tlr. 476* 41. Fahrgaüg
1. Heilage ües vorwärts
5rettag,lH. Gktob« 1424
Gas � Seleuchtung x Straßenbahnunfätte. Auseinandersetzungen in der Stadtverordnetenversammlung«
Mit mehreren recht ernsten Fragen beschäftigte sich gestern die Berliner Stadtverordnetenversammlung. Ein Antrag der sozialdemokratischen Fraktion bekämpfte die Gasmesser- miete, die setzt wieder eingeführt worden ist. Unsere Genossen Großmann und Dr Wey! wiesen noch, daß für die Kleinver- braucher durch diese Gebühr die bewilligte Gaspreis- ermäßigung zunichte gemacht wird und oft sogar noch «ine Verteuerung herauskommt. Es ist zu hoffen, daß der Protest, dem sich die Mehrheit der Versammlung anschloß, nicht ohne Wir- kung bleiben wird. Zusammen mit diesem sozialdemokratischen An- trag wurde ein Antrag der demokratischen Fraktion besprochen, der die Unzulänglichkeit der Straßenbeleuchtung rügte. Er fand einstimmige Annahme, aber der Magistrat ist ihm durch inzwischen gefaßte Beschlüsse schon zuvorgekommen. Danach begann die große Debatte über die Straßenbahnunsäll«, deren auf- fällige Häufung die Bevölkerung immer stärker be- ii n r u h i g t. Den Rednern der Deutschen Volkspartei, der Deutsch - nationalen und der Kommunisten antwortete Oberbürgermeister D ö ß mit einer eingehenden Erörterung der Aufgabe, die Berliner Verkehrsmittel den wachsenden Bedürfnissen anzupassen. Wegen vorgerückter Zeit mußte die weiter« Besprechung vertagt werden. Der sozialdemokratische Redner wird in der nächsten Sitzung zum Wort kommen.
Die gestrige Sitzung eröffnete der Vorsteher Gen. Haß um S.lS Uhr. Für den ausgeschiedenen Stadtv. Schwenck(Komm.) ist der früher« Stadtrat Stolt in die Versammlung eingetreten. Stadtschulrot Paulsen hat gegen seine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand Einspruch erhoben. Gen. Haß referierte sodann über den Vertrag, der zwischen dem Reichsosrband der Automobilindvstrie und der Gemeinnützigen Berliner Messe-Aufbau-Gesellschaft abgeschlossen werden soll, und über die Gewährung von 1 Million Goldmark Darlehn an den Reichsverbond, welches zur Fertigstellung der zweiten Radio-halle Verwendung finden soll. Der Ausschuß empfahl die Bewilligung von 2,1 Millionen Mark, da die Vollendung der Rundfunkhalle ein- stimmig als notwendig erkannt wurde. Stolt(Komm.) erklärte sich gegen den Vertrag. Fabian (Dnat.) bemängelte, daß bei Gründung der Messe-Gesellschaft die Verfannnlung nicht befrag! worden ist. Es fehle an jeder Sicher- stellung der städtischen Geidsr. Redner beantragt Zurückverweisung an den Ausschuß. Oberbürgermeister B ö ß: Die Voraussetzungen des Vorredners find irrtümlich. Erst im Sommer 1923, als die Bersamitilung nicht arbeitsfähig war, gewann der Bau der Zentrale des Rundfunk- wesens Bedeutung, es kam alles darauf an. daß dies« Zentrale ist Berlin errichtet wurde. Da war auch der Moment gekommen, die Satzung der Messe-Aufbau-Gesellschaft so umzugestalten, daß d i e St« dt den maßgebenden Einfluß bekam, und das ist geschehen. Der Magistrat mußt« handeln, und das Ergebnis liegt der Versammlung zur Beschlußfassung vor. D«» Bau jetzt liegen zu lassen, ist unmöglich! er ist von der Stadt mich im Ein- vernehmen mit dem Reiche und der Reichsposwerwaltung betrieben worden. Fabian stellt« fest, daß eine Magistratsoorlage wegen Bewilligung dieser Gelder bis zur Stunde nicht an die Versamm- lung gekommen sei. Der Magistrat tue eben, was er wolle. Der Bau der Anlage sei auf Grund eines Preisausschreibens erfolgt, also sei der Plan längst vor dem letzten Sommer vorhanden ge- wesen. Di« Zurückverweisung wurde in namentlicher Abstim- mung mit 113 gegen 47 Stimmen abgelehnt, ebenso ein An- trag der Deutschnationalen, wonach die Versammlung die Verant- Wartung für die Beteiligung der Stadt an der Messe-Aufbau-Ge- fcllschaft und für die Hergabe der Gelder für die Radiohalle ab- zulehnen erklären soll. Der Ausschußantrag wurde mit dem von Caspari beantragten Zusatz„aus Vorbehaltsmitteln" mit großer Mehrheit angenommen. Vom 30. September dotiert der Antrag unserer Genossen, den Magistrat zu ersuchen, im Aufsichtsrat der Gesellschaften für.die
Gas- und Elektrizitätswerke dahin zu wirken, daß die gleichzeitig mit der Herabsetzung des Gas- und Elektrizitätspreiscs beabsichtigte ' Wiedereinführung der Gasmessermiete und Reueinführung einer Elektrizitätszählermiet« unterbleibt, da sie eine u�ibillig« Mehrbelastung besonders der Kleinverbraucher darstellt. Die Mindestmiet« pro Gasmesser und Monat soll 40 Pf. betrogen. Gen. Großmann führte aus, daß für die Kleinverbraucher bei Einführung einer solchen Gosmesjermiete nicht eine Verbilligung des Gaspreises, sondern eine.Verteuerung eintreten würde. Das sei natürlich ein unlialtbarer Zustand! der Magistrat müsse mit größter Beschleunigung eingreifen, um diese Mehr- belaswng rückgängig zu machan. Von den Demokraten ist am 2. Oktober folgender Antrag ein- gebracht worden!„Der Versammlung bedauert, daß trotz des ein- stimmigen Beschlusses vom 18. September d. I. in den meisten Bezirken eine Besserung der skandalösen Straßenbeleuchtung nach nicht eingetreten ist. Sie ersucht den Magistrat, in der nächsten Sitzung über das Veranlaßt« eingehenden Bericht zu erstatten." Prenzel(Dein.) gab die Begründung. Dem Wunsch« unsc- rcr Genossen, auf die Easmessermiete zu verzichten, trat er ent- schieden entgegen. Die Werke müßten innerlich gekräftigt werden, sonst hätte am Schluß gerade der Kleinabnehmer den Nachteil.— Stadtrat Gen. S chl i cht i ng: Di« Gasmesiermiete ist nichts neues, sondern bestand schon vor dem Kriege.(Zurufe: ober sie war billiger!) Wir können nur etappenweise vorgehen. Am Diens- tag werden die maßgebenden Stellen nochmals über die ganze Frage in Beratung treten.— Oberbürgermeister B ö ß: Der Magistrat Hot bereits beschlossen, 2H- Millionen Mark zur Verfügung zu. stelle»! damii bleiben noch 200 000 M. übrig, um über die seinerzeit verlangten zwei Drittel hinaus die Straßenbeleuchiung zu verbessern. In zahlreichen Bezirken sind wir schon jetzt über diese zwei Dreittel hinausgegangen.— Kröpelin <D. Vp.)! Die Verbilligung des Gases macht auf uns gor keinen Eindruck, so lange nicht auch die Hälfte der Werksdirek- toren mit ihren Gehältern von 48 000, 36 000 usw. Mark verbilligt wird.— Fabian(Dnat.): Die Rede des Vor- redners war fast nur auf Unrichtigkeiten aufgebaut(Heiterkeit und Unruhe): sie war eine politische Rede, die die Interessen der Stadt direkt schädigte.— Ostrowski(Komm.)- Die arbeitende Be- völkermrg ist der größte Gasverbraucher. Jeder Gaskoirfument muß den Zähler unentgeltlich erhalten. Wir stimmen für den foz.- teni. Antrag.(Beifallh— Reck er(Ztr.) hielt dafür, daß nach ollem Vorgetragenen der Aufsichtsrat sich mit der Frage nochmals und unter stärkerer Beachtung der sozialen Rück- sichten beschäftigen muß.— Gen. Dr. Weys stellte mit Befriedigung die günstige Aufnahme unseres Antrages fest, der mit „Politik" nichts zu wn habe. Auch bei dem jetzigen Betriebe der stodlischen Werke dürfe der soziale Gesichtspunkt nicht außer Acht bleiben. Mit den Zahlen des Oberbürgermeisters über die Beleuchtung könne man alles beweisen. In den Proletarier- vierteln lasse die Beleuchtung der Straßen nach wie vor fast alles zu wünschen übrig. Nach Annahme der Anträge müsse schnell- stens dafür geforgr werden, daß die Belieichiung vermehrt und der Gaspreis Effektiv verbilligt wird. Im Schlußwort zum Antrag Ixtr. die Straßenbeleuchtung trat Dr. Meper(Dem.) dem Ober- bürgermeister scharf entgegen, dessen Erklärungen seine Fraktion absolut nicht befriedigt hätten. Der bisherige Zustand verdiene noch wie vor dos Prädikat skandalös.— Gen. Großmoun rechnete im Schlußwort für den, Antrag Heimonn mit Fabian ob und stinunte auch seinerseits der Verurteilung zu, die die Haltung des Magistrats in Sachen der Straßenbeleuchtung erfahren habe, indem er noch besonders auf die wackifende lln- ficherheit der nördlichen und östlichen Bezirke hinwies. Mit sehr großer Mehrheit nahm die Versammlung den Antrag Hei mann mit einem Zu- satz des Zentrums a n, wonach die Qualität des Gases wieder auf den Friedensstand gebracht werden soll. Auch der A n t r a g der Demokraten fand eine große Mehrheit. Um%9 Uhr trat die Versammlung in die Erörterung der An- fragen der Deutschen Volkspartei und der Kommunisten und des Antrages der Deutschnationalen betr. die Berliner Verkehrs- Verhältnisse und die
Unfälle im Betriebe der Berliner Straßenbahn. Die Anfragen wurden von v. Eynern(D. vp.) und Seil- heim(Kamm.) begründet. Letzterer verlangte übereinstimmend mit dem, was im Landtage van dem Kommunisten Paul Hoffmann vertreten wurde, für die Straßenbahnangestellten höheren Lohn und kürzer« Arbeitszeit und machte die Betriebs-G. m. b. H. für die erschreckend anwachsende Zahl der Unfälle verantwortlich. Für den Antrag der Deutsch notiona'en, der den Magistrat und dt: Berkehes- Polizei gleichzeitig zur sofortigen Abstellung der nachgewiesenen Mißstände auffordert, gab Dr. Steiniger die Bcgründ'.'ng. Die Frage fei keine Straßenbahn-, sondern eine Bcrkehrssrag«. Die Zahl der Unfälle sei in letzter Zeit außergewöhnlich hoch gestiegen. Die Fahrer und Schaffner würden sehr stark in Anspruch genommen, während die Direktion«ine Ueber schreitung des Neunstundentages leugne: dieser Widerspruch tu ü sie aufgeklärt werden. Die Fahrgeschwindig. keit sei von 13 auf 14 Kilometer erhöht worden: bei den beutigen, Verkehrsverhältnisisn s«! es fraglicb. ob die Angestellten die nötige Zeit zum Ausruhen bebielten."Es müsi« auch genau geprüft werden, ob unter dem Personal nur 15 Proz. neu« Kräfte seien, wie die Direktion behaupte. Jetzt müsse gebaut werden, und eine Menge Straßen seien aufgerissen, wodurch der so ungemein gesteigerte Gesamtverkehr schwersten Schaden leide. Di« Leipziger Straße und das Innere Berlins können die Straßenbahnen nicht entbehren: die Abhilfe müsie man also aus anderem Wege zu er- reichen streben:«her wäre«ine Sperrung der Leipziger und der König st roß« für Automobile und Auto- b u s s c in Betracht zu ziehen. Oberbürgermeister B ö ß: Die Unfallziffer Hai gegen 1914 um 25 proz. zugenommen. Das Personal darf selbstredend nicht überanstrengt werden. Aber die Lerkehrsverhöltnisse selbst haben sich grundlegend verändert, und wir haben 1924 wieder den Umfang des Friedcnserkehrs erreicht, während Autobusse und Straßenbahn gegen 1914 quantitativ und quali- tativ zurückstehen. Es wird nichts übrigbleiben, als zunächst den P fe r d c b e t ri« b aus den Hauptstraßen ganz oder z e> t w e i s e z u e n t f« r n e n. In absehbarer Zeit ist es anderer- seit? unmöglich, die Straßenbahn aus dem Innern zu verbannen. aber«ine Periinzerung der die innere Stadt passierenden Linienzahl ist ins Aug« zu fassen und zum Teil schon begonnen. Das Untergrund- bohnfystem wird auszudehnen, der Berkehr auf den vorhandenen Linien zu vervollkommnen sein. Die Projekt« der Hochbahn müssen wieder aufgei ommen werden. Nach dieser Rede vertagt« sich die Versammlung gegen>110 Uhr
Wie lange noch...? Auf Straßen und Plätzen Berlins sieht man augenblicklich den krassesten Aberglauben ausgebreitet, könnt« man sagen, und an den Säulen liest man Ankündigungen von allerlei Humbukveranftoltun- gen, daß es ein Skandal ist. Bor ein paar Wochen hat in Berlin der Kongreß der Astrologen geragt, d:r Kongreß jener verstiegenen Phantasten, die aus den Sternen die Schicksale der Maische!! prophezeien und auch sonst melen Unfug treiben. Dieser Kongreß scheint geradezu verheerend gewirkt zu haben. An allen Straßenecken stehen nun die„Sterndeuter" mit Tabellen und Tafeln, losten sich vom Publikum das Datum der Geburt jagen, machen mit geheimnisvoller Miene lange Rechencxempel und prophe- zeien dann die Zukunft. Und die Menschen drängen sich um diese Wahrsager, opfern ihr gutes Geld und erhalten Blödsinn. Der Bcr - nünftige geht an diesen Scharlatanen vorüber und tut das alles mir lächelnder Geste ab. Man darf sich ober nicht über die Gefahr täuschen, die von diesen Pre.pheten ausgeht. Es genügt, daran zu erinnern, wie viel Unheil und Selbstmorde die Kartenlegerinnen auf dem Gewissen haben, und mil Beklemmung fragt man sich, wie lange sich denn das Publiklim diesen groben Unfug gefallen lassen wird. Hand in Hand mit diesen gefährlichen Propheten gehen allerlei Veranstalrungen in Sälen, die ebenfalls auf die Dummheit der Mensch:» und, wie es scheint, mit Erfolg spekulieren. So liest man zum Beispile auf Plakaten an den Säulen dieses:„Diagnosen- stellungsadende für Kranke und nervös Belastele durch die hell fühlende Erkenntnis! Persönlich, aus Schriftproben und auf telepathischem Wag! Heilwege der Wort- und Ton- Wissenschaft!" Es braucht gewiß nicht besonders darauf hin- gewiesen iverdcn, wie besonders gefährlich gerade solch: Beranstal-
Die Familie Frank. X Roman von Martin Andersen Rexö. Madam Frank begann, unruhig zu werden. Sie hatte keine Uhr, seit ihr Mann mit der alten silbernen verschwunden war: aber die Zeit mahnte: es war gewiß schon spät, sie dachte an das Mittagessen für Thorvald. Kurz darauf begann draußen der Hütejunge zu jodeln, und die Kühe, die sich rings in den Vertiefungen der Grenzmark und im Erlengebüsch draußen am Moor verstreut hatten, tauchten aus ihrem Ver- steck auf und strebten von allen Seiten der Stadt zu. Also war es halb zwölf, und sie mußte Speck braten und die Milch mit Klößen bis zwölf Uhr fertig haben! Jösses, wie einem die Zeit fortrannte! Und war das Essen nicht rechtzeitig fertig, so redete er darüber. Aber sie blieb schwer im Stuhl sitzen: es lag jetzt etwas fast Unüberwindliches darin, ausstehn und in die Küche gehen zu sollen. Jeden Augenblick beschloh sie, jetzt solle es ernst fein, aber dann glitten die Gedanken ab, und sie sank wieder zurück. Erst als sie Thorvalds bekannte Schritte drüben auf der Straße hörte, nahm sie sich zusammen und lief schnell in die Küche. , Thorvald, der in dieser Zeit im Hafen Ziegelsteine aus- laden half, hatte den ganzen Vormittag unten im Schiffsraum gestanden und Ziegelsteine, vier auf einmal, einem anderen auf Deck zugeworfen, der sie auffing und weiter beförderte. Es war harte Arbeit, und er war gehörig abgehetzt, aber unge- heuer mit sich zufrieden. Doch als er hereinkam und sah, daß nichts zu essen auf dem Tisch stand, nahm sein Gesicht einen ärgerlichen Ausdruck an. Madam Frank war gleichfalls ärgerlich. Im Grunde auf sich selbst, weil sie sich nicht beizeiten ans Kochen gemacht hatte: als sie jedoch seine Miene sah und sich dachte, daß er schelten werde, kehrte sich all ihr Aerger gegen ihn. „Du könntest dich doch wohl auch auf einen Holzstuhl setzen, wenn du so dreckig bist," sagte sie scharf. Thorvald stand auf wie ein Mann, der unnützen Zank aus dem Wege gehen will, und setzte sich auf einen Holzstuhl. „Kriegt man bald was zu essen?' fragte er mit anzüglicher Ruhe. Man! Gott steh' einem bei! Der grüne Junge spielte sich vuf den.Versorget heraus bloß weil et jeden Tag mit
einer Krone ankam. S i e hatte es in ihren guten Tagen sogar aus auf zwei Kronen täglich gebracht— ohne sich damit zu brüsten. Aber so waren die Mannsleute! Sie stemmte die Hände in die Hüften und lachte ihrem Sohn ins Gesicht. Ihre überlegene Art reizte Thorvald außerordentlich, aber er hatte sich vorgenommen, sich nicht mit der Mutter zu zanken. Lars hatte ihm diesen Nat gegeben, da nack) der Aeußerung seines Vaters alle Weiber so seien. Und darin waren die beiden Jungen einer Meinung, daß Jonas Paulsen die Frauen kenne. Er schwieg daher und begann, seine Finger zu unter- suchen, deren Spitzen ganz dünn geschlissen waren, so daß jede Pore aus einem Blutpünktchen bestand. Vor dem Abend würde das Fleisch blutig sein. Madam Frank hatte sich an fräs Mittagessen gemacht, ließ sich aber reichlich Zeit, während sie durch die offene Tür den Jungen im Auge behielt. Sie wußte recht gut, daß kein Finger diese Arbeit aushalten konnte, und hatte vor mehreren Tagen versprochen, ihm Lederfingerlinge zu nähen, aber es war nichts daraus geworden. Man konnte doch auch nicht überall sein! Bis zum Abend war kein Leder für die Finger beschafft, und er sagte kein Sterbenswörtchen, obwohl es ent- setzlich wehtat— sie kannte es von ihrem Waschen her, was es hieß, hautlos zu fein. Aber er steckte sie auch ordentlich hervor, um das Opferlamm zu spielen. Als ob das einen an- deren etwas anginge! Er konnte das Arbeiten ja sein lassen, wenn er es nicht vertragen konnte! „Hat man eine zu feine Haut?" fragte sie spöttisch. Das schlechte Gewissen brannte und stach sie, weil sie die Fingerlinge nicht genäht hatte, und sie grämte sich, weil sie es zulassen mußte, daß ein unkonfirmierter Junge für sie das tägliche Brot verdiente, und weil sie ihn vernachlässigt hatte. Und sie hatte das Bedürfnis, es wieder gutzumachen, sehnte sich danach, ihn in ihre Arme zu nehmen und zu liebkosen, und empfand bitteren Haß gegen ihn, weil sie sich nicht so weit überwinden konnte, es zu tun. In einem Atemzug wünschte sie alles Gute und alles Schlechte auf ihn herab: sie beschloß, ihr Unrecht ihm gegenüber aus der Welt zu schaffen, indem sie ihm in aller Geschwindigkeit einen Speckcierkuchen buk, und zugleich zögerte sie es hinaus, weil sie wußte, daß er nicht zu spat zur Arbeit konrmen durfte— zu der Arbeit, die ihr die Not fernhalten sollte. Indessen saß Thorvald in der Stube und wartete auf das
Essen. Er hatte ein paar alte Holzschnhoberleder gefunden und machte mit Hilfe seines Taschenmessers Hondfohlen dar- aus. Durch kleine Doppelschnitte hier und da wurden Strippen hergestellt, durch die man die Finger stecken konnte. Das Ganze war sehr einfach, und er probierte stolz seine Arbeit. Dann stand er auf und warf einen fragenden Blick in die Küche. Madam Frank tat, als oerstünde sie nichts, doch als er feinen Hut nahm, um zu gehen, bekam sie es plötzlich mit der Eile. „So wart' doch ein bißchen!" rief sie ihm nach.„Du brauchst doch nicht so zu jagen, es hat erst eben halb auf der Kirchenuhr geschlagen." „Ich will auch noch baden," sagte Thorvald mit etwas zitternder Stimme. „Willst du denn nichts essen?" „Ich irerd' schon was bei der Mutter vom Lars kriegen." „Bei Kirstine Paulsen— der Sau? Wohl bekomm's dir, mein Junge, ich werd' dir das Essen nicht mißgönnen. Ich wollte dir Eierkuchen machen, aber wenn du das Essen vor- ziehst, das Paulsens dir vorsetzen, mir soll's recht sein. Ich halte dich nicht." Doch als er gegangen war, brach sie in Tränen aus. Sie lief hinaus, hinters Haus, sah ihm noch und winkte. „Thorvald, Thorvald!" jammerte sie. Aus Furcht vor den anderen Frauen wagte sie nicht, laut zu rufen oder ganz zum Vorschein zu kommen. Thorvald ging. Er drehte sich nicht einmal um und chnitt ihr kein Gesicht wie in alten Zeiten, sondern er stellte ich gleichgültig und verschwand drüben in der Straße. Do etzte sie sich auf den Haublock und versank in düstere Ver- zweiflung über ihren eigenen bösen Sinn. Sie hatte geglaubt, daß allein das, wenn sie ihren Mann los wurde, Glück bedeuten würde, und nun bedeutete es nur einen leeren Platz im Haufe. Thorvald sollte ihn ausfüllen, er sollte Beschlag' legen auf ihren Drang, sich unterzuordnen, und ihren Drang, einem Höheren zu schmeicheln— dem Manne. Aber er war erst ein Junge: unter normalen Ver- Hältnissen würde sie ihm an physischer Kraft überlegen sein. Das stand, ohne daß sie es wußte, dem rechten Verhältnis im Wege: nötigenfalls würde er sie nicht beim Nacken nehmen können. Hinzu kam, daß sie zu sehr daran gewohnt war, sich aufzulehnen, und nicht gleich jonftereen Eingebungen zugänglich««. r Ootmrna folgt.)