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Str. 478 41.Jahrgang Ausgabe A nr. 243

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Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutfchlands

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Freitag, den 10. Oktober 1924

Die Volksgemeinschaft erledigt.

Bleibt Mary?

Kommt der Bürgerblock die Auflösung?

Gestern nachmittag empfing der Reichskanzler die sozialdemo­frafischen Abgg. Müller- Franken, wels, Dittmann und Hilferding . In der Aussprache wurde von den sozialdemo­frafischen Unterhändlern erneut betont, daß die sozialdemokratische Reichstagsfraktion bereit jei, der vom Reichskanzler auf Grund seiner Richtlinien angestrebten Regierungserweiterung 3uzu­stimmen, fie stellten indessen fest, daß der gestrige Beschluß der deutschnationalen Reichstags. fraktion mit den Absichten des Reichskanzlers un­vereinbar sei und daß sie daher den plan des Reichstanzlers als gefcheitert betrachten.

Kurz darauf empfing der Reichskanzler die Beauftragten der Deutschnationalen Boltspartei, die Abgg. Her gi, Graf Westarp , Deutschnationalen Volkspartei , die Abgg. Her gt, Graf Westarp, Schiele und Behrens. In dieser Besprechung wurde vom Reichstanzler Mitteilung von der Stellungnahme der sozialdemo­trafischen Verhandlungsführer gemacht. Die deutschnationalen Ber­treter nahmen von der dadurch geschaffenen neuen Lage Kenntnis. Der Reichskanzler teilte hierauf mit, daß er nunmehr die Berhand­lungen über die Schaffung einer Regierung unter Einbeziehung der Deutschnationalen und der Sozialdemokraten als erledigt an­fähe und sich morgen erneut mit den Parteien über den jetzt ein­fähe und sich morgen erneut mit den Parteien über den jetzt ein­zuschlagenden Weg ins Benehmen sehen werde.

Die Deutsche Volkspartei entsandte daraufhin die Parteiführer Dr. Scholz und Dr. Curtius zum Reichskanzler, um diesem mitzuteilen, daß nach ihrer Auffaffung nach den Beschlüssen der So­zialdemokraten und der Deutschnafionalen eine neue Situation ge­schaffen fei und daß der Reichskanzler jetzt feine Bemühungen in der Richtung der Bildung einer nach rechts erweiterten Regie­rung einfehen müffe.

Der Reichskanzler nahm die Mitteilungen der Abgg. Dr. Scholz und Dr. Curtius entgegen und fündigte ihnen an, daß er am

Freitag vormittag 10 Uhr die Führer der Koalitionsparteien zu einer Die Abgg. Dr. Scholz und Dr. Curtius hielten danach eine Be­sprechung mit dem deutschnationalen Abg. Her gt ab.

neuen Besprechung einladen werde.

Aus der Sizung des Reichskabinetts, die diesen Besprechungen voranging, weiß eine der Reichskanzlei nahe­stehende Korrespondenz mitzuteilen:

In der Besprechung der Minister wurden die Möglichkeiten zur Erweiterung der Regierungsbasis noch einmal eingehend durchge sprochen. Der Kanzler betonte dabei sein Bestreben, ein parla mentarisches Rabinett zustande zu bringen. Deshalb habe er zunächst nicht mit einzelnen Persönlichkeiten, sondern mit den Fraktionen verhandelt. Gelingt die Bildung einer Regierung auf dieser Basis nicht, so hätte der Reichskanzler wieder voll= tommen freie hand. Es wird von der Stellungnahme der e'nzelnen Fraktionen abhängen, wie dann die Entschlüsse des Reichs­fanzlers ausfallen werden.

Vertagung des englischen Parlaments.

Nenwahlen am 29. Oktober. London , 9. Oftober.( Eigener Drahtbericht). Am Donners­tag ist das britische Parlament zu seiner vorlegten Sigung 3u­fammengetreten. Macdonald gab eine furze Erklärung ab. Damit war die Tagesordnung erschöpft. Das Haus vertagte sich dann. Es wird noch einmal zur Entgegennahme des Auflösungs­dekrets wieder zufammentreten. Der Termin der Neuwahlen ist auf den 29. Oftober festgefeht. Man rechnet damit, daß das neue Parlament schon am 10. november zusammentritt.

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Ueber die Ergebnisse der Fraktionssizung des 3 en trums liegen abschließende Berichte nicht vor. Nach TU. möchte das Zentrum gern die Auflösung vermeiden und das Kabinett Mart behalten, das freilich wegen des Ab gangs des Herrn Jarres einen neuen Reichsinnen minifter bekommen müßte.

Für die Sozialdemokratie tann nur wiederholt werden, daß sie gegen das Fortbestehen des Kabinetts Marr zunächst nichts einzuwenden hat. Sie ist gewohnt, die Regierungen nach ihren Taten zu beurteilen, und gedenkt, auch weiterhin so zu verfahren. Nicht sie, sondern eine Regierungspartei, die Boltspartei, hat jetzt die Schere in der Hand, um den Lebensfaden dieses Kabinetts abzuschneiden. Wenn die Volks­partei auf ihre Manöver und Intrigen gegen die Regierung, der fie angehört, verzichten will, fann der Versuch, die Re­gierung Marr am Leben zu erhalten, ohne weiteres gemacht

werden.

Dabei ist freilich zu bemerken, daß der Einfluß, den die Volkspartei auf die Regierung nimmt, das Vertrauen der Sozialdemokratie zu ihr wahrhaftig nicht stärken kann. Die Aussichten für die parlamentarische Selbstbehauptung des Kabinetts Marr wären unvergleichlich beffer, wenn die Bolts­partei darauf verzichtet hätte, den Deutschnationalen die Steigbügel zu halten. Mehr als eine furzfristige Ver­schiebung der Auflösung ist doch nicht mehr möglich. Darum wäre es richtig, gleich zu tun, was doch getan werden muß.

Von den Stimmen der Breffe find die der Kreuz Zeitung " und der Germania " besonders erwähnenswert.

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Die Kreuz- Zeitung " fordert die Notifizierung der Regierungserklärung zur Kriegsschuld und fündigt der Minderheitsregierung" Mary Kampf mit allen zu parteilern fordert sie den Austritt aus der Regierung und da Gebote stehenden Mitteln" an. Bon den Volks­mit ihre Sprengung.

Die Germania " wendet sich scharf gegen die schlaue Be­rechnung", mit der die Deutschnationalen jetzt ihr angebliches Christentum in gleisnerischer Selbstanpreisung" in den Vordergrund schieben. Das deutschnationale Christentum be­tätige sich in der Hauptsache als Fiendschaft gegen den Katholis zismus. Der Deutschnationalen Partei wirft sie vor:

Sie will, daß die sozialdemokratische Arbeitermaffe nur das Opfer einer antisozialen, nicht nur antifozialistischen Bürgerblodpolitit werde, sie will nichts tun, um die soziale Kluft zu verengern, was nötig ist, um endlich das deutsche Volt zu einem nationalen Ganzen zusammenzuschmieden.

Also: Keine Volksgemeinschaft"! Kein Bürgerblock! Vielleicht eine Atempause für die Regierung Marr mit der Auflösung im Hintergrund. Sonst in den allernächsten Tagen: Auflösung!

Warum Macdonald auflöfte. London , 9. Oktober. ( Eigener Drahtbericht.) Erft nachträg. lich wird bekannt, daß noch am Dienstag nacht, als die Ciberalen mit Sicherheit auf den unbeugfamen Widerstand des Kabinetts gegen ihren Antrag auf parlamentarische Untersuchung der Campbell. Affäre rechnen mußten, ein Arrangement dahin zustande gekommen ist, daß die Liberalen ihren Antrag 3 urüdziehen und daß Macdonald dann eine rein juristische Untersuchung des Falles Die Verhandlungen sollten mit Cloyd George und akzeptiert. Asquith noch fortgefeht werden. Man glaubte schon, daß die Krise vermieden sei. Am Mittwoch früh schickten jedoch die Arbeiterab­geordneten eine Deputation zu Macdonald, die von Robert Smil­lie geführt wurde und erreichte, daß Macdonald jedes kompromiß ablehnte und die Entscheidung herbeiführte.

tei. Die große Halle und alle Zugänge dazu waren überfüllt. In den Straßen der Umgegend standen Taufende von Menschen, die nicht in die Halle gelangen fonnten. Macdonald wurde mit stür­mischer Begeisterung empfangen. Die Maffen fangen die kampf­lieder der Arbeiterpartei. In der Halle dauerte es eine Biertelstunde, bis sich der Sturm gelegt hatte und Macdonald fprechen konnte.

Macdonalds Erklärung. Condon, 9. Oktober. ( Eigener Drahtbericht.) Macdonald fagte in seiner Erklärung im Unterhause, daß das Parlament auf­gelöst werde. Er bedauere, daß die Aktion der beiden Oppositions­parteien am Mittwoch die Neuwahlen unvermeidlich ge­Die Kampfbereitschaft der Arbeiterpartei. macht hätte. Er habe am Donnerstag vormittag eine Audienz bei dem König gehabt und die Auflösung des Parlaments gefordert. Der Condon, 9. Oktober. ( Eigener Drahtbericht.) Der englische König habe ihm geantwortet, daß er damit einverstanden sei. Diese Ministerpräsident begab sich sofort nach der Verlefung einer Er­Erklärung Macdonalds wurde mit lauten Beifallsrufen aufgenom- flärung im Unterhaus zum Parteitag der Arbeiterpar­men. Macdonald fügte jeinen Worten noch hinzu, daß er glaube, der Zustimmung aller Parteien des Hauses sicher zu sein, wenn er in Anbetracht der Parlamentswahlen versuche, die Anfang November notwendig werdenden Gemeindewahlen zu verschieben. Es sei beffer, die Gemeindewahlen als die Parlamentswahlen hinauszuzögern. Die Regierung sei besorgt, den Wahltag so rasch als möglich festzu­fetzen. Die Auflösung des Parlaments sei noch in der Nacht zu er­warten und die Neuwahlen fönnten am 29. Oktober dann stattfinden. Das Unterhaus trat dann nach einer Pause um 6 Uhr wieder zusammen, und die Mitglieder, geführt von dem Sprecher, dem Premierminister und dem Führer der Opposition Baldwin, gingen feierlich zum Oberhaus, um der Verlefung der Thronrede, die die Vertagung ausspricht, beizuwohnen. Die Niit­glieder des Unterhauses fehrten dann ins Unterhaus zurüd, wo die Thronrede von dem Sprecher nochmals verlesen und die Bertagung fodann formell verkündet wurde.

Macdonald hielt eine große Kampfrede, in der er den Konfervativen und Liberalen die volle Berantwortung für die Neu­wahlen zuschob. Die Konservativen hätten durch die Zustimmung zu dem liberalen Antrag im Grunde genommen gegen ihren eigenen Antrag gestimmt, nur um der Arbeiterregierung eine Niederlage 32 bereiten. Er endete mit den Worten: Wir nehmen die Herausfor­derung an! Wir werden von jeder Tribüne des Landes die Schuld der Konfervativen und Liberalen ausrufen, die aus Parteiegoismus dem Lande den Kampf aufgezwungen haben.

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England und Deutschland .

Die beiden Krisen.

Wenn hier ein Vergleich zwischen den innerpolitischen Krisen Englands und Deutschlands gezogen werden soll, so geschieht das nicht in der Absicht, unter allen Umständen das fremde Land zu loben und das eigene zu tadeln. Die Ma­schinerie des englischen Parlamentarismus konnte so lange ohne Störung funktionieren, als fich das politische Leben Eng­aufbaute. Freilich hat es auch schon in den Zeiten der Wighs lands im wesentlichen auf das 3 weiparteien system und der Tories Abspaltungen und Gruppenbildungen gegeben, die mehr als einmal die Lage des Wagebalkens veränderten, haben Iren und Arbeiterparteiler neben Konserva­tiven und Liberalen ihre Rolle gespielt. Im großen Ganzen aber blieb es doch dabei, daß es nur zwei Parteien gab, von denen entweder die eine oder die andere zur Regierung be= rufen war. Der Sturz eines liberalen Ministeriums hatte also automatisch die Bildung einer konservativen Regierung zur Folge oder es ging in umgekehrter Richtung ebenso glatt. Die Schwierigkeiten der Regierungsbildung", unter denen wir in Deutschland stöhnen, waren auf ein Mindestmaß beschränkt. Das Bild änderte sich mit den großen Erfolgen der Arbeiterpartei. Zwar das Prinzip der Zweiteilung blieb in der Form bestehen, und als die Arbeiterpartei zum erstenmal die Liberalen an Stärke überflügelte, nahm sofort ihr Führer Macdonald den Blaz des leader of opposition", des Oppositionsführers im Parlament ein. Er war schon da­durch für den Fall einer konservativen Niederlage als Minister­präfident vorbezeichnet, und er wurde es wirklich, als die kon­fervative Partei bei den letzten Wahlen schwere Einbußen er­litt, ohne die sichere Unterstüßung der Liberalen finden zu können.

Seitdem hat die Arbeiterpartei zehn Monate lang das englische Weltreich regiert. Sie hat das nur mit Unter­stügung oder doch wenigstens Duldung der Liberalen tuh können, da sie allein über die Mehrheit der Parlamentssize versagten, war die Krise da. Das ist jetzt geschehen; die Libe­nicht verfügte. Sobald die Liberalen ihr diese Unterstüßung ralen haben in einer verhältnismäßig geringfügigen Ange­legenheit, der Einstellung des Strafverfahrens gegen einen tommunistischen Redakteur, eine oppositionelle Haltung einge­nommen und die Regierung in die Minderheit gedrängt.

Es gab nun zwei Möglichkeiten: die Berufung einer fon­servativen Regierung, die aber auch auf die Unterstützung der Liberalen angewiesen wäre, oder die Auflösung des Parlaments. Das Staatsoberhaupt hat sich auf Rat des englischen Ministerpräsidenten für die zweite Lösung ent­schieden, und binnen kurzem wird das englische Volk ein neues Barlament wählen, dessen Mehrheitsverhältnisse für die Bil­dung der fünftigen Regierung entscheidend sein werden. Soweit England.

In Deutschland liegen die Dinge bedeutend schwieriger, weil man hier nicht nur mit drei, sondern mit a cht parlamen­tarischen Parteien zu tun hat. Die konfessionelle Zwiespältig­feit, die Spaltung der politischen Arbeiterbewegung, das Fehlen einer in sich geschlossenen großen liberalen Partei, schließlich die Gärungen auf der Rechten haben zu diesem Re­fultat geführt, das in seinen Wirkungen zu einer Dauerkrise auszuarten droht. In England genügt immer noch die offene oder verstedte Koalition zweier großer Parteien, um eine arbeitsfähige Regierung zustande zu bringen. In Deutschland müssen mindestens drei bis fünf Fraktionen und Fraktionchen unter einen Hut gebracht werden, um das gleiche Ziel zu er= reichen.

Dennoch läßt sich auch hier eine 3 weiteilung er fennen. Sie ist bedingt durch die Neugestaltung der außen­und innenpolitischen Verhältnisse, die durch die Niederlage und die Staatsumwälzung hervorgerufen worden ist. Auf der einen Seite fammeln sich die Elemente, für die die Ereignisse von 1918 nur sozusagen ein Bersehen der Weltgeschichte sind, dem man die Anerkennung verweigern muß und das man gewaltsam binnen furzem wieder forrigieren fann; auf der anderen vereinigen fich diejenigen Strömungen, die in der Staatsumwälzung einen unwiderruflichen notwen­digen Fortschritt erkennen, und die von hier aus einen Weg suchen, um dem deutschen Volk mit politischen, nicht militärischen Mitteln wieder zu neuer Geltung in der Welt zu verhelfen.

Die Trennungslinie zwischen diesen beiden großen poli­tischen Richtungen läuft nahe der Grenze, die die Klassen von einander scheidet. Denn im wesentlichen sind die Arbeiter, die Angestellten, die kleinen Beamten Träger der neuen Po­litik, während die befizenden und früher staatsrechtlich be­porrechteten Kreise die alte Politik propagieren und subventio= nieren. So erscheint als Kern der deutschen Rechten die Deutsch­nationale Partei, als Kern der deutschen Linken die So­zialdemokratie.

Der Versuch des Reichskanzlers Marg, eine gemeinsame Regierung der Rechten und der Linken zu schaffen, ist ge= scheitert, wie er scheitern mußte. Die Regierung der ,, Bolks­gemeinschaft" hätte, wenn sie überhaupt hätte geboren werden Pönnen, sofort wieder sterben müssen an dem Mangel der