Nr. 49$ ❖ 41. Jahrgang
7. Heilage ües vorwärts
Mittwoch, 22. Oktober 1924
Ueberroschend schnell haben Preußen und das Reich sich über die Frage der Eiiheits- kurzlchrift geeinigt. Jeder Stenograph, gan,; gleich, auf welches System er schwört, weiß, wie hart die einzelnen Systeme um die Vor- Herrschaft, um die Anerkennung als das brauchbarste gestritten haben. Wir wollen diesen Streit nicht erneut aufrollen, wenn mir unseren Lesern ein Bild von der neuen „Einheitskurzschrift " übermitteln, indem wir einig« Konsonanten und Schriftproben wieder- geben. Vom individualistischen Standpunkt aus ist es ganz gleichgültig, mit weicher Kurz- fchrift der einzeln« die best« Leistung er- reicht. Im Interesse des Zusammenarbeitens ober ist es sehr oft erwünscht, wenn alle Beteiligten dasselbe System beherrschen. Die neue Einheüskurzschrist ist ein fiom- promih zwischen den beiden Systemen, die die Mehrzahl der Stenographiebeflissenen auf sich vereinigen, zwischen Stolze-Schrey und Gabelsberger. Dabei ist aber doch ein fast völlig neues System entstanden, von dem wohl noch niemand sagen kann, ob es den auf seine Verwendbarkeil gesehten Er- Wartungen entsprechen wird. Die Stolze- Schreyaner haben z. B. das kreisrwrde„r" geopfert, das die Eabelsbergerianer in Grund und Boden verdammen. Es sind nun eine ganze Menge r-Konsonanzen, also Berbin- düngen von Mitlauten mit dem„r" ent- standen. Die Bokalbezeichnung ist grund- sätzlich nach Stolze-Schrey durchgeführt, aber auch hier sind einige Aenderungen zu ver- zeichnen. Die Gabelsbergenaner wollten durchaus nichts von der weiten e-Berbindung wissen, und die Stolzc-Schreyaner nichts von der bei Gabelsberger üblichen Wölbung des o. Als Kompromiß ist aus diesen Wider- sprllchen die weit« o-Wölbung entstanden. In der Reichs kurzschrift sind die in unserer Skizze einfach unterstrichener Zeichen von Gabelsberger, die wellig unterstrichenen von Stolze-Schrey übernommen. Die doppelt unterstrichenen Zeichen waren beiden Systemen eigen. All« anderen Buchstaben sind neu. Wenn die Behörden auf die Einführung dieser Kurzschrift in ihrem Dienstbetrieb dringen, so werden die bei ihnen Tätigen sie wohl oder übel lernen müsien. Die- jenigen Angehörigen der alten Generation aber, die irgendeines der vielen bestehenden Kurzschriftfysteme beherrschen, werden sich ohne Not wohl nicht mit der Erlernung der Einheitskurzschrift abgeben. Eicher werden es auch die Jünger der neuen Einheitskurzschrift zu schönen Lei- stungen bringen, und sie werden dies« Leistungen dann, genau so wie die Anhänger der anderen Systeme auch taten, als schla- genden Beweis dafür anführen, daß nur die Einhcitskurzschrift wert sei, gelernt zu werden.
Die neue üeutfthe ReichsturMrist.
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JC.S.F.
Die Zntersystemale kurzjchriftliche Arbeits- gemeinschafi Groß-Berlln hatte kürzlich«nach dem ehem. Herrenhaus zu einer Kundgebung gegen die deutsche Reichseinheitsstenogrvphie eingeladen. Die Gabelsbergersche Schule war ferngeblieben. Staatssekretär Genosse Heinrich Schulz war durch dringende anderweitige Verhandlungen verhindert. In einem Schrei- ben hatte er sich entschuldigt, was den Rednern und Anwesenden Veranlassung gab von „Kneifen" zu sprechen. Di« Hauptredner des Abends, Dr. Thoma, Geitner und Dr. Hase wandten sich entschieden gegen den Entwurf zur Einheit? st eno- g r a p h i e und nannten ihn ein totgeborenes Kind. Es wäre ein Unglück, wenn diese Schrift amtlich in den Schulen eingeführt würde. Statt eine Volkskurzfchrist einzu- führen, wolle man dem Bolke eine Schrift aufzwingen, die unlogisch aufgebaut und noch dazu schwer zu erlernen sei. Richtiger wäre es gewesen, wenn die Regierung von jedem der bekanntesten Systeme je einen Sachverständigen zu einem Ausschuß ver- einigt, einen oder auch mehrere Entwürfe hätte vorlegen lassen. Sie konnte die Grund- läge des Systems, ob vokalschreibend oder symbolisch, bestimmen. Dann wäre etwas ganz anderes herausgekommen. Nachdem olle Redner sich gegen den jetzigen Entwurf ausgesprochen hatten, wurde eine Resolution in diesem Sinne angenommen.
Es ist notwendig, noch etwas näher auf diese Kundgebung einzugehen. Bis jetzt haben die bürgerlichen Stenozrapheroerbände stets betont, sie seien„neutral und un- p o l t t i s ch". Das Gegenteil hat sich im ehe- maligen Herrenhaus gezeigt. Man glaubte im früheren Herrenhaus zu fein. Bielleicht hat auch der Bersammlungsraum abgefärbt. Was sich die Redner des Abends gegen un- feren Genossen Schulz leisteten, geht denn doch zu weit. Die Arbeiterstenographen waren nicht oertreten, sonst hätten sie gegen eine derartig« Verunglimpfung des Genosien Schulz zweifellos protestiert, auch soweit sie den Entwurf ablehnen: ober sie sind doch nicht so töricht, die Entstehung der Einheitskurzschrift nur ihm allein zuzu- schreiben. Hier sollte der Sozialist getrosten und lächerlich gemacht werden. In ironischer Weis« erklärte Dr. Hase:„Ich will es n'cht als ein Unglück betrachten, daß ihn die Revolution an die Oberfläche gespült lfot, aber für die Einheitsstenogrophie ist er ein Unglück." Dr. Thoma, ein Bayer, also verständlich, machte natürlich auch sehr an- zügliche Bemerkungen. Wem Gott ein Ämt gibt usw. Oder, was bei uns praktisch ist,
Wer die Schwierigkeiten kennt, die bei der Schaffung der Ein- heitskurzschrift zu überwinden warm, wird es begrüßen, daß endlich ein Entschluß gefaßt wurde. Bei den großen Gegensätzen, die
gerade auf dem Gebiete der Stenographie bestehen, war voraus- zusehen, daß der fertige Entwurf der Einheitskurzschrift zunächst auf geringe Freundschaft stoßen würde.
das hat er, H. Sch„ nicht m den Akten. Den Bogel schoß der früher auch in Arbeiterkreism bekannt« Reform- ftenograph D a h m s ab, der die Preußenregierung für die An- nahm« des Entwurfes deshalb verantwortlich machte, weil sie
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Als Bertram sich auf dem Untergrundbahnhof Kensington High Street auf dem Wege zu seines Vaters Haus in der Sloane Street eine Abendzeitung kaufte, erinnerte er sich, daß es auch noch andere Lebenstragödien gab als seine, und noch mehr Tote, als sein totgeborenes Kind. „Sechs Tote in Dublin . Ernst hafte Schießereien aus dem Hinterhalt. Neue Repressalien." So lauteten die Ueberschriften der ersten Seite, und Bertram wurde von diesen Zeilen so erschüttert, daß er die Einzelheiten schon nicht mehr las. Es waren doch immer die gleichen. Englische Offiziere, die von jungen Burschen in Zivil angeschossen und junge Iren, die aus ihren Betten ge- holt und von unbekannten Männern, die in Uniform gewesen sein sollen, kaltblütig erschossen werden. Irische Häuser, die die Soldaten niederbrennen, Ueberfälle, Bombenattentate, Durchsuchungen, der gewöhnliche tägliche Bericht vom irischen Aufstand, der ihm wegen der Halbheit seines Zugehörigkeits- aefühls von Mal zu Mal unerträglicher wurde. Er war halb Ire, halb Engländer, halb Demokrat, halb Tory, halb Pro- testant, halb Katholik, aber, wie er hoffte, wenigstens ein ganzer Christ. Er schlug die Zeitung auf, als er in der Bahn saß, und fand den Namen seines Vaters dick gedruckt auf der Mittelseite. „Große Rede des Herrn M i ch a e l P o lla r d K.C." „Verteidigt die R e g i e r u n g s p o liti k der Repressalien." Bertram zerknitterte die Zeitung und ließ sie neben seinen Sitz fallen. Für seinen Vater war das heute ein großer Abend. Er würde sich begeistern und„die absolute Notwendigkeit, diese Mörder mit der festen Hand der briti- schen Gerechtigkeit zu unterdrücken", verteidigen, und das alte Gesetz Moses „Aug' um Auge, Zahn um Zahn" anrufen, und diejenigen, die mit den Kronrebellen verhandeln wollten, als Leute, die sich mit Mördern die Hand schütteln, anprangern. Wenigstens würde der alte Herr bis spät in die Nacht im Parlament bleiben. Das war der einzige Trost. Er würde seine Mutter allein sprechen können, und einen heftigen Wortwechsel mit seinem Vater vermeiden, der ihn als Ver- räter am britischen Weltreich zu behandeln pflegte, ihn,
Bertram Pollard, Major und Führer einer Maschinengewehr- abteilung, ihn, der England leidenschaftlich liebte.--- „Mutter!" Sie war ihm bis in die Halle entgegengegangen. Bei dem Anblick ihrer kleinen Gestalt und ihres traurigen Ge- sichts rissen seine gequälten Nerven, die während des langen Wochenbettes stets so straff gespannt sein mußten, und er ließ seine Stirn auf ihre Schulter sinken und seine Augen füllten sich mit Tränen, wie in den alten Zeiten, wenn er zu den Ferien nach Hause kam oder wieder zur Schule abreisen mußte. „Mein armer Junge," sagte sie beruhigend,„ich verstehe schon... Das arme kleine Baby." Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn in ihr kleines Wohnzimmer und bat ihn, ihr über die Einzelheiten von Joyces Entbindung zu erzählen. „Joyces Entbindung, Mutter!" sagte er; aber sie schüttelte den Kopf: „Für feinnervige Männer ist es fast schlimmer als für uns. Die Qual des Wartens..." Er hatte seiner Mutter so viel zu erzählen, dieser kleinen Frau mit dem dünnen grauen Haar um das verwitterte Ge- ficht, aus dem ihn die guten braunen Augen so liebevoll an- sahen. Ihr hatte er als Knabe all seine Geheimnisse erzählt, all seine kleinen Sünden gebeichtet, und nie einen strengeren Verweis, als ein vorwurfsvolles„Aber Liebling!" emp- fangen. Sie hatte ihn verwöhnt, wie sie alle verwöhnt hatte, Dorothea, Susanna, den kleinen Digby und ihn selbst. Ihre kleinen Dummheiten und ausgelasienen Streiche hatte sie vor dem raschen und zornigen Temperament ihres Vaters in Schutz genommen, vor seiner irischen Ungeduld und altmodi- schen protestanttschen Unduldsamkeit— er war Südirländer, aber Protestant. Sie hatte für ih« Kinder sogar geflunkert, und sie liebten sie deshalb und nützten ihre Furcht vor dem „alten Herrn" und seinen Wutanfä'llen nach Kräften aus. Die Kinder hatten niemals so viel Furcht vor ihm, wie sie. Schon als sie klein warni, hatten sie sich gegen ihn auf- gelehnt Dorothea war stets am rebellischsten gewesen, schon lange bevor sie einen preußischen Offizier, den sie 1912 in Wiesbaden kennengelernt hatte, heiratete.. Schon damals flüsterte man von einem Kriege mit Deutschland — aber Dorothea hatte diese Gerüchte verlacht und sich wie alle die- jenigen/ die sich nicht mit internationaler Politik beschäftigten, nicht um sie gekümmert. Diese Heirat war ihre letzte Aus- lehmmg gewesen. Michael Pollard, K. C. M. P-, hatte sich
seine Tochter aus Seele und Herz gerissen. Ihretwegen haßte er„die Hunnen" nur um so mehr. Und Susanna? Es machte ihr Freude, den Zorn des „Ogers "— so nannte sie ihn— aufzureizen. Ihr wurde es nicht überdrüssig, mit immer neuen Kämpfen ihr Recht auf ein Frühstück im Bett aufrechtzuerhalten, welches er als den liederlichen Instinkt ihres verwilderten irischen Blutes be- zeichnete.„Auch deines Blutes, folglich kann ich nichts da- für," war ihre beständige Antwort auf diesen Vorwurf ge- wefen. Worauf dann der„alte Herr" zurückzugeben pflegte: „Soviel ich weiß, ist ja das Normannische darin stärker als das Keltische." Sie hatte sich über seine protestantische Einfachheit lustig gemacht, seine väterlichen Befehle als frühvicrorianische Tyrannei verlacht, und war mit freudigem Einstehen für die „Freiheit", die für sie späte Tanzvergnügungen und die „Notes for Women" bedeutete, zur Suffragette geworden, als Michael Pollard M. P. M., aber noch nicht K. C., ein heftiger Gegner der �rauenstage war. Bei diesen häuslichen Szenen hatte Bertram stets Su- sannes Partei ergriffen. Aber seine Lieblingsschwester und sein bester Kamerad war Dorothea. Ihre deutsche Heirat, das lange Schweigen und Abgeschnittensein während des Krieges hatten in seinem Herzen einen Riß verursacht. Jetzt sprach er von ihr:„Hast du wieder einmal von Dolly Nachricht gehabt?" Frau Pollard blickte ängstlich nach der Tür und zog ein paar Briefe aus ihrem Handtäschchen:„Vater weiß nicht, daß wir uns schreiben. Du weißt doch, er hat jede Verbin- dung mit ihr verboten." „Blödiinn!" sagte Bertram. Die Mutter gestand, daß sie es eigentlich unrecht fände, ein Geheimnis vor dem Vater zu haben, aber von ihrer Erst- geborenen getrennt zu sein, war mehr, als sie ertragen konnte. „Sie schreibt so lieb wie immer. Ihre Heirat und der Krieg haben nichts an ihr geändert, außer, daß sie Deutsch- land ein bißchen verteidigt." Bertram lächelte:„Ich glaube, das ist so ganz natürlich." Er schwieg einen Augenblick und fragte dann nach seiner anderen Schwester.„Und was ist Susannes neueste Leiden- schaft?" Frau Pollard machte ein bekümmertes Gesicht und blickte wiederum ängstlich nach der Tür, als ob sie jeden Augenblick das Eintreten ihres Gatten fürchtete. (Fortsetzung folgt.)