Nr. 86.
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Vorwärts
12. Jahrg.
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Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.
„ Das geistige Miveau
des Reichstags".
Donnerstag, den 11. April 1895.
Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3.
Das geistige Niveau des Reichstags sei gesunken, Gründer( anfangs 1873 allerdings im preußischen Abge wird uns versichert.
ordnetenhause, nicht im Reichstag gehalten) dieser Tage erst wieder gelesen, und unser Urtheil fann nur lauten: mittelmäßig, mittelmäßig. Redselige Gemeinplätze, schludrige Form, kein Geistesblik, keine originale Redewendung- mittelmäßig, waschlappig. Und Laster war nach der nationalen" Tradition der größte Redner des Reichstag in der guten Zeit".
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Es wäre sonach früher ein höheres gewesen. Ist das richtig? Früher in der guten" alten Wie gewisse Melodien plötzlich auftauchen und förm- Zeit, da Bismarck und die Nationalliberalen noch die lich zur Epidemie werden in Gestalt von Gassenhauern, so Reichstagsmajorität beherrschten, waren Bismarck und die auch gewisse Schlagworte. Und bei Melodien wie Schlag- Nationalliberalen es auch, die das geistige Niveau des worten ist in der Regel Gedanken- und Sinnlosigkeit Be Reichstags" bestimmten. dingung des Erfolgs. Wir sehen dies recht deutlich an Nundas geistige Niveau" Bismard's ist bekannt. Wer nicht in der Lage ist, die Reden des größten einem Schlagwort, das seit 6 oder 7 Monaten, ungefähr Er war ein parlamentarischer Redner nach Art Ludwig's Redners" der guten Zeit des Reichstags zu lesen, dem seit der junkerlichen Jagdintrigue gegen Caprivi in des Vierzehnten, der mit der Reitpeitsche Unterwerfung und rathen wir, die Bekenntnisse einer Mannes Deutschland umläuft, und das ungefähr ebenso geistreich ist hündische Anbetung heischte. Das geistige Niveau des seele" sich zu verschaffen, die Herrn Lasker zum Verfasser wie das: Mutter, der Mann mit dem Koakes ist da", von Mannes zeigte sich in dem berühmten Sat, daß das Ausland haben. Leicht ist es allerdings nicht ein Exemplar aufzuwelchem halb Deutschland ein ganzes Jahr lang die Dreh- den Zoll" auf Korn trage, eine Behauptung, die von so treiben; denn von Freunden des Herrn Laster ist die frankheit hatte. Wir meinen das Wort: das geistige grenzenloser Unwissenheit zeugt, daß sie in politisch weiter Schrift nach wenigen Tagen aufgekauft worden, weil- Niveau des Reichstags ist gesunken". Oder auch entwickelten Ländern jeden Politiker auf Lebenszeit un- das geistige Niveau" ein gar so lächerlich niederes war. mit einer Abänderung:" der Ton des Reichstags ist ge möglich gemacht hätte; und, wohlgemerkt, bei Bismarck nicht Heute würde ein Lasker im Reichstag nur eine unters funken." ein lapsus linguae nicht eine Redeblüthe des Augen- geordnete Rolle spielen. Die Zeit der hohlen mittelmäßigen Wir sagten schon, das Auftauchen dieses ungereimten blicks, die der nächste bereut, sondern der Grund- Schwätzerei ist vorüber; und Bismarck 'sche Rohheiten würde Gaffenhauers fällt in die Zeit der Junkerjagd, die im Herbst stein von Bismard's wirthschaftspoli- der Reichstag heute nicht dulden. vorigen Jahres dem zweiten der deutschen Reichstanzler tis chem Programm. Und das war nicht die einzige Das nennt dieses Junkervolk mit seinem nationalverderblich wurde. Aeußerung dieser Art. Wir stehen nicht an, zu erklären, liberalen Gesinde ein Sinken des geistigen Niveaus, eine
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Diese Gleichzeitigkeit ist kein Zufall, sondern verräth daß es weder in der französischen Kammer, noch in Verschlechterung des Tons". den inneren Zusammenhang. Die Eulenburg und Kon- dem englischen Parlament, noch in dem amerikanischen Ja, das geistige Niveau" der guten alten Zeit sorten find es, die mit Hilfe ihres Gefindes Kongreß jemals einen Redner von irgend welcher nationaler Begeisterung, wo der Reichstag eine Hurrahdas Wort in Umlauf gesetzt, und bei den National- politischen Geltung gegeben hat, der in national majorität hatte, die im Handumdrehen die Rechte und liberalen, von Haus aus den eifrigsten Vertretern des ökonomischem Wiffen auf einem gleich niedrigen Interessen des Volkes opferte, dieses Niveau ist heute Parlamentarismus, die eifrigsten Gehilfen zur Kolportirung geistigen Niveau stand, wie der deutsche Ex- Reichstanzler nicht mehr vorhanden; und der Ton eines Bismarck, der, um dieses giftigen Junkerworts gegen den Parlamentarismus Fürst Bismarck. Und wenn man vom Ton" redet, hat mit unserem Braun" zu reden gewiß einem unverdächtigen gefunden haben. jemals jemand in irgend einem gefeßgebenden Körper der Zeugen, die Abgeordneten wie austnechte" an Sage mir, woher Du kommst, und ich sage Dir, wer Welt eine rohere Sprache geführt, rohere Manieren schnauzte, dieser Tou gehört heute ebenfalls der VergangenDu bist das gilt nicht blos von Menschen, das gilt zur Schau getragen, als Fürst Bismarck , der Kullmann an heit an. auch von politischen Stichworten. Es ist die alte Wuth die Rockschöße des Zentrums heftete, durch brutales, bis des Junkerthums gegen das System der Volksvertretung, zur Androhung von Thätlichkeiten gehen- das in jenem Schlagwort zum Ausdruck kommt. Daß de 3 Benehmen seine Gegner einzuschüchtern und zu die Junker das revolutionäre Prinzip der Volkssouveränität vergewaltigen suchte?
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Der Reichstag ist nicht mehr die gefügige Jasages Maschine der guten" Beit; nicht mehr blos, wie einer unserer Abgeordneten es bezeichnete, das Feigenblatt bes Absolutismus"- er fühlt die Kraft des allgemeinen haffen, auf dem das System der Volksvertretung beruht, Solche Rowdy- Szenen sind allerdings, seit Stimmrechts in seinen Adern, und fängt an, den Ges das ist nur natürlich, denn dieses Prinzip steht in diame- Bismarck unschädlich gemacht ist, im Reichstag nicht mehr walthabern die Stirn zu bieten. tralem Gegensatz zu dem Prinzip des Junkerthums, vorgekommen. Nach dieser Seite hin hat allerdings eine Daher der Zorn! Darum das Geschimpfe; dessen Vernichtung es in seinen Konsequenzen bedingt. Und Veränderung des Tones" sich vollzogen, allein, außer Der Reichetag gefällt den Junkern und ihrem Gesinde ganz abgesehen von dem prinzipiellen Standpunkt haben etwa den Herrn Junfern wird niemand hierin eine Vernicht mehr sie spielen im Reichstag eine klägliche Rolle, unsere deutschen Junker noch einen besonderen Grund, den schlechterung erblicken. und die Trauben, die man nicht pflücken kann, sind sprich Barlamentarismus zu hassen, enthüllt er doch der ganzen Und nun die in der guten Zeit" herrschende Partei wörtlich sauer. Welt ihre Ideenarmuth, ihr unglaublich tiefes geistiges der Nationalliberalen! Wohlan, wer war ihr Glanzredner Weit entfernt niedriger zu sein, ist das geistige Niveau". in der Glanzzeit des Reichstags"? Eduard Lasker . Niveau" des Reichstags weit höher als in der guten Nun de mortuis nil nisi bene. Von den Todten nichts Beit." Die Tiefe Laster'schen Niveaus erreichen heute nur Uebeles! Und Eduard Lasker hat in seinen legten Lebens- wenige der bekannteren Redner. Und die Rowdy- Manieren jahren für so manche seiner Sünden Buße gethan in Sack der guten" alten Bismarck'schen Zeit haben sich nur noch und Asche. Er war unzweifelhaft ein ehrlicher Mann, und auf den Bänken der Konservativen und Nationalliberalea wir wollen mit seinem politischen Wirken jetzt nicht ins erhalten, wie der schmähliche Pfui!-Radau des 6. Dezember Gericht gehen. Aber sein geistiges Niveau"? Wir kennen vorigen Jahres es offenbart hat, und wie durch die uns seine Reden, wir haben seine berühmteste, die gegen die artikulirten Laute, die als Ausdruck der Unzufriedenheit
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Sucht man nach tiefem geistigen Niveau" hier ist es, hier bei denen, die dem Reichstag das boshafte Schlagwort angehängt haben, dabei der alten Regel unserer Feinde gemäß handelud, in den Spiegel zu sehen, wenn man dem Gegner etwas recht Schlechtes nachsagen will.
Und nun, nachdem wir den Ursprung und 3wed klar gelegt, prüfen wir das Wort auf seine Wahrheit.
Feuilleton.
( Machbruck verboten.] 15
Zu Tode gehetzt!
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Seinen guten Namen? Bekam er den wirklich zurück? Auf der Landstraße kam er an vielen Stromern vorbei. Würde nicht doch etwas von der Gefängnißluft in den Sie hatten zerrissene Schuhsohlen ihre Lumpen starrten Falten seiner Kleider haften bleiben und ihn mißkreditiren von Schmuß ihr Blick war wüst, übernächtigt, kaum noch für immer? Die Leute unterscheiden ja so schwer, ob menschlich. Untersuchungshaft, ob Strafe. Die konnten auch gehen, wohin sie wollten. Die waren auch frei. Aber nach Ablauf einiger Zeit trabten ihre lumpen, umwickelten Füße doch wieder in den Hof des Gefängnisses hinein.
Frei!"
Eine Erzählung nach dem Leben von Franz Held. Er murmelte es, wie er nun durch die Straßen der Der Staat erweist seinen Bürgern eine so große fleinen Stadt ging, immer wieder vor sich hin, aber mit Wohlthat durch die Einrichtung der Justiz, daß sie die einem bittern, höhnischen Ausdruck. Das wohltönende Kleine Unzuträglichkeit, die in der Unvollkommenheit des Wort erschien ihm wie eine freischende Lügenfrage. menschlichen Geistes nothwendig begründet liegt, wohl mit Die armen, zerlumpten Fabrikweiber, die ihm da entin den Rauf nehmen können." gegen kamen, die waren auch frei sie konnten thun und Die Wohlthat der Justiz wird doch wohl erst dadurch lassen was sie nur wollten vorausgesetzt, daß der Hunger nöthig, daß der Staat verabsäumt, anständige und fried sie nicht zu Handlungen zwang, die ihrem Willen, ihrem liche Menschen zu erziehen.( Schwarz wußte selbst nicht, eigentlichen Wesenstern, schnurstracks entgegen liefen. woher ihm diese plögliche Klarheit im Kopf tam.) Und Die Rekruten, die dort betrunken johlend mit den was Sie menschliche Unvollkommenheit" nennen, das ist bunten Kokarden und Bändern am Hut vorbeitorkelten entweder Fahrlässigkeit oder Trödelei und Verschleppung wie frei waren die! Bis der Unteroffizier sie in den der Justizbeamten!" Drill nahm.
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" Herr!!" braufte der Beamte auf." Ich kann solche revolutionären Ausfälle hier in meinem Bureau nicht dulden. Jezt sehe ich erst, weß Geistes Kind Sie sind! Wenn Sie sich nicht eine neue Anklage wegen Beamtenbeleidigung und Herabsehung staatlicher Einrichtungen zuziehen wollen, dann halten Sie den Rand und verlassen Sie augenblicklich dies Gebäude! Ihr Attest haben Sie ja."
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Schwarz stand also draußen.
So? Jetzt war er ein Revolutionär"?! Auch gut!
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Er mußte der gescheiterten Affaire des Verkaufs an den Militärfiskus gedenken.
War diese ganze Freiheit" nur eine unbequem ge pflasterte Straße, um die armen Hungerleider schneller in den großen Zwangshof zu bugfiren?!
Wegmüde, von der Hiße ermattet, hungrig und durftig zum Umfallen, verwandte er, weil es doch noch einige Stunden war bis zum Bestimmungsort, feine letzten Pfennige auf ein Glas Bier und ein Stück Brot. Im Wirthshaus traf er jenen Setzer, dem er vor ein paar Jahren im Wirthshaus zu Hohenthal wegen seiner sozialdemokratischen Aeußerungen so starke Grobheiten ge= sagt hatte.
" Ah, wo kommen Sie denn her?"
Er bedauerte jetzt, den Mann damals beleidigt zu haben. Und Sie? zu Fuß?" fragte der Arbeiter zurück, der ihn auch wieder erkannte. Reiten Sie denn nicht mehr auf
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Wenn man ihm damals, als er ohne Arbeitskräfte daftand, ein halbes Dugend von diesen gesunden, strammen Bauernjungen, die ihre Zeit jetzt mit Bein- und Armverrenkungen tödten sollten, zur Verfügung gestellt hätte dem hohen Roß?" er würde den Militärfiskus gar nicht nöthig gehabt haben. Er blieb stehen. Er erschrak vor sich selbst. Wie tam er zu allen diesen ganz unsubordinationsmäßigen Gedanken? Hatte der Direktor recht? War er ein" Revolutionär"?! Aber wer hatte ihm das eingeflößt? Doch nur der Staat!
Mit grimmigem Hohn schwenkte er das Stück Papier in der Hand dankend gegen die Bureaus der Gefängniß- War der Staat vielleicht selbst schuld, wenn Unzufriedene verwaltung; das Papier, das ihm seine Freiheit um den sich gegen ihn richteten-?! Preis eines halben Jahres wiedergab, und seinen guten
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Namen für den Titel eines Revolutionärs", ihm, der auf Er mußte zu Fuß nach dem Wohnort seines Bruders seine guten Unterthanenqualitäten so stolz gewesen war! gehen, seine Familie aufzusuchen. Wie hätte er gegenSo verblendet stolz! So dummstolz! wärtig das Geld für ein Eisenbahnbillet erschwingen können?
" Ich habe seitdem viel schlimme Erfahrungen gemacht, erwiderte Schwarz, Sie haben doch nicht so unrecht gehabt, das mert' ich jetzt. Ich bitte Sie wegen meiner damaligen Schimpfereien um Verzeihung."
Er hielt ihm die Hand hin. Der Arbeiter schlug ohne Bedenken ein. " Ich bin keinem böse, der auf uns schimpft, sagte er. Ich denke einfach: der hat's noch nicht am eigenen Fleisch erfahren. An den wird's schon noch' ran kommen." An mich ist's ordentlich' ran gekommen!" Schwarz feufzte und erzählte seine Leidensgeschichte. Auch der andere wurde jetzt gesprächig. Er hatte