Einzelbild herunterladen
 

Nr. 466 41. Jahrgang

Siedlung und Staat.

Landwirtschaftliche Fragen im Landtag.

2. Beilage des Vorwärts

Freitag, 3. Oktober 1924

Im Landtag wurde gestern, wie bereits furz gemeldet, die zweite Beratung des Haushalts der landwirtschaftlichen Verwaltung fortgesetzt.

Bei der Siedlungsfrage verweist Landwirtschaftsminister Dr. Wendorff auf die statistischen Ergebnisse der Siedlung. Bas unter den wenig erfreulichen Umständen erreicht werden konnte, ist erreicht worden. Im laufenden Jahre sind die Aussichten für eine erhöhte Siedlungstätigkeit leider nur sehr gering, zum großen Teil ist das eine Folge der vorjährigen In­flationsfrise. Das Reich hat seine Zuschüsse einstellen müssen und feine bisherigen Verpflichtungen auf die Länder abgewälzt. Den Siedlungsgesellschaften müssen, wenn wir weiter groß­zügig arbeiten wollen, 3 wischentredite gewährt werden. Der Weg der Enteignung muß möglichst ganz ausgeschaltet werden. Dringend notwendig ist andererseits auch,

den Domänenbesitz des Staats wieder aufzufüllen, nachdem ihm durch das Versailler Dittat und die Siedlungen eine große Bodenfläche verlorengegangen ist. Ebenso muß der Forst. besit durch Aufforstung von Dedland usw. wieder gesteigert werden. Das wird große Mittel erfordern.

Abg. Dr. Höpfer- Aschoff( Dem.) begründet den Antrag der Demokraten, wodurch unter gewissen Bedingungen ein Erbpacht. recht und die Möglichkeit, das Pachtland als Eigentum zu erwerben, denjenigen Bächtern eingeräumt wird, deren Familien. länger als zwei Generationen das Land bewirtschaftet oder urbar gemacht haben.

Abg. Milbert( Dnat.) verlangt, daß den Siedlungsgesellschaften scharf auf die Finger gesehen werden soll.

Abg. v. Vapen( Bentr.) tritt für Vereinfachung des Geschäfts ganges bei der Siedlung ein.

Nachdem die Abgg. Boes( Dnatl.), Kilian( Komm.), Schmelzer ( 3.), Pischte( D. Bp.) und Weissermel( Dnatl.) verschiedentlich Kritik an dem Siedlungswesen geübt hatten, erklärte

Landwirtschaftsminister Dr.Wendorff, daß parteipolitische Gründe für seine Entscheidungen nicht in Frage tommen, daß vielmehr ledig lich nach fachlichen Gesichtspuntien gehandelt werde. Nur solches Dedland werde zur Siedlung vergeben, das sich zur forstlichen Be wirtschaftung nicht eignet. Er erklärte, es sei

die vornehmste Ehrenpflicht des Reiches wie des preußischen Staates, die Bevölferung wieder feßhaft zu machen. Die besten Absichten müßten aber an dem Mangel an Mitteln fcheitern. Der Minister sagte bestmöglichste Förderung des land­wirtschaftlichen Bildungswesens zu und versprach, den Beschwerden über die Siedlungsgesellschaften nachzugehen.

Damit ist der Etat der landwirtschaftlichen Berwaltung erledigt. Die Abstimmungen finden am Freitag statt.

Stadt Wesermünde beschlossen.

Es folgt die zweite Beratung des Gesehentwurfes über die Bereinigung der Stadtgemeinden Lehe und Gee stemünde. Der Ausschuß hat der Bereinigung zugestimmt. Die neue Stadt soll Wesermünde heißen.

Abg. Voß( Dnatl.) behauptet, daß in den städtischen Parlamenten von Lehe und Geeftemünde von den gewählten Vertretern feine einzige Stimme für die Bereinigung abgegeben worden sei. Nach weiterer Debatte wird die Borlage in zweiter und dritter Befung gegen die Deutschnationalen mit großer Mehrheit

angenommen.

Das Haus vertagt sich.

Freitag 12 Uhr: Ministerium des Innern, Abstimmungen über den Landwirtschaftsetat. Schluß nach 6 Uhr.

Weltkongreß für Sozialpolitik.

-REGIERUNG­

Revey will

Mißverständnis: Warum stehen Sie nicht Schlange?"- Schlange? Der steht ja ganz vorn!"

wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bewirkt. Gewiß, es ist nicht immer glatt gegangen, der Widerstand der Unternehmer hat auch unangenehme Bewegungen der Arbeiter hervorgerufen bis zum heutigen Tage. Aber es ist vorwärtsgegangen, es ist un­bestreitbare Tatsache, daß die Arbeiterklasse infolge ihrer e bung allen Alenderungen der Produktionsrichtung folgen fonnte. Die Entwicklung ist noch lange nicht am Ende, Güter­erzeugung und Arbeiterschaft müffen noch viel höher tommen. wissenschaftliche Durchbringung haben in mir den Glauben erzeugt Diesem Zwed foll die Sozialpolitik entsprechen. Erfahrung und und gefestigt, daß die Entwicklung die Menschheit dazu führen wird, über die materiellen Güter und insbesondere über den Geldfac die volle Herrschaft zu erobern.

Dann wird der Spruch wahr, der am 4. Juli 1776 in der Erklärung der Menschenrechte an die Spitze der Unabhängigkeitsatte der Bereinigten Staaten von Amerifa gesetzt wurde. Es war mir vor 20 Jahren vergönnt, die ewig denkwürdige Freiheitshalle in Phil adelphia zu besuchen, wo diese Afte beschlossen und unterzeichnet Ziel der Gesellschaft ist das allgemeine Glüd!"

Der 80jährige Hermann Greulich feiert die Auferstehung wurde. Ehrfurchtsvoll habe ich den Spruch gelesen, er lautet: Das der Arbeiterklasse.

Prag , 2. Oftober.( Eigener Drahtbericht.) Am Donnerstag trat in Brag der Internationale Kongreß für Sozialpolitik zusammen. Ideell schließt der Kongreß an den legten internationalen sozialpoli. tischen Kongreß in Zürich 1897 und an den Pariser Kongreß von 1900 an, auf dem die Internationale Affoziation für gefeßlichen Arbeiterschutz gegründet wurde, die nun in Gemeinschaft mit

-

Als Greulich seine Ausführungen beendet hatte, bereitete ihm der Rongreß eine lebhafte Huldigung. Es sprach sodann Dr. Grube( Tschechoslowakei ) über die Entwicklung der sozialen Denfungsart in der Tschechoslowakei

der Affoziation für Bekämpfung der Arbeitslosigkeit den Brager Internationale Geschichtstagung

Kongreß einberufen hat. Auf dem Kongreß sind eine Reihe hervor­ragender Wirtschafts- und Sozialpolitiker, darunter Prof. Bren. tano aus Deutschland , anwesend. Es werden auch Sozialisten von Namen und Ruf, wie der greife Genosse Hermann Greulich

#

Probleme der Geschichtsbetrachtung.

schichtsbetrachtung nach sich ziehen. Bis heute ist Geschichte leider viel­fach noch bloße Genealogie und dynastische Schlachtenschilderung ge­blieben. Aus dem Zusammenschluß der Nationen hat sich über die nationale Staatsidee die nationale Geschichtsschreibung entfaltet. Dann hat das Maschinenzeitalter neue Lebensfräfte entfaltet. Das erste Wert follettivistischer ökonomischer Geschichtsbetrachtung ist die Schrift: Die Lage der arbeitenden Klaffen in Eng land" von Friedrich Engels , Zwar haben wir schon Hälfte des 18. Jahrhunderts, jedoch geht sie noch von der Betrachtung ökonomische Geschichtsbetrachtung bei Justus Möfer in der zweiten des Einzelschicksals aus. Die Marrsche Geschichtsauffassung will eine Lehre für den kommenden Befreiungskampf der arbeitenden Klassen fein. Darin allein beruht ihr sogenanntes materialistisches Moment, faffung ausdrückt. Arbeit und Produktion faßt Marg immer das nur den Gegensatz zur idealistischen bürgerlichen Geschichtsauf­nur gesellschaftlich auf. Die ökonomische Geschichtsauffassung ist nicht eine technologische, die alle Veränderungen in der mensch­lichen Gesellschaft auf Umgestaltungen der technischen Arbeitsmittel zurückführt. Der Kapitalismus führt nicht felten aus egoistischen Gründen Schramten gegen den technischen Fortschritt auf. In den Produktivfräften geben fich zahllose moralische und geistige Energien aus und beeinflussen die politischen, juristischen und sozialen Institu­fionen. Die ökonomische Geschichtsbetrachtung wird Marg Lebensmacht und Machtmittel.

Diskussion.

Zürich , Dr. Kart Renner, deutschösterreichischer Staatskanzler tagung. Nach einer kurzen Eröffnungsansprache von Baut wunden, sondern durch die neue Gesellschaftsschicht, das Proletariat.

a. D., Dubegeest, des bundes in Amsterdam , als Redner das Wort ergreifen.

Der Obmann des Vorbereitenden Kongreßausschusses, Professor der Bariser Universität Boissard, begrüßte in französischer Sprache die Anwesenden und erklärte den Kongreß für eröffnet, wo­bei er das Wort dem tschechischen Minister für soziale Fürsorge, Genoffen a brman, erteilte. Nach Berdolmetschung der Be. Habr grüßung des Ministers in die deutsche und englische Sprache ergriff abermals Professor Boissard das Wort. Er betonte, daß der Kongreß Gast der tschechoslowakischen Republit ist, die bestrebt sei, der ganzen Welt als wahrhaft soziale Nation zu dienen. Der Präsident der tschechoslowakischen Republit, Masaryf, fönne sich mit Rücksicht auf seinen Gefundheitszustand am Kongreß nicht beteiligen, hat aber das Protektorat übernommen, wofür ihm der Kongreß dankbar ist. Der tschechoslowakische Außenminister Dr. Be­nesch hat sich telegraphisch aus Genf entschuldigt und wünscht dem Rongreß beftes Gedeihen.

Sodann wurde einstimmig zum Vorsitzenden Genosse Albert Thomas gewählt. Auf Vorschlag des Vorfizenden Thomas wer­den einstimmig in den Vorstand gewählt: Brofessor Dr. Grube ( Tschechoslowakei ), Nationalrat Bachenal( Schweiz ), Professor Fufter( Frankreich ), Senator Loria( Italien ), Prof. Gyrup ( Deutschland ). Thomas erflärt in feiner Begrüßungsrede u. a.: 3m Oftober 1922 haben wir in Genf erfannt, daß die Zeit der raschen Entwicklung der sozialpolitischen Einrichtungen vorüber ist. 23ir haben erkannt, daß es notwendig ist, alle Kräfte der Welt zu fam. meln, um den Geist der 3 weifel zu bannen. Anschließend daran sprach der Schweizer Nationalrat Genoffe Greulich: Meine Kindheit liegt weit zurüd. Man begann in der Schweiz erst mit dem Bau von Eisenbahnen, als ich geboren wurde. In meiner Lehrzeit arbeitete man noch 14 Stunden mit ganz furzen Mittagspausen.

Genosse Mar Adler- Wien setzte sich als erster Diskussions­redner mit dem Referat von Honigsheim cuseinander und betonte das fulturell- ethische Moment des Margismus. Er erkennt den Wert Des Utopismus, jedoch nur innerhalb der Grenzen der Gesellschafts­Im Bürgersaal des neuen Rathauses in Berlin- Schöneberg be- wissenschaft. Ueberhaupt will er der Wissenschaft und der Soziologie gann am Donnerstagvormittag um 9 Uhr die vom Brnd entschiede= einen größeren Wert als Honigsheim beimessen. Die Kultur, der Internationale Geschichts- Gesellschaft wird nicht durch Asien über­Den Unwert der Naturwissenschaft erkennt auch Adler an. Auch Marg und Engels haben eine rein materialistische Weltanschauung abgelehnt. Der Klassentampf ist ein taufal notwendiger Kampf für Recht und Vernunft. Die Erizehung darf nicht neutral fein, son­dern sie muß die Tendenz zur tommenden Gesellschaftsform, zum wohl aber des wissenschaftlichen Dentens geben. In eine Reihe neben Sozialismus, verfolgen. Es foll zwar keine Diktatur der Wissenschaft, Rant und Fichte gehört auch Karl Mary.

Destreich, der die Tagung als vom Geiste Kants und Fichtes be herrscht hinstellte, ergriff Baul Honigsheim- Köln das Wort zu einem Referat über:

Wesen und Gegenwartsaufgaben der Soziologie. Die wichtigsten Gedanken seines Referats. maren etwa folgende: Unserer Zeit fehlt vor lauter Begrifflichkeit und Wissenschaftlichkeit das Empfinden für Volkstum. Es.bahnt sich heute schon wieder eine teine Wissenschaft der Geschichte mehr gelten lassen will. In der Tat Reaktion dagegen an, die überhaupt keine Wissenschaft, also auch. fragt es sich, ob und welchen Sinn die Wissenschaft der menschlichen Gesellschaft, die Soziologie, hat. Wir befinden uns heute in einer Krisis des europäischen Geistes, die in der These Europa oder Asten ihren Ausbruck findet. Nach einer tief­Forschung charakterisierte der Rebner den Glaubenscharakter des Ratio gründigen Darlegung der pfychologischen Ursprünge wissenschaftlicher der Religion ein Gögentum der Technik an seine Stelle getreten sei. nalismus und wies darauf hin, wie nach dem Sturz des Gögentums fung von Zweifeln an jedem wissenschaftlichen Ergebnis Sowohl Die Folge des Gößensturzes der Technik sei heute eine weitere Stär­das Individuum wie auch die Masse, die zwar undifferenziert, aber auch untrennbar ist, haben ihre Realität. Wir müssen den Gegen faß von Individuum und Masse dadurch aufheben, daß wir noch ein Drittes hinzufügen: die Gemeinschaft ohne Autoritätsgläubigkeit und Gebundenheit. Für die Wissenschaft ist eine Synthese von Religion und Naturwissenschaft er. ferberlich. Die Gesellschaftswissenschaft fann uns nur ein Handwerks­eug bieten für fünftige Menschheitsbafeinsgestaltung. Bir dürfen Bedeutung gewinnt die Soziologie durch ihre Anwendung auf die uns nicht unter eine Diktatur der Wissenschaft beugen. Eine wichtige Pädagogik. Man muß den Mut haben, Utopist zu sein, sich dabei aber zugleich an allen Auseinandersehungen des Alltags zu be­teiligen. Erst das ergibt Realpolitik im allerhöchsten Sinne. Sede Idee hat das tragische Schicksal, im Dogma und im Bureaukratismus zu erstarren. Aber auch das ist menschheitsgeschichtlich notwendig, weil es immer einen Zustand geben muß, in dem es etwas zu revo­lutionieren gibt.

Bor mehr als 60 Jahren traf ich als Handwerker mit fümmer­licher Volksschulbildung in einen Arbeiterverband ein. Mit den verschiedensten Schichten der Arbeiterschaft bin ich in engste Fühlung gekommen. Welch ungeheure Entwicklung der Wirtschaft habe ich erlebt, aber auch welch ungeahnte Entwicklung der Arbeiter. fchaft, eine wahre Auferstehung der Arbeiterflaffe. Ich schäze mich glücklich, dabei nach Kräften mitgewirkt zu haben und jede materielle Besserstellung durch Verkürzung der Arbeitszeit, Dekonomische Geschichtsbetrachtung Erhöhung des Reallohnes oder andere Fortschritte hat ohne Aus- führte Genoffe Paul Rampffmeyer folgendes aus: Ein ökono­nahme eine geistige und sittliche Hebung und eine Erhöhung der misiertes Leben muß eine ökonomische Lebensauffaffung und Ge

In einem weiteren Referat über:

des Genossen Reinhard Streder über: Im Mittelpunkt der Borträge des Nachmittags stand das Referat

Persönlichkeit und Masse.

Masse und Persönlichkeit sind kein Gegensah, aber die Masse ist Maffe und Persönlichkeit zeigt sich deutlich in der Maffenpsychose. nicht die Summe aller Bersönlichkeiten. Die Wechselwirkung von intellektuellen, ohne zu bedenken, daß auch diese Masse ihre er­Man versteht unter Masse gewöhnlich nur die Masse der Nicht­Einzelmensch wie auch die Masse dürfen nicht lediglich als Werkzeuge fahrungsgemäß erprobten menschlichen Vorzüge hat. Sowohl der gebraucht werden. Die Masse braucht natürlich führende Persönlichkeiten, wie jeder Mensch auf gewiffem Gebiete der Führung bedarf, während er auf anderen Gebieten, und sei es auch Führerproblem überschneiden sich die Begriffe Persönlichkeit und nur in fleinem Kreise, selbst führend sein kann. Also auch beim Maffe. Heute können wir vielfach statt einer Führung des Volkes eine Irreführung des Volkes wahrnehmen. Sie erfolgt vor allem durch die fapitalistische Presse. Die Erziehungsmächte sind vielfach Gefühl als im Verstand zu treffen. Daraus geht die hohe Be­felbft fchuid an einer Massenpsychose. Die Masse ist viel leichter im deutung der Kunst für weltgeschichtliches Erleben hervor. Für die große Aufopferungsfähigkeit der Masse müssen lohnende Ziele ge funden werden. Die Empfänglichkeit der Masse muß gefördert werden, und hier vor allem liegt die große sozial- ethische Bedeutung des Achtst unbentages. Vielfach wird heute Don Reaktionären Fichte zitiert, die außer der Ueberschrift seiner Reden an die deutsche Nation" nichts von ihm tennen und nicht wissen, daß er Republikaner und Sozialist und damit Prophet einer neuen Zeit gewesen ist. Das Problem von Masse und Bersönlichkeit ist das Problem der Führung. Wir müssen dort, wo wir selbst Persönlichkeit sind, um die Führung der Masse kämpfen,