Einzelbild herunterladen
 

ttr. 476 41. Jahrgang

1. Seilage ües vorwärts

Vonuerstog, 4. Oktober 1924

Merkfreuöe/

Kleider, Schuhe, Schmuck und Bücher für die Proletarieriu.

Am 7. März 1922 hat unsere Genossm IlseMüller-Ocst- reichinderMagdeburgerStraße? unter denkbar schwierig­sten Verhältnissen mit einfachsten Mitteln und zu einer Zeit der un- günstigsten wirtschaftlichen Konstellation Deutschlands eine Einrichtung ins Leben gerufen, der sie den bezeichnenden NamenWerk- freude" gegeben hat. An dem Werk, das hier geschaffen wird, arbeiten mm wirklich mit und neben der Genossin Ilse Müller- bestreich all« Kräfte in freudigster und hingebendster Weise mit. Wir haben vor einiger Zeit kurz darauf hingewiesen, was m derWerk- freude" geschaffen wird. Es wird unsere Leserinnen gewiß inter - essieren, etwas Genaueres über die verdienstvolle gemeinnützige Gründung zu hören. Schöne Kleiöer onö gutes Schuhwerk. In der Magdeburger Straße 7 hat dieWertfreude" im Par- terre 7 große Räum« gemietet, in denen viel« fleißige Hände am Werk sind, um das zu schaffen, was man die Kleidung der Proletarierin nennen muß. Es handelt sich in der Hauptsache darum, die Auswüchse in der Mode zu bekämpfen, es geht aber nicht das Ziel dahin, Kleider zu schaffen, die vollständig unmodern" sind, sondern man macht in derWerkfreude" der Mode durchaus Konzessionen. Man bekämpft ferner hier den kiksch und den Schund. Man predigt der Proletarierin: Kauf nicht Billigstes! Denke daran, daß die Geschäfte mit Schleuder- preisen oft genug auch ihren Arbeiterinnen unerhört niedrig« Löhne oeben und überlege, daß das Kleid, zu diesen niedrigsten Preisen ge- kauft, nur kurze Zeit hält, so daß du nicht billig, sondern im Gegenteil teuer«ingekaust hast. In derwerkfreude" werden nur beste Stoffe verarbeitet. Später will man Blaudrucke selber her- stellen. Me Kleider sowohl wie die Unterkleider, die dieWerk- f'eude" anfertigt, sollen vor allem praktisch sein. Die Arbeiterinnen, die hier beschäftigt werden und die, das ist erfreulich zu sehen, nicht in omom Abhängigkeitsverhältnis, sondern in einem Freundschaftsver» hältnis zu Ilse Müller-Oestreich stehen, sind in ganz besonderer Weis«, man mochte sagen, ausgesucht worden. Es liegt nicht so, daß jede Arbeiterin, die Arbeit sucht, hier auch Beschäftigung findet. Man verlangt vielmehr von den Arbeiterinnen und mit Recht individuelle Einstellung, damit das Kteid und das Unterkleid, das aus ihren Händen hervorgeht, auch einen besonderen Charakter aufweist. Da ist z. B. ein junges Mädchen in derWerkfreude", das früher in einem großen Berliner Modehaus beschäftigt war. Diese überaus geschickte Arbeiterin hatte aber keine Einstellung zu den über- triebenen Raffinements der Mode. In der.Werkfreude" dagegen ist sie hervorragend am Platz und die fleißigen, flinken Finger wiffen Kunstgewerbliches vollendet zu gestalten. In anderen Fällen bringen Eltern ihre Töchter zurWerksreude", man prüft ihre Fähigkeiten und nur, wenn man sieht, daß sie Liebe zur Sache mitbringen, werden sie behalten. Um diese jungen Arbeiterinnen weiter- zu bilden, läßt man sie die Abendkurse der Webschule besuchen, und damit sie frisch und ausgeruht in diese Schule kommen, werden sie in derWerkfreude" bereits am Mittag aus dem Arbeitsraum ent- lassen. Das Schulgeld trägt dieWertfreude". Der Absatz an Kleidern und Unterkleidern ist bisher ein guter. Um den Genossinnen die Beschaffung der Kleidungsstücke leichter zu machen, ist das Prinzip der Teilzahlung eingeführt worden. Die Werkfreude" gibt aber auch an Wsed ero ertäufer ab, um den Kreis der Kunden und die Einnahmen zu erweitern. Auch Schuhwerk ist in derWerkfreude" zu haben. Es handelt sich dabei nicht nur um Sandalen, die allerdings, das sei besonders betont, in ganz hervorragender Weis« praktisch und gut sind, sondern auch um Fußbekleidung für alle Zwecke. ?m Reich See Puppenmutter. Eine besondere Abteilung ist die für Spielzeug. Hier sieht man(in dem kleinen Ausstellungsraum der.Werkfreude" ist kurz zusammengedrängt auf Tischen und in Schränken, was dieWerk- freude" liefert) Spielzeug und Puppen vom einfachsten und billigsten bis zu dem kunstgewerblich Hervorragendsten. Neben Puppen für

die kleinsten Kinder, neben Kasperles, neben sehr eigenartig ge- schnitzten und kunstverständig bemalten Gänsen sind all« Variationen von Spielzeug vorhanden. Ilse Müller-Oestreich bezieht die Ent- würfe fiir alle diese zierlichen Sachen von Staudinger in Sonnen- bcrg. Sie wählt aus, und unter Leitung von Staudinger werden dann in Sonnenberg die Puppen angefertigt. Bekleidet werden sie in derWerkfreude". Auch für die Puppenbekleidung sind die ge- eignetsten weiblichen Kräfte vorhanden und alles wird durchaus individuell und dem Sinn entsprechend hergestellt. Man steht hier Puppen sehr hübsch und zur Freude aller Kinder bekleidet, aber niemals find die Werkfreudepuppon in der Weife bekleidet, daß sie wie Raffkes Jüngste aussehen.(Dieses Wort, das soll der Wahrheit gemäß hier betont werden, stammt von einer der Arbeiterinnen der Werkfreude", deren besonderes Ressort die Puppen find und der man daher den bezeichnenden Namen Puppenmutter beigelegt hat.) Ferner verkaust dieWerkfreude" Keramik, eigenartig und individuell geformte Tassen, Kannen, Vasen. Es ist die« alles Keramik vom staatlichen Bauhaus in Weimar , dessen Verkauf und Bertrieb dieWerksreude" übernommen hat. Es muß noch erwähnt werden, daß in derWerkfreude" auch für den Schmuck der Proletarierin gesorgt wird. Man steht hier sehr hübsche Broschen, Ketten und Kteiderschmuck aus Neusilber , sogenannte Treibarbeiten, bei deren Anfertigung auch männliche Kräfte beschäftigt werden. Auch hier wieder ist Prinzip, den Kitsch zu vertreiben und wirkliche Kunst an dessen Stelle zu setzen. Eöle Sucher. Einen nicht kleinen Toll der Arbeit derWerkfreude" nimmt der Sortimentsbuchhandel ein. DieWerkfreude" steht mit einer großen Anzahl von Verlegern in Verbindung und empfängt von ihnen Bücher zum Verkauf. Hier handelt es sich nun darum, und das ist eine oft schwierige und langwierige Arbeit, aus den Sendungen der Berlagsbuchhändler alles das auszusondern, was nach Ansicht der Leiterin derWerkfreude" zum Vertrieb nicht geeignet ist. Man geht hier bei der Auswahl von dem Grundsatz aus, daß alles, was nationasislisch eingestellt ist an Büchern, ausgeschieden wird. Bei großen Kongressen, wie sie in der verflossenen Woche in Berlin statt- gesunden haben, hat dieWerkfreude" das Vorrocht, die Bücher auszustellen und dabei auch günstig« Gelegenheit, die Bücher adzu- setzen. Daß in derWerksreude" auch gute dauerhafte Bucheinbände hergestellt werden, sei noch nebenbei erwähnt. Bei den Büchereinbänden wird besonders darauf gesehen, daß Deckel, Vorsatzpapier und Schnitt ein hormonisches Ganzes bilden. Es kommt weniger auf die Vorwendung von Leder, Seide, Gold und die Herstellung von Luxussinbänden an, als auf gutes, dauerhaftes Material, das durch sich selber wirkt. Das Buch, da« auf dem Tisch liegt, soll so wirken, daß man mit einem Gefühl freudiger Erwartung die Hand danach ausstreckt. Das ist dieWerksreude" und ihre verdienstvolle Tätigkeit. Ein kurzer Besuch der Räum« in der Magdeburger Straß« 7 zeigt, daß die Arbeiterinnen mit wirtlicher Freude am Werk sind, daß sie sich alle wie die Inhaberinnen des Ganzen betrachten, und so kann es mcht wunder nehmen, daß alles das, was aus ihren Händen hervorgeht, gut, geschmackvoll und dauerhast ist.

Folgenschwerer Zusammenstoß zweier Srastdroschke«. Gestern abend gegen 7 Uhr kam es am Kemper Platz zu einem Zu- sammenstoß zweier Kraftdroschken. Der Führer des hinteren Wagens mußte das Tempo seines Wagens verringern und in demselben Augenblick fuhr ihn ein anderes Auto von hinten an, so daß dieses Fahrzeug das vorbeifahrend« wisderum von hinten anfuhr. Durch die Zusammenstöße gingen die Lampen in Trümmer und die entströmenden Benzingase gingen in Flam- men auf. Dem ersten Wagen wurde der Benzintank ein- gefahren, so daß nun beide Autos Feuer fingen und ziemlich ausbrannten. Die Feuerwehr war sehr schnell zur Stelle, Glücklicherweise waren nur in dem zweiten Wagen Fahrgäste, die die mit dem bloßen Schrecken davonkamen.

lieber Naffenbilüung. Einer Einladung des Bildungsausschusses des Gewerkschasts- Kartells folgend, sprach Genosse Dr. Joseph Luitpold Stern- Wien in ebenso geistreicher wie tief schürfender Weise zu dem Problem der Massenbildung. Er führte aus: Drei Eigenschaften, die im Lauf« der vorgeschichtlichen und geschichtlichen Entwicklung der Menschheit sich herausgebildet hoben, charakterisieren in erster Linie die Masse: der Herdentrieb, die Furcht oder Panik und die Untertänigkeit, d. h. die Fähigkeit, sich beherrschen zu lassen. Dieses Beherrschtwerden wäre aber nicht so vollkommen möglich gewesen, wenn in der Mass« nicht ein Wille, sich beherrschen zu lassen, lebte. Im Laufe des 20. Jahrhunderts kam es dann zu ihr« Snt- fesfelun«, Sie wurde erst möglich durch ihre Anhäufung in den Großstädten, und hier in den Betrieben. Der Masse kam allmählich zum Bewußtsein, daß sie eine Klasse fei. Und bei der Erweckung dieses Bewußtseins spielte die Bildung eine hervorragende Rolle. Es war nicht allein die Oekonomie, die die Unterdrückung der Massen verursachte, sie wurde dadurch vervollständigt, daß die Herr- schenden auch die Gestaltung des Bewußtseins der Massen in die Hand genommen hatten. Die Massen waren mcht allein unter- drückt, sie war auch vom Bewußtsein durcfyd-rungen, daß es anders mcht möglich sei. Die Fabrik aber, die die Menschen einander näher gebracht hatte, macht« zur selben Zeit auch die Bildung der Massen notwendig: die Maschine wollte nicht allem von der Hand, sondern auch vom Kopf bedient sein. So wurden die Unterdrücker gegen ihren Willen gezwungen, die Massen ans ihrer Unbildung heraus- zuHeben. Durch diesen doppelten Prozeß wurde die Entfesselung der Masse, der Schritt der Masse zur Klasse mögiickz. Sie ver- wandelte sich aus einer Dulderin zur Rebellin, Früher machtlos gegenüber der Welt, wollte sie jetzt ihre Beherrscherin werden. War sie ftüher als Masse dem Schicksal nicht gewachsen, so nahm sie letzt als Klasse ihr Schicksal in die eigene Hand. Als Klasse bedarf aber das Proletariat auch der proletarischen Persönlichkeiten. Die Aufgabe der Bildung ist unter anderem, diese proletarische Persönlichkeit zu schaffen. Während aber die bürgerliche Persönlichkeit nur für sich lebt, bildet sich die proletarische Persönlichkeit für den Dienst an seiner Klasse. Während die erstere stolz daraus(st, mehr zu wissen als die Masse, ist es für den letzteren «ine Tragödie, Dinge zu wissen, die die Masse nicht weiß. Heilt sich die bürgerliche Persönlichkeit für reis, wenn sie die Masse zu unter- drücken gelernt hat, so ist es die proletarische, wenn sie der Masse zu dienen imstande ist. Der junge Proletarier, der sich die Bildung angeeignet hat, um dann abseits der Masse zn bleiben, erklärt sich gegen die Arbeiterklasse, da er nicht für sie arbeitet. Die Er- ziehung der sozialistischen Persönlichkeit wird zur vornehmsten Aus- gäbe der sozialistischen Parteien. Die Masse der Proletarier ist jedoch weit davon entfernt, sozialistisch zu sein. Man muß den Mut ausbringen, den Lastern des Proletariats entgegenzutreten, selbst das Leben auch vieler organisierter Arbeiter in der Familie als n i ch t f o z i a li stiss ch zu brandmarken. Ob jemand Sozialist ist, ist nicht aus seinem Mitgliedsbuch zu ersehen, sondern aus seinem Charakter, seinem Verstand und seinem Gefühl. Die Jugend, und in erster Linie das proletarische Kind, zum sozialistischen Menschen zu gestalten, muß die nächste Aufgabe des praktischen Sozialismus sein. Wien mit seinen 80 000 proletarischen Kindern, die von den Kindersreunden umfaßt werden, �hat die Ve- deutung dieses Satzes erkannt/ Es gilt nicht, den Sozialismus zu predigen, sondern'den Sozialismus zu leben, Es ist natürlich unmöglich, den Inhalt eines dreistündigen Referats nur annähernd erschöpfend anzudeuten. Man könnte nur wünschen, daß Genosse Dr. Joseph Luitpold Stern wieder Gelegenheit erhält, seine Ge- danken vor den Bildungsfuntstonären der Partei und der Arbeiter- fügend vorzutragen._ Der graste Aktievschwkndel. Zu dem großen Aktienschwindel, über den wir im gestrigen Abendblatt kurz berichteten, wird weiter mitgeteilt, daß die beiden flüchtigen Fälscher B o e ck und v. B l u m e n t h a l, der Direktor der Victoria G. m. b. H. in Ketschendorf bei Fürstenwalde war, noch nicht ermittelt sind. Auch die Herkunft der gefälschten Aktien, die Druckerei oder mehrer« Druckereien sind noch nicht ermittelt. Früher wurden Aktien in der Regel in Staatsdruckereien hergestellt. Das änderte sich in der Inflationszeit. Dadurch und bei der lieber- laftung der Privatdruckereien, die jetzt vielfach Neudrucke besorgten, wurde die Gewähr für die Echtheit geringer. Gefälschte Aktien kamen schon wiederholt in Umlauf. Sie wurden in Verlin, besonders in

q Die Familie Frank. Roman von Martin Andersen Rexö. Sie verließ sich nicht mehr auf ihre eigene Stärke wie in alten Zeiten, erwartete auch nicht, wie der Schwachgeborene, alles vom lieben Gott, sondern hegte Achtung vor dem Zufall, wie ein Zerrütteter. Der Zufall hatte sie niedergeworfen, und nun klammerte sie sich an ihn, sch�b ihren Kummer auf ihn und erkannte ihn als ihren Herrn an. Jeder Tagesverdienst, den Thorvald brachte, war eine zufällige Einnahme, selbst als sie sich Woche auf Woche wiederholte. Er war kein ange- nommener Versorger, er war ein etwas unbeständiger Junge, den sie selbst vernachlässigt hatte; und eines schönen Tages bekam er die Sache gewiß satt. Aber dann würde der Zufall ihr auf andere Art zu Hilfe kommen. Sie hatte nur eine Sorge. Frank hatte sich seit dem Ver- fassungstag� nicht sehen lassen, und nun fürchtete.sie täglich, daß er zurückkommen werde. Doch auch diese Furcht schwand mit jedem Tag. Wo er im übrigen geblieben war, das war ihr ganz gleich- gülsig, wenn er nur nicht wieder nach Hause kam und den häuslichen Frieden störte. Sie fühlte, daß sie nicht mehr die Kraft haben würde, sich mit ihm herumzuschlagen. Wenn sie jetzt am Fenster saß und nähte oder strickte und dann drüben auf der Gasse oder draußen auf der Landstraße eine Gestalt sah, so tonnte sie sich einbilden, daß er es war, und ganz kast werden vor Schreck. Und sie konnte sich den ganzen Zank ausmalen, der folgen würde, und die Schläge, die giftigen Worte und alle feine Versuche, sie zu bestehlen und fuhr fort, Grauen zu empfinden, lange nachdem die Ge- stalt vorbeigegangen war. Dann aber durchdrang sie plötzlich das befteiende Gefühl. Wirkliche Freude darüber, daß er fort war, empfand sie nicht, und das enttäuschte sie, so daß sie mit Willen diese An- fälle von Angst vor seiner Rückkehr oerstärkte um dann den plötzlichen Uebergang zur Wirklichkeit zu genießen. Eigentlich hatte sie sich das, ihn los zu sein, wie ein ganzes Leben vor- gestellt, ein Dasein, das von Neuem erfüllt war und dann war statt dessen eine Leere ensstanden, allerdings eine Leere von etwas Unheimlichem und doch! Trotzdem wünschte sie nicht, ihn zurückzubekommen, um keinen Preis! Ja, wie veränderlich alles war! Nie hatte sie fünf Mi- unten ruhig auf einem Stuhl sitzen können, und es war ihr

wie ein Vorwand für Faulenzerei erschienen, wenn die Frauen sich mit einer Handarbeit ans Fenster setzten. Und jetzt saß sie selbst vom Morgen bis zum Abend da und war fleißig und starrte auf die Vorübergehenden hinab. Nach der Straße hinaus war am meisten Leben. Die Bauern fuhren in großenKreditpelzcn" zur Stadt, obwohl es Hochsommer war; Häuslersleute kamen auf ihren bloßen Füßen durch den Staub gewatet, setzten sich auf ihre Treppe und zogen plumpe Lederschuhe an, gingen dann mit ihrem Knüpftuch weiter, um eine Mandel Eier oder einen Klumpen Butter zum Kaufmann zu bringen und sich Kandis und Bohnen dafür zu holen. Wenn sie zurückkamen und das Schuhzeug auf der Frankschen Treppe wieder auszogen, leuch- teten ihre Gesichter vor Zufriedenheit; der Kaufmann hatte die Männer mit einem Glas Alten Französischen Weines und einem.Liehkolben" traktiert, und die gnädige Frau selbst hatte Kaffee mit den Häuslerinnen getrunken. Sie saßen auf der Treppe und ließen sich darüber aus und lobten während des Umziehens die Einfachheit der Kaufmannsleute; und aus den Ecken des Knüpftuches starrten große Wasferwecken zu zwei Oer. Das war der Anteil der Kinder an der Stadtreise. Aber erst spät in der Nacht, wenn Madam Frank in ihrem Bett lag, rollten die Bauern nach Hause, denn sie wollten ihr Kartenspielchen nicht missen. Und manche von denen, die zweispännig zur Stadt gekommen waren, hatten auf der Heimfahrt nur einen Gaul vorgespannt. In dem Haus auf der anderen Seite der Straße hatte sie alle Frauen vor sich, eine jede wurde durch ihren Blumen- topf verdeckt. Es erschien der Madam Frank so komisch, daß sie da saßen und die Gesichter hinter den Töpfen oerdrehten und sich unbeobachtet glaubten, aber unwillkürlich wandte sie die Blumen auf dieselbe Art an. Sie stand in keinem so feindlichen Verhältnis mehr zu den anderen Frauen, mit einigen hatte sie sogar gesprochen, und eine hatte ihr einen Dorschschwanz gebracht, während sie zu Bett lag. Aber sie fühlte sich trotzdem ein wenig bedrückt durch sie und saß am liebsten am Schlafzimmerfenster. Von da hatte sie die Aussicht auf dasDreieck", wo die Gänse sich mit ihren halbgroßen Gänschen aufhielten und genau darauf achtgaben, daß sie dem Gänserich nicht in den Weg kamen; den hatte Madam Frank vor langer Zeit einmal, schien es ihr immer gern erwürgen wollen. Jetzt machte es ihr Spaß, zu sehen, wie er da so wichtig einher- schritt, mit dem einen Auge nach dem Habicht in die Lust jxähte und die Gänse beiseite jagte, wenn er endlich einen

Fleck eßbaren Grases auf der ausgemergelten Wiese gefunden hatte, die eingetrocknet, niedergetreten und voll Gänsedung war. Er war nicht im geringsten dafür besorgt, daß auch die Gänse und Gänschen etwas mitbekamen. .Ja, so sind die Männer," dachte Madam Frank und nickte entschieden mit dem Kopf. Außen um die Grenzmark mit ihren bläulichen nackten Sandsteinflächen zog sich die fruchtbare Stadtau hm. Da draußen war man bei der 5)eu- und Kleernte. Einige waren in der Arbeit den anderen voraus, und an der Spitze war wie immer der Ackerbauer Dam. Er fuhr schon ein, und jede halbe Stunde bog eine vollbeladene Fuhre durchs Stadttor und jagte in scharfem Trabe den Weg entlang, am Stadtteich vorbei. Er selbst ging draußen in seiner weißen Bluse herum und trieb die Arbiter an. Er war ein gesunder Mann, ebenso stattlich wie in früheren Zeiten, das sagte man überall. Er mußte jetzt doch bald an die sechzig sein. Wer wohl mal all sein Geld bekommen würde, wenn er starb? Richtige Kinder hinterließ er ja nicht. Er hatte in der letzten Zeit wieder angefangen, sich ein wenig für Thorvald zu interessieren, und versprochen, für seine Konfirmationgaus- stattung zu sorgen. Madam Frank versank in tiefe Ge­danken. Weiter draußen, wohl eine halbe Meile entfernt, erhoben sich die Höhen, blauschwarz und ziemlich steil; sie bildeten eine zweihundertstinfzig Fuß hohe Felsenmauer zwischen dem fruchtbaren Tiesland und der dahinter liegenden Hochheide. Scharf hob sich die dunkle Wellenlinie des Felsenkammes gegen den blauen Himmel ab, man tonnte die Umrisse von Pflanzen erkennen und zuweilen sehn, wie sich da oben Menschen be- wegten. Sie erschienen am Himmel wie schwarze Pünktchen, ungefähr wie kriechende Fliegen. Von Zeit zu Zeit stieg da drinnen eine Rauchsäule auf, schlug in weißen Schwaden über den Fels herab und blieb in dem Walde hängen, der den Fuß der Höhen umschloß. Die Steinbrucharbeiter nahmen Minensprengungen vor. Alles das sah sie zum erstenmal, obwohl sie hier schon fo viele Jahre wohnte und sich die ganze Zeit über nicht ge- ändert hatte. Sie war zu sehr mit Arbeit überhäuft gewesen, um zu Atem zu kommen, geschweige denn etwas zu sehen, das sie nichts anging. Und dort in den Felsen war sie nie ge- wesen, obwohl sie in der Stadt geboren war. Vielleicht ging sie nun einmal hin, wenn sie richtig gesund wurde. Warum sollte man sich nicht w der West umschauen! (Fortsetzung folgt.)