Er er- innert daran, daß angesichts des Ludendorff-Rummels in Halle am 11. Mai die dortigen Genoffen sehr trübe in die Zu- kunft der Republik sahen. Aber: Es sind kaum drei Monate vergangen— und wir nähern uns der zweiten Million Mitglieder im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Genau drei Monat« nach dem großen„Deutschen Tag " von Halle, von dem Freunde und Gegner annahmen, er werde der Ausgangs- punkt einer schwarzweihroten Welle werden, die ganz Norddeutsch- land überflutet, erlebten wir den Verfassungstag 1921, der die schwarzrotgoldene Sturmflut brachte. Als der Bundesvorstand acht Tage nach dem 11. Mai in Magde burg zusammentrat, um die Berichte über die Rundreise durch all« deutschen Gau« entgegenzunehmen, da war es uns gewiß, daß die
Gründung des Reichsbanners kein Fehlschlag war; aber mancher zweifelte noch, ob es gelingen werde, die in Aussicht ge- nommene Reichsoersassungsseier in Weimar zu einem Erfolg zu gestalten. Nur diese eine Feier war als größere Veran- staltung geplant, von ihr versprachen wir uns ein« ähnliche Wirkung, wie sie der Reichsjugendtag 1920 für die Arbeiterjugend hatte. Nach vier Wochen wußten wir, daß neben der Feier in Weimar noch in ipindestenp zehn Städten Veranstaltungen stattsindeu würden, in einem Ausmaße, wie sie nie zuvor erlebt wurden. Als die w u n- den Punkte erschienen uns Berlin , Hall�, Nürnberg , München . Der Riesenstadt Berlin , wo die Kommunisten sich redliche Mühe gaben, die Arbeiterbewegung zu zerrütten, das Gepräge des Reichsbanners aufzudrücken, schien eine schier unlösbare Aufgabe- sie wurde gelöst; der Gau Berlin ist einer der besten von allen. Der Bezirk Halle , einst die kommunistische Hochburg, war zur Beute der Reaktion geworden; Stahlhelm und Werwolf waren zu Herrschern geworden. Es wurde geschafft. Halle wurde am 19. August für die Demokratie erobert, wobei das klein« Anhalt getreulich« Hilfe leistete. Der Gau Hall « und der Gau Ost- preußen— sie sind der Stolz des Reichsbanners. Auch Bayern bekam die Kraft der Reichsbannerbewegung zu spüren. Wohl waren Verfassungsfeiern unter freiem Himmel verboten— aber kein Raum in München und Nürnberg war groß genug, um die Republikaner zu fassen. Di« Polizei mußte es dulden, daß Zehntausende im Freien sich sammelten. Es ist eine ungeheuerliche Arbeit geleistet worden in den drei Monaten.... Ein neuer Ansturm von Mitgliedern hat eingesetzt, der Rahmen der Formationen ist wiederum gesprengt. Des alten Generals Deimling Ruf: Das Ganze sammeln unter dem Reichs- banner Schwarz-Rot-GoldI hat Tausende und aber Tausend« in Bewegung gebracht. Und nicht nur die Männer des demokratischen Deutschland scharen sich um die Fahne der Republik . Auch die Frauen fordern immer stürmischer ihre Einordnung in die Be- wegung: auch sie wollen mitraten und mittaten, wenn es um die Zukunft Deutschlands geht.... Das Reichsbanner ist dos Sammelbecken einer gewaltigen Kraft — am Verfassungstage 1924 ist sie sichtbar geworden. Wo und wie wird sie angesetzt werden? Die Gegner der Republik bestimmen den Punkt, auf den der Stoß gerichtet wird.... Die Münchener Polizei tat gut daran, daß sie auf die Durchführung des Kokardenverbots am 19. August verzichtet hat. Mit diesem Verbot sollt« ja auch nicht das Reichsbanner, sondern das Reich getroffen werden. Und jede Re- gierung, die sich gegen den Reichsgedanken vergeht, muß damit rechnen, daß die Riesenorganisation des Reichsbanners als Propa- gandaapparat gegen sie eingesetzt wird. In diesem Zusammenhang weist Hölkermann darauf hin, daß das Kokardenverbot gleichzeitig die Frage des Verhält- nisses der Länder zum Reich berühre. Der Sinn des„Reichs- banners" ist, die deutsche Republik zu schützen. Ver- suchen einzelne Länder, sich auf Kosten des Reichsge- d a n k e n s partikularistifche Sonderrechte zu verschaffen, so wird der im„Reichsbanner" verkörperte Gedanke seine Wirk- samkeit nicht verfehlen, das heißt, er wird bei geplanten Ver- fassungsändeningen sich dafür einsetzen, daß das Reich ge- stärkt werde, selbst wenn es einzelnen Landesregierungen wider den Strich gehen sollte. Schwarz-Not-Golü auch in Sopern. München , 18. August. (Eigener Drahtbericht.) Die ober- bayerische Arbeiterschaft veranstaltete am Sonntag auf dem Hohen Peißenberg und dem Taubenberg im bayerischen Ober« land zwei Sommerfcste, die durch ihren starken Pesuck bewiesen, daß trotz der Verbote und Schikanen durch die bahcrisSe Regie- rung die Republik und das Banner Sckwarz-Rot-Gold auch in Bayern marschieren. Auf der Heimfahrt wurde eine Jugendabteilung in Holzkirchen von Hakenkreuzlern überfallen und vier Jugendliche schwer mißhandelt. Ein Bauer aus Warngau wurde erstochen. Mehrere Lastkraftwagen, die Festteilnehmer uach München zurückbrachten, wurden daraufhin»on der Polizei angehalten und zur Polizeidireltion geleitet, dort wurden die Per- sonalien der Insassen festgestellt.
Jus öem Tagebuch eines Jbgebauten. Von Erich Lang. „Zufolge der Preußischen Personalabbauvorordiurng fche ich nrich zu meinem größten Bedauern gezwungen, Ihnen Ihre Stellung in meinem Bureau zum 31. März 1924 zu kündigen." So fing's an. Dann gab's ein schmälzig sentimentales Zeugnis mit einer kleinen»persönlichen Rote". Zum Schluß kamen die stei- flu Verabschiedungen bei den Vorgesetzten� von denen man wärmst« Wünsche für eine gute Zukunft entgegennehmen durfte, und dann die Abschiedshändedrück« der schadenfrohen Kollegen, an denen der Kelch glücklich vorübergegangen war. Nochher gab's noch ei» kleines Zehrgeld mü-auf den Weg ins«ue Leben: Abfinduvgs- summ« genannt. Und mm lauft Zuerst fühlt man sich sehr wohl dobä. Da kannst da lange schlafen, schimpfft nicht, wenn dich morgens der verdammt« Wecker aus schönsten Träumen reißt, brauchst dich nicht mit furchtbar gleich- gültiger und überflüssiger Bureauarbeit abzugeben. Du gehst spazieren vormittags von 10—12 Uhr. hältst nachmittags oo» 2 vis 4 Uhr deinen wohlverdiente» Mittags schlaf und gehst nochmals von 5—7 Uhr aus. um auch nach dem Abendbrot noch die-fnsthe Abend» llust zu genießen. Aber wenn dann urplötzlich«in entsetzliches Ahnen durch deine heitere Stimmung geht, und die Rechte halb unbewußt in die link« Brusttasche greift, die Brieftasche hervorzieht und deinem Auge sich die Menge deiner Barschaft kundtut, dann tritt die Sorgenfalte aus die Stirn, an den Mundwinkeln zeigt sich ei» böser Zug. und am Hinterkopf verspürst du plötzlich einen stechenden Schmerz. Was nun? Kennt ihr das: Stellenjägerei?„Gar lustig ist die Jägerei oll- hier auf grüner Heid'." Stundenlanges Worten auf Korridoren, zages HerzLopfen, be- scheidenes Türan klopfen, schleuniges Geraderücken des Schlipses, heimliche« Zurechtstreichen des Scheitels, 3Smafiges Umfahren mit den Fingern an der Peripherie der Hutkrempe, furchtbares Bedürf- nis zum Austreten.,. endlich:„Herein".-. unzählige Berbeu- gungen, furchtsames Stottern, zitterndes Darreichen von Zeug- nissen, Empfehlungen, die nicht abgenommen werden— Angstschweiß tritt aus—, ei« Achselzucken, eine Handbewegung. Und wieder ist man draußen. All« Zettungenummern werde« eingesehen.„Rachtschrchbeamter, Feld- und Forsthüter gesucht, nationale Gesinnung, christliche An- schauung, muß nachts wachen, tags auf dem Hofe tätig fein. Schriftliche Angebote an Rittergutsbesitzer Graf von T., Kgl. Ge- nercckieutnant auf Hohenzollerntreue in Hinterpommern." Wir gehen zur Tagesordnung über. „Hoher Verdienst für Abgebaute als Reisende einer Versiche- rungsgesellschast. Offerten unter Sch. Windel 999. In Klemstädten bcstemgeführter Harr ztnn Absatz eines vielgefragten Artikels aus der LebensmittÄbvanche usw."
Und dann war ich Reiseuder für eine Likörfirma. Kleine nette Probierfkäschchen in den ausgesuchtesten Formen mit den köstlichsten Feuerwässern hatte Ich im Koffer.„Aber, bitte, tosten Sie nur!" „Sehr vortrefflich ausgezeichnet." Doch bedauere, leider, die gegen- wältige Notlage, Geldmangel, hohe Vankspesen. Nach vier Wochen verschwand ich Mein« Firma hat nichts mehr von mir gesehen. In der Wahl zeit war wenigstens etwas zu machen. Da konnte man als Billettabreißer bei Wahlversammlungen, wenn man Glück hatte, auch als Kassierer tätig sein. Jetzt warte ich auf den nächsten Zirkus. Dan» will ich Plakate verteilen und mir st» einige Frei- billetts für die Abendvorstellung erwerben. Denn schwer« Arbeiten kann ich nicht machen, kann nicht Steineklopsen, kann nicht zur Erntezeit in Sonnenglut Roggen binden. Dazu bin ich zu schwäch- lich. Neulich wollte ich zum Tellerabspülen und Geschirrwaschen in ein Hotel gehen, konnte aber keine freie Stell« finden. Jetzt verkaufe ich Donnerstags früh die Illustrierte, gehe durch sämtliche Bureaus meiner alten Dienststelle, mache ein verteufelt verzweifeltes Gesicht und erhalte pro Stück 29 Pf. Sonnabends zieh« ich durch die Dörfer von Haus zu Haus. Mit Helligen-Mien« biete ich fromme Blätter an:„Der hinkende Bote",„Himmelan", „Dea gloria in excelsia*. Mittags sitze ich dann irgendwo in einer niedrigen Bauernstube in stickiger Luft— es riecht nach Flöhen, Stroh und Lehm— und schlinge irgendein schmählich erbetteltes Bauern geri cht. Wenn ich dann wieder zu Hause bm, habe ich Langeweile, Dann setze ich mich in die Anlagen und lese in einer alten Zeitung. „Biete reiche Damen suchen die Bekanntschaft von Herren(auch ohne Vermögen) zwecks späterer Heirat." Ob sie schon all« verschen find? Oder auch die Reichstagsbericht« aus jüngster Zeit lese ich gern. Das ist ja etwas zu lachen. Da muß ich auch einmal hin- gehen. Denn was soll ich anfangen in meiner vielen freien Zeit? Ob ich den Roman eines Abgebauten schreib«? Doch die Tinte ist schon so blaß, dazu wird sie nicht mehr reichen. Aber an dem nächsten großen Preisrätsel will ich mich be- teiligen und den 1. Preis gewinnen. Mein« Mutter sagte mir, ich sei an einem Sonntag geboren, und Sonntagskinder sollen Glück haben. Manchmal lese ich auch in den Gedichten von Joachim Ringel- natz, die ich neulich in den Anlagen gefunden habe. Da traf ich die verwandte Seele.„Sorge dividiert durch 2 hoch x",„Worte eines durchfalltranken Stellungslosen in einen Waschkübel ge- sprachen",„Von einem, dem alles daneben ging". Wenn mir doch jemand noch einen Band von ihm schenken oder wenigstens nur leihen wollte. Doch daran denkt keiner. So bin ich ganz allein.
Da» vrematische Tbeaker eröffnet am Donnerstag, den 28. August sin, ffiriedricki-Wilhelmstädtischen Schauspielhaus) mit„GtlleS und Jeanne" von Georg Kaiser . Das russische Lallelt wird i» der Großen BolKoP« im Ansang vktoier gastiere».
dm Zeiß-Planetarium. Von Rudolf Zwetz. Im Fahrstuhl 39 Meter hinauf zur Plattform des Fabrikneu- baues. Ein Kranz heller Berge schließt in anmutigen Linien das grün« Tal ein, darin Jena liegt—«inst bloß ein stilles Nest studentenfroher Biergemütiichkeit, jetzt eine Stadt der Kongresse,«in« Stätte rastloser Arbeit. Was Ernst Abbe und Karl Zeiß für gemein- wirtschaftliche Ornung des Arbeitsganges bedeuten, wissen die Leser dieser Zeitung. Und nun verschluckt uns die 8 Meter hohe Kuppel: Im Zentrum der grauen, halbfinsteren Halbkugel steht das größte Wunder optischer Feinmechanik, das die Welt kennt: das Projektions-Plone- tarium, eine 2% Meter hohe Apperatur mit vielen blinkenden Röhren und Objektiven und einem gesondert drehbaren Glas- Zylinder, der«in zweites System von Projektionsapparaten enthält. — 299 Menschen warten in vierfachem Kreise auf ihren Stühlen stumm des Wunders. Ein junger Helfer des Erfinders(des Dr. Bauersfeld) berichtet über das Werden des Wunders: Lang geplant, erfuhr es in fünf- jähriger Arbeit jetzt seine Vollendung. München erwarb es, ein zweites Stück ist in Arbeit.„Für 159 999 Mark kann auch Berlin «ins kaufen," schlug mir der Redner nachher im Privctgespräch vor. Was soll der Apparat? Er veranschaulicht den Tages- und Jahreslauf der Gestirn«, von Sonn«, Mond und Planeten— mit Aus- nahm« der beiden letzten— und von 4599 Fixsternen durch Lichtbild- Projekten an eine Kuppel. Durch stärkere oder geringer« Neigung kann jede beliebig« geographische Breite eingestellt werden, bloß das Südpolargebiet des Himmelsfeldes hat man fortgelassen. Ein dunkler Streifen rings an der Kuppelwand wird jetzt erkennbar als die genaue Wiedergabe des Jenaer Horizonts. An ihm geht die Sonne auf, dann der abnehmende Mond und die 5 Planeten von Merkur bis Saturn. Im Lichtspiel vollzieben sie ihre Bewegung, Nacht und Tag lösen sich ab, Winter- und Sommerstellung wechseln. Und nun klappt die 8-Meter-Kuppel plötzlich weg. Tausende von Lichtern glänzen aus der Unendlichkeit herein und ziehen in klarer Pracht ihren Weg. Dazwischen wandeln die Planeten ihre eigen« Bahn, und nun kommt die Sonne, umkreist von Merkur und Venus , gefolgt vom roten Mars . Als das Licht erlischt und die Arbeits- lampe den nüchternen Kuppelhorizont erhellt, wacht man auf wie aus einem Märchen. Man könnte davon sprechen, daß dies Schauen in den grenzen- losen Raum Gottesdienst sei; man möchte dies« Leistung Wissenschaft- licher Arbeit mit Ausdrücken höchsten Lobes erheben. Besser ist es, ganz nüchtern zu sagen, daß hier ein Bildimgsmittel geschaffen ist, das der Menschheit gehört. Was Tierkreis und Ekliptik, rückläufige Planetenbewegung und die fukutare Verschiebung der Erdachse be- deuten, wird hier deutlich; und durch 59 999 Jahre, 25 999 vor- und 85 999 rückwärts, läßt sich jede Konstellation herstellen und an einem Zählwerk mechanisch ablesen usw. Berlin mag versuchen, kauf- oder leihweis« das Werk zu be- kommen. Dann werden auch die Leser dieser Zeilen erfahren, wie mit dem Blick in die Unendlichkeit die Ehrfurcht wächst vor den Ge- Heimnissen des Raumes und doch zugleich der Drang, über die Menschheitsgrenzen weg hinauszurcichen zu anderen Welten.