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nr. 392« 41. Jahrgang_ do»»erswg, 21> B«eusi 1»2«

--> Die Rebellion. Roman von Joseph Roth . Das Leben mußte anders sein, als er es gesehen. Eine Frau, die ihn liebte, verriet ihn in der Not. fjütte er sie ge­kannt, niemals wäre es ihm zugestoßen. Was aber hatte er von ihr gekannt? Nur die Hüften, den Busen, ihr Fleisch, ihr breites Gesicht und den schwülen Hauch, den sie aus- strömte. Woran hatte er geglaubt? An Gott, an die Ge- rechkigkeit, an die Regierung. Im Kriege verlor er sein Bein. Er bekam eine Auszeichnung. Nicht einmal eine Prothese verschafften sie ihm. Jahrelang trug er das Kreuz mit Stolz. Seine Lizenz, die Kurbel eines Leierkastens in den Höfen zu drehen, schien ihm höchste Belohnung. Aber die Welt erwies sich eines Tages nicht so einfach, wie er sie in seiner frommen Einfalt gesehen hatte. Die Regierung war nicht gerecht. Sie verfolgte nicht nur die Raubmörder, die Taschendiebe, die Heiden. Offenbar geschah es, daß sie sogar einen Raubmörder auszeichnete, da sie doch Andreas, den Frommen, ins Gefängnis schloß, obwohl er sie verehrte. So ähnlich handelte Gott : er irrte sich. War Gott noch Gott, wenn er sich irrte?....,... Jeden Morgen gingen die Insassen dieses Hauses im Hof spazieren. Der"Hofwar dicht gepflastert, von kleinen Ziegel- steinchen war der Boden bedeckt und man sah kein Stückchen Staub, kein Stückchen Erde . Als ein großes Ereignis galt eine Henne, die oft im Hof erschien. Hundertvierundfünfzig Sträflinge wallten, einer hinter dem andern, mit gesenkten Köpfen immer in der Richtung von rechts nach links, immer an den vier Wänden entlang. In der Mitte gingen die weißbraun gesprenkelte Henne und der Aufseher, der ein Rohrstäbchen in der Hand schwang und einen Revolver an der Hüfte trug. Am linken A-rmel trugen die Gefangenen ihre schwarze Nummer. Der Zug begann mit eins und endete mit einhundertoicrundfechzig. Viermal gingen sie das Quadral des Hofes ab. Dann war die Stunde um. Sie sprachen n, cht miteinander. Sie sahen sehnsüchtig nach der Henne. Einer lächelte manchmal. Der dreiundsiebzigste war Andreas Pum. Einmal erblickte er-m Hof ein Stückchen Zeitungspapier. Der Aufseher sah gerade in die entgegengesetzte Richtung. Andreas hob es auf und barg es in der Hand Er war sehr neugierig.. Es war, als würde in ssiner �elle ein Mensch erscheinen, um mit ihm zu sprechen. Vielleicht, ja, wahr- scheinlich enthielt dieses Stückchen Papier eine lustige oder eine merkwürdige Geschichke. Er zerknüllte es in der Hand und hielt es zwischen zwei Fingern. So konnte er oorschrists- mäßig die Hände an der Hosennaht halten. Der Weg erschien

ihm lang, die Stunde unendlich, der Hof grausam gewachsen. Endlich ertönte der Pfiff des Aufsehers. Andreas kam in die Zelle und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit ge- wöhnten. Dann entfaltete er das Papier, rückte die Bank zum Fenster und setzte sich. Er las: Personalien." Als Verlobte empfehlen sich Fräulein Elsbeth Waldeck, die Tochter von Prof. Leopold Waldeck und Dr. med. Edwin Aronowsky. Fräulein Hildegard Goldschmidt und Dr. jur. Siegfried Türkei, Fräulein Erna Walter und Herr Willi Reizenbaum. Der Bankdirektor Willibald Rowolsky und Frau Martha Maria, geb. Zadik. zeigen hocherfreut die Ge- burt eines Sohnes an. Frau Hedwig Kalischer, geb. Golden- ring, betrauert das Hinscheiden ihres Gatten Leopold Kalischer, Mitinhaber der Firma König, Schrumm u. Kalischer , Vorsitzender des Auffichtsrates der Gemeinschast der Chemikalienhändler A.-G., der nach schwerem Leiden im 62. Lebensjahre gestorben ist. Herr Johann Kotz zeigt das Ableben seiner Gattin Frau Helene Kotz an. Bergwerks- direktor Bergassessor Harald Kreuth gibt Nachricht vom Tod seines Vaters Sigismund Johann Kreuth. Im 77. Lebens- jähre verschied nach langem Leiden der Geheime Sanitätsrat Dr. med. Max Treitel. Andreas wendete das Papier und las auf der Rückseite: Wenn das zutrifft, so versteht man jetzt, warum in den letzten Tagen die Poincarä-Presse den Sachverständigen- bericht so geflissentlich als pro-französisch gepriesen hat um ihren Herrn zu decken. Daily Mail, aus Paris direkt unterrichtet, zählt in bestimmter Form--" Hier brach das Papier ab. Andreas Pum versuchte, sich die Menschen vorzustellen, von deren Leben er die wichtigsten Abschnitte erfahren hatte. Fräulein Elsbeth Waldeck war blond'und vornehm, die Tochter eines Professors, die Braut eines Arztes. Der Doktor Siegfried Türkei war vielleicht ein Rechtsanwalt und es wäre nicht von Schaden, seine Bekanntschaft zu machen. Vielleicht geriet man überhaupt nicht ins Gefängnis, wenn nian mit dem Rechtsanwalt Türkei bekannt war. Ja, es war so: alle, deren Namen auf diesem Stückchen Zeitungspapier standen, mußten miteinander befreundet sein. Der Doktor Aronowsky behandelte die Frau Martha Maria, geborene Zadik, und der Bergasiessor Harald Kreuth lieh sich Geld vom Bank- direktor Willibald Rowolsky. Diesen vertrat der Rechtsanwalt Türkei bei Gericht und der Rechtsanwalt Türkei macht dem Herrn Johann Kotz einen Kondolenzbesuch. Die Namen sprangen selbständig aus den Zeilen und verbanden sich wechselweise. Da hüpfte der Sanitätsrat zum Assessor und dieser zum Rechtsanwalt. Die Namen waren lebendig. Sie

Oie�ppnosephantasienüesZVanzigjährigen Tchtvere Beschuldignngcn gegen den Rnhlsdorfer Pfarrer. Die mysteriöse Angelegenheit, in deren Mittelpunkt, wie bereits mitgeteilt, der Pfarrer Barth aus Ruhlsdorf bei Bernau stand, beschäftigte gestern die erste Ferienstrafkammer des Landgerichts l 1 1 unter Borsitz von Landgerichtsdirektor Dransfeld . Der A n g c- klagte ist der 2vjährige Schneider Ernst Kain aus Ruhlsdorf bei Bernau , der im Frühjahr wegen Unterschlagung, fortgesetzter Anstiftung zum Diebstahl, fortgesetzter Hehlerei und Berlcumdung zu cirrer Gesamtstrafe von 2 Jahren Gefängnis und 1000 M. Geld­strafe als Buße an den Nebenkläger Pfarrer Barth aus Ruhlsdorf vom Schöffengericht Pankow verurteilt worden war. Kain war Anfang des Jahres 1922 mit dem damals Itzjährigen Walter Heine bekannt geworden und hotte ihn veranlaßt, Geld an- geblich zu einem spiritistischen Der ein zu spenden. Spater erpreßte er von dem unerfahrenen jungen Mann fortgesetzt größere Summen. angeblich für den Berein. Dann mutzte Heine seinen Eltern Lebens­mittel«rtwenden, die der Angeklagte natürlich zu Geld machte, ebenso mutzte er 4S0 M. in Silber stehlen. Schließlich wurde Kain verhaftet und nach Ruhlsdorf in die Polizei- gefängniszelle eingeliefert. Tags darauf fand man ihn im festen Schlaf auf seiner Pritsche liegen, aus dem er erst nach drei Tagen erwachte. In der gestrigen Berufungsverhandlpng blieb der Angeklagte bei seinen bisherigen Angaben und gab an, daß er von dem Pfarrer Barth zu all den Vergehen und Verbrechen angestiftet worden fei. Er schilderte, daß er dem Pfarrer Barth oft in der Nacht zwischen 12 und 2 Uhr die Pakete, die ihm Walter Heine gegeben, überbracht habe. Um diese Zeit hätte ihn der Pfarrer in Schlafrock und Pantoffeln an der Tür erwartet und ihn in das Studierzimmer geführt. Stets hätten auf einem Tische zwei Likörgläfer mit einer ihm unbekannten Flüssigkeit gestanden, von denen er eines habe austrinken müssen. Dann habe der Pfarrer einen blauen, zusammenklappbaren Deckel mit mystischen Schriftzeichen vor sich hingelegt, sei hinter seinen Stuhl getreten und habe ihm dann, unverständliche Worte mur- melnd, über Stirn und Arme gestrichen. Hierauf sei er in einen tiefen Schlaf gefallen. Nun gab der Angeklagte eine Erklänmg hierzu ab. Als er sich in der Polizeigefängiiiszelle befand, sei um 8 Uhr abends der Pfarrer Barth in feine Zelle ge- kommen, ein Ding der Unmöglichkeit, da die Zelle verschlossen war. Er aber, Kain, habe den Pfarrer ganz deutlich gesehen und gehört, wie jener folgende Worte sprach:Jetzt ist die Sache heraus, ich bin verraten. Jetzt mußt Du 70 Stunden schlafen, wenn Du daraus wieder erwachst, dann habe ich keine Kraft mehr, da ich zu viel Haare verloren habe." Der Pfarrer hätte gehofft, daß er, Kain, bei diesem langen Schlaf in das Jenseits hinüber schlummern werd". Der Angeklagte will auch mehrere Male ein inzwischen verstorbenes junges Machen, namens Pitfch, bei seinen nächtlichen Besuchen im Studierzimmer gesehen haben. Das Mädchen habe laut Wim- mernd gefesselt und unbekleidet auf dem Fußboden gelegen. Es kommt dann zur Sprache, daß der Angeklagte schon mehrmals der­artig« Anfälle von totenähnlichen: Schlaf gehabt habe. Den Angaben des Angeklagten gegenüber erklärte dann der als Nebenkläger zu- gelassene Pfarrer Barth, ein S8jähriger. daß er nach der Ein- fegnung des Kain niemals Beziehungen zu dem A« g c- klagten oder zu dessen Familie unterhalten Hab«, die über das pfarrcmtliche Wirken hinausgingen. Was die einzelnen Bcfchuidi- gungen anbelange, so erklärte der 34 Jahre am Orte tätige Pfarrer, so habe er überhaupt keine Fähigkeit und keine Kenntnis zu in Hypnotisieren. Er habe weder innerhalb noch außerhalb seiner Gemeinde jemals hypnotische Experiment« vorgenonünen und jemanden hypnotisiert. Er sei im Gegenteil ein entschiedener Gegner der Hypnose. Was die Vorgänge mit dem Fräulein Pitfch anbelange, so sei er an dem fraglichen Tage, an dem Kain sie gesehen haben wolle, gar nicht zu Hause gewesen. Im Laufe der weiteren Zeugenvernehmung trat ledhaft in Erscheinung, daß in dem Dorfe Leute mehrmals gesagt hätten, sie seien überzeugt, daß dem Pfarrer derartiges znzutrauer» sei. Nachdem sodann Pcrst- Barth, der zunächst unbeeidigt geblieb'n war, seine Aussage d u r ch Eid bekräftigt hatte, kamen die medizinischen S a ch- o e r st ä n d i g e n zu Wort. Fast einstimmig kamen die Sachver-

Grönung auf öew Im Polizeipräsidium berichtete vor einigen Tagen der Regienngsdirektor Mösle über die Verkehrsregelung in Groß- ftädten Nordamerikas und über die Anwendung amerikani- scher Maßnahmen auf Berlin. (Vgl.Vorwärts" Nr. 384 und 386.) Wir geben jetzt eine bildliche Darstellung der zunächst für den Potsdamer Platz geplanten Verkehrsregelung und des auf ihm zu errichtenden Verkehrsturms Der Grundgedanke ist, Zwangs. wege für die Fuhrwerke und für die Fußgänger zu schaffen, was durch fünf in der Richtung Budapester Straße König- Lrätzer Straß« angeordnete Inseln erreicht werden soll. Von dem Berkehrsturm aus, der auf der Mitt«linfel steht, regelt ein Polizei- beamter den Wagenverkehr, indem er abwechselnd die Richtung Buda- pester Straße Könizgrätzer Straße oder die Richtung Leipziger Straße Potsdamer Straß« durch dos Signalgrün" freigibt oder durch das Signal.rot" sperrt.

ver Verkehrsturm. Der Turm hat nach den fünf auf den Platz einmündenden Straßen hin fünf Seiten, von denen das Mid drei zeigt. Man steht hinter dem Fenster den regelnden Polizeibeamten, über dem Fenster die durch Schaltung zu beleuchtenden Signalegrün",weiß",.rot", unten ein« Uhr.

Potsdamer Platz .

ver potsüamer Platz. Der Verkehr auf dem Potsdamer Platz ist dargestellt zu einem Zeitpunkt, wo durch das Signalgrün für Leipziger Straße und Pots- damer Straße die Fahrt freigegeben und durchrot" für Budapester Straße und Königgräßer Straße die Fahrt gesperrt ist. kFür Bellevue- straße ist künftig die Einfahrt zum Potsdamer Platz überhaupt ver- boten und nur noch die Ausfahrt von ihm gestattet.) In der Buda- pester und der Königgrötzer Straße müssen in diesem Augenblick die Fuhrwerke vor den weihen Strichen halten, zwischen denen die Fußgänger über die Dämme schreiten. Gleich­zeitig darf aus der Leipziger und der Potsdam «? Straße der Wagen- verkehr über die diese Straßen durchquerenden weißen Striche hin- wegfiuten, und einsichtige Fußgänger warten auf den Bürgersteigen bis zur Umfchattung.

nahmen menschliche Gestalten an. Andreas Pum blickte auf das bedruckte Papier, wie in ein Zimmer, in dem sich alle diese Menschen befanden und herumgingen und miteinander sprachen. Dieses Bild bewegte ihn. Er stellte sich die Gesellschaft sehr glänzend vor. Es schien ihm, daß er hinter das Ge- heimnis der Welt gekommen war. Er glaubte zu wissen, daß er in der Zelle saß, weil er keinen von diesen Verlobten, Ge- borenen und Verstorbenen kannte. Weshalb stand es nicht gedruckt, daß Herr Andreas Pum, Lizenzinhaber, nach unge- rechter Behandlung und ohne gehört zu werden, zu sechs Wochen verurteilt war? . Das kränkte Andreas Pum Andreas empfand die Be- schämung zurückgesetzter Menschen, die sich auf eine Karriere vorbereitet hatten. Daß man gerade ihn eingesperrt hatte, daß man gerade ihn zum Heidentum zwang, war eine Unge- rechtigkeit, grausam, unentschuldbar und verbrecherisch. Wie lange war es denn überhaupt her, daß er, fast mit der Würde eines Beamten, jedenfalls aber mit dem goktesfürchtigen Sinn eines Priesters, die Lizenz in der Tasche, an einer belebte?! Straßenecke die Nationalhymne spielte und die Leute zur Vaterlandsliebe fast ebenso sehr anspornte wie zur Wohltätig- keit? Daß ein Schutzmann auf ihn zuschritt und sich, respeit- voll grüßend, wieder entfernte, weil er die Berechtigung Andreas Pums, die Nationalhymne zu spielen, anerkennen mußte? Was war denn eigentlich geschehen? Wie konnte sich die Welt so schnell geändert haben? Ach! sie hatte sich gar nicht geändert! Immer war sie so gewesen! Nur, wenn wir ganz besonderes Glück haben, werden wir nicht eingesperrt. Aber unser Schicksal ist es, Anstoß zu erregen und im Gestrüpp der willkürlich wuchern- den Gesetze zu stolpern. Wie Spinnen sitzen die Behörden, lauernd in den feinmaschigen Geweben der Verordnungen. und es ist nur eine Frage der Zeit, wann wir ihnen anheim- fallen. Und es ist nicht genug daran, daß wir einmal ein Bein verloren haben. Wir müssen unser Leben verlieren. Die Regierung, wie wir sie jetzt erkannt haben, ist nicht mehr etwas Fernes, hoch über uns Befindliches. Sie hat alle irdischen Schwächen und keinen'Kontakt mit Gott . Wir stoben vor allem gesehen, daß sie durchaus nicht eine einheitliche Macht-st. Sie gliedert sich in Polizei und Gericht und, wer weiß noch wie viele Ministerien. Der Kriegsminister mag jemandem eine Auszeichnung verleihen und die Polizei snerrt ihn dennoch ein. Das Gericht mag ihn vorladen und der Herr Kommissär tut es auch. So wurde mancher gottlos, ein Heide und ein Anarchist.(Fortsetzung folgt.)