Einzelbild herunterladen
 

Nr. 510+ 41. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Wahlreden im Rathaus.

Neuwahlen auch für die Berliner Stadtverordnetenversammlung?

Das von Bürgerlichen und Kommunisten wiederholt ge äußerte Verlangen nach Auflösung der Berliner Stadt verordnetenversammlung ist aus Anlaß der bevorstehen den Reichstagswahlen erneuert worden. Diesmal haben neben den Kommunisten auch die Demokraten einen dahingehenden Antrag eingereicht, während bisher gerade die Demokraten sich stets gegen die Auflösung erklärt hatten. Es verstand sich von selber, daß in der gestrigen Stadtverordnetensitzung die Begründung dieser An­träge dazu benutzt wurde, schwungvolle Wahlreden zu halten. Der Kommunist Dörr erzählte von den Wahlerfolgen, die die KPD. sich verspricht. In seiner bekannten Art nahm er den Mund reichlich voll, aber ein Unterton der Besorgnis flang doch durch. Der Deutschnationale Roch wetteiferte mit ihn in demagogischen Tiraden. Beiden antwortete unser Genoffe Rei mann in einer sehr wirksamen. Rede. Mit den Kommunisten rechnete er so ab, wie diese Maulhelden es längst verdient hatten. Er stellte ihnen in Aussicht, daß den Wählern mit aller nur mög. lichen Deutlichkeit gezeigt werden soll, wie die Kommunisten im Berliner Rathaus nicht das geringste von einer positiven Leistung zustande gebracht haben. Zu den Erfolgen", deren sie sich rühmen" fönnen, gehört die jezige bürgerliche Mehrheit des Magistrats. Ihnen ist vor allem auch zu danken, daß der Bürgermeisterposten jegt mit einem Bürgerlichen besetzt ist. Die Auflösungsanträge der Kommunisten und der Demokraten haben trotz Unterstützung durch die Deutschaationalen feine Aussicht auf Annahme. Die Abstimmung wurde auf die nächste Sigung verschoben.

In der gestrigen außerordentlichen Sigung, die furz nachy 6 Uhr unter dem Borfiz des Gen. Haß begann, hatten die noch unerledig­ten Anträge aus der Versammlung den Vorrang. Nachdem ohne Aussprache die Dringlichkeitsvorlage des Magistrats genehmigt wor­den war, die den Betrag für die

Zuwendung von Brennmaterial an Unbemittelte von 188 000 auf 1,2 Mill. M. erhöhen will, um u. a. Ausge­steuerten oder nicht unterstützungsberechtigten im Notfalle beizu springen, fam zunächst der Antrag der Wirtsch. Partei vom 17. Sep­tember zur Verhandlung, wonach sofort mit dem Polizeipräsidenten über Einschränkung des" wilden" Straßenhandels, Unter. fagung der Ansammlung von Straßenhändlern in einzelnen Straßen, und Rückkehr zum 3wange des Betriebes im 11 mherziehen ins Benehmen getreten werden soll. Der Begründer Berichte malte natürliá grau in grau; er fieht den feßhaften Handel bereits ruiniert und die Markthallen verödet, wenn diesem unlauteren Wettbewerb" nicht schleunigst ein Ende bereitet wird. Rintorf ( Komm.) lehnte den Antrag rundweg ab; die Straßenhändler würden gewiß, wenn es ihnen möglich wäre, einen anderen Weg wähien, um ehrlich ihren Lebensunterhalt zu erwerben. Gen Reimann unterstrich diese Auffassung. Gewiß hätten sich Mißstände heraus. gebildet, aber es sei doch schon viel gebessert, und zudem unterliege doch ohnehin der Straßenhandel der polizeilichen Genehmigung. Bee einem unlauteren Wettbewerb" fönne vollends nicht die Rede fein. Nach der Meinung der Sozialdemokraten müßte dem einzelnen Straßenhändler sein Stand garantiert werden, das herbeizuführen sei Aufgabe der Verkehrspolizei, und damit wäre beiden Teilen ge= holfen. Jedenfalls sollte man dem gefunden Straßenhandel und die ganz überwiegende Mehrzahl der Händler gehöre dazu unter unter ollen Umständen sein Recht gewährleisten. Die Sozialdemokraten lehnen somit gleichfalls den Antrag ab.- Linfo( Dnatl.) plädierte für Ausschußberatung; Schwien( D. Bp.) regte sich gleich dem Antragsteller über den wilden" Straßenhandel mächtig auf. Bei der Abstimmung fiel( die rechte Seite des Saales mies Lüden auf) der Antrag auf Ausschußberatung und dann der Antrag selbst.­Das gleiche Schicksal traf den Antrag der D. Bp., den, Magistrat zu

11]

-

Der Mittelweg.

Bon Sir Philip Gibbs .

-

,, Was tun Sie hier?" fragte Bertram und berührte feinen Arm. Lord Ottery starrte ihn zerstreut an, als ob er über­legte, wer zum Teufel das sein könnte, dann aber begrüßte er ihn herzlich.

,, Alch, Du bist's, Bertram. Dacht' schon, es wär' einer von den Offizieren a. D., die einen um' nen halben Sovereign erleichtern möchten. Warum, zum Teufel, meldest Du Dich nicht nach Irland zu den Schwarz- Gelben? Wär' nüßlicher, als hier ohne Beschäftigung herumzulungern."

Bertram behielt seine fezerischen Ansichten über diesen Gegenstand für sich und wiederholte seine Frage.

Lord Ottery ticherte und offenbarte ihm dann ein Ge­heimnis. Er besah sich die Läden, um seine Garderobe aufzu frischen. Er hatte nämlich entdeckt, daß er ausgezeichnete Sachen fertig bekommen fönnte, statt seinem Schneider das Sechsfache dafür zu zahlen. Zwei Hausanzüge hatte er schon gekauft, die saßen wie angegossen, nur zwei kleine Aenderun gen waren nötig gewesen. Ja, auch einen Laden im Totten ham Court Road hatte er entdeckt, wo er erstklassige Stiefel fürs Land faufen fonnte, ganze zwei Pfund billiger als bei feinem Schuhmacher.

Ja, einstens hätte er bei dem Gedanken, fertig getaufte Sachen zu tragen, geschaudert. In früherer Zeit, noch unter der Königin Bittoria, da war er ein echter Stutzer gewesen, der dasselbe Paar Beinkleider nicht zweimal in derselben Woche angezogen, oder eine Krawatte mehr als einmal ge­tragen hätte. Aber jetzt war es soweit gekommen, daß Spar. samkeit an der Tagesordnung war. Und was schadete es auch? Mit solchen erprefferischen Steuern, solchen dividenden­losen Papieren und drückenden Grundbesigsteuern fämen Leute feines Schlages bald dazu, für einander die Wäsche zu waschen. Aber zu weit durfte er mit der Sparsamteit in der Gar­derobe auch nicht gehen. Da mar ihm neulich eine peinliche Geschichte passiert. Er hatte bei einem Kleiderjuden einen prachtvollen Ueberzieher eingehandelt, schon etwas getragen, aber mit Astrachanfragen, Seidenfutter, ein wahrer Fund­für zwölf Sovereigns. Bei seinem Schneider hätte er 42 be­zahlen müssen. Aber als er ihn gerade an seinem Play in der Borhalle des Herrenhauses aufhängt, kommt da nicht der alte Banthord dazu und schreit: Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht mein alter Ueberzieher ist! Da ist ja noch das Loch drin, da über dem dritten Knopf, das ich mit meiner Bigarre hineingebrannt hatte."

ersuchen, bei unbebauten Grundstüden von der Nachforderung der durch die Beschlüsse zum Haushalt erhöhten Zuschläge zur Grundvermögenssteuer für die Zeit vom 1. April bis 1. Oktober 1924 Abstand zu nehmen. Herr Hallensleben stieß bei fast die Unfuſt unserer Genossen fest, den Grundbesigern auf Kosten allen Fraktionen auf Widerspruch; audy Gen. Dr. Lohmann stellte der Allgemeinheit ein neues Geschenk zu machen. Darauf wandte fich die Versammlung den beiden Anträgen zu, die von den Demo traten und den Kommunist en eingebracht sind, um die

-

O

mittwoch, 29. Oktober 1924

Herrn Dörr und Herrn Stolt, die auf dem Gebiete der Wohnungs­beschaffung eigentümlichen Machenschaften nicht fern gestanden hätten, sehr schlecht zu Gesicht. Den Wählern werde seitens der Sozial­demokratie klar gemacht werden, daß die Schuld dafür, daß der Magistrat jetzt eine bürgerliche Mehrheit hat und daß ihm Herr Scholz. angehört, bei den kommunisten liegt. Man scheue den Kampf mit den Kommunisten nicht, im Gegenteil. Den Deutschnationalen neide die Sozialdemokratie die Bundesgenossenschaft der Kommunisten nicht. Die Sozialdemokratie wünsche die Verquickung der Wahlen nicht; für sie arbeite die Zeit.( Lebhafter Beifall bei den Soz.) Müller- Franken von den Wirtschaftlern hielt den Demo­fraten vor, daß ihr Antrag alles sci, nur nicht demokratisch. Für getreten, aber Stadtverordnetenpolitik könne in allgemeinen politischen die Auflösung sei die Wirtschaftspertei von allem Anfang an ein­Wahlen nicht gemacht werden. angebrachtermaßen abzulehnen. Die Auflösungsanträge feien also angebrachtermaßen abzulehnen. In diesem Zusammenhang hielt es der Redner für angezeigt, seine Feindschaft gegen den ( Komm.) unter temperamentvollster Assistenz seiner Fraktion gegen Achtstunden tag ausführlich zu dokumentieren. Damit schloß die Aussprache. Im Schlußwort ging Go B Reimann mit heftigen Ausfällen vor und es gelang ihm beinahe, in dieser Beziehung Herrn Dörr auszustechen. Die Abstimmung wurde auf Donnerstag 7 Uhr verschoben. Die Bersammlung befaßte fich dann nur noch mit dem

-

Ausscheiden des Kommuniffen Stolt

die Frage in öffentlicher Sigung zu besprechen beantragt. Er suchte aus seinem Amte als besoldeter Stadtrat. Herr Stolt selbst hatte an dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts, das ihn hauptsächlich wegen der Aeußerung Rinder, geht stehlen!" zur Dienstentlassung als Tendenzurteil hinzustellen. In der Erwerbslosenfürsorge habe er und zur Tragung der Kosten verurteilt hat, Krit zu üben und es einen sog. Leunakämpfer: unterstützt, der bei der Polizei nicht an­gemeldet war; in dieser Handlungsweise eines Beamten, einem Ver­brecher zu helfen, liege für das Gericht der entscheidende Grund für das Urteil. Diese Instanz sei ja dazu da, als Instrument der Fraktion halte ihm nach wie vor für durchaus geeignet zu ihrem Ber­Staatsmaschine jede Opposition zu unterdrücken. Die Kommunistische treter; die Versammlung solle die Kenntnisnahme und die bezüglich Bortage ablehnen.

Auch die Abstimmung hierüber wird Donnerstag stattfinden. Die Siedlungsaufgaben der Stadtgemeinde.

In der Berliner Stadtverordnetenverfamnifung richtete die fozialdemokratische Fraktion an den Magi strat folgende Anfrage, die ihr auf eine Pflicht der Gemeinden hinweiſt:

und Neuwahlen am Tage der Reichstags- und Landtagswahl herbei­Auflösung der Stadtverordnetenversammlung zuführen. Für die Dem. sprach Dr. Michaelis, der an sach­lichen" Gründen die Arbeitsunfähigkeit der Versammlung ins Feld führen konnte und diese aus den unsicheren Verkehrsverhält nissen herleitete; ihm sei oft geradezu unheimlich geworden, wenn er wahrnahm, wie die Versammlung bei ihren Entscheidungen einer Schaufel geglichen habe!- Den Antrag der Kommunisten vertrat Bersammlung neu gewählt wiffen wollen, führte er darauf zurück, Dörr. Daß gerade auch die Demokraten zum 7. Dezember die daß die Demokraten die Konjunktur zu diesem Zeitpunkt als für ihre Wahlaussichten sehr günstig ansehen. Dann goß er, wie man ja nicht anders erwarten fonnte, die ganze Scale feines 3ornes und noch eiwas darüber über die Sozialdemokratie aus, die sich in allen ihrce fommunalen Taten als würdiger Bestandteil der einheitlichen recttionären Masse" erwiesen habe. Stadtrat Richter trug die fachlichen und technischen Bedenken vor, die einer Neuwahl am 7. Dezember enigegenstehen. Schon die Aufstellung der Wählerlisten und ihrer möglichen Rückwirkung auf die kommunalen Wahlen würde angesichts der Abänderungen des preußischen Wahlgefehes einen so frühen Termin kaum gestatten. Koch( Dnatl.): Wir tönnen doch nicht so lange warten, bis der Reichspräsident neu gewählt wird( Heiterfeit). Die Anträge zeigen, daß inan sich doch allmählich auf den Weg der Bernunft begibt.( Erneute Heiterfeit.) Zuerst standen wir mit der Forderung der Auflösung allein; den ersten Schritt zur Bernunft machten nach uns die Kommunisten ( Bachen), dann folgte die D. Bp., jetzt auch die Demokraten. Das Zentrum wird ja nicht mitmachen und von den Soz. wird man Schritte zur Vernunft nicht erwarten.( Gelächter.)- Dr. Caspari ( D. Bp.): Aus den heutigen Verhandlungen wird die Bürgerschaft hoffentlich lernen, daß man in diese Versammlung Leute schicken In einem Erlaß des Breußischen Ministers für Volkswohlfahrt muß. die es mit ihr und mit sich selbst ernst nehmen und nicht so Dom 12. September 1924 wird darauf hingewiesen, daß die Ge­bedeutsame Sachen scherzhaft behandeln oder Wahlreden halten. meinden auf Grund des§ 4 des Preußischen Ausführungs­( Lebhafter Widerspruch und Lachen bei den Komm.) Aus der gefeges zum Reichsheimstättengeseh Ortsfagungen erlassen Auflösung, wolle der Redner feine politische Frage gemacht wiffen. fönnen, durch welche Landflächen zu heimstätten Auffällig fand er, daß ausgerechnet Herr Dr. Michaelis das Gleichgebieten erflärt werden. Was gedenkt der Magistrat zu nis von der Schaufel gebraucht habe; das Schwanken der Versamm. tun, um baldmöglichst die durch den Erlaß gegebenen Anregungen lung bei ihren Beschlüssen habe doch nur zu oft daran gelegen, daß zu verwirklichen?" bald Herr Merten, bald Frau Deutsch in der Dem. Frattion den Ausschlag gegeben habe. Es könne nichts dabei herauskommen, am 7. Dezember diese Neuwahl als Schwanz den Reichstags und Landtagswahlen anzuhängen. Gen. Reimann stellte fest, daß auch die Haltung der Deutschnationalen in diefer Frage nicht immer einheitlich gewesen ist und berief fich dafür auf eine Rede des Kochschen Fraktionsgenoffen Lüdide im Landtage. Wenn man die Versammlung und ihre Leistungen hier schlecht made, so sei fie in Wirklichkeit besser als ihr Ruf. Nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch die Parteien der Rechten wüßten ganz genau, welches Riefenmaß von Arbeit und unter wie schwierigen Verhältnissen es zu bewältigen gelte und daß diese Arbeit sich auch im Vergleich mit den Leistungen der Barla mente sich sehr wohl sehen lassen könne. Also etwas mehr Selbst­achtung! Mit dem Ausfall auf die Billa , die sich Stadtrat Wutzky in Rudow gebaut habe, werde Herr Koch feine Geschäfte machen. Der fozialistische" Magiftrat, auf den man immer losgehadt habe, bestehe nicht mehr; jeht möge der in feiner Mehrheit bürgerliche Magiftrat

-

zeigen, ob er Befferes leiften fönne als der sozialistische. Die Ausfälle des Herrn Dörr gegen Stadtrat Wuzfn ständen gerade

,, Natürlich mußte ich ihm erklären, wo ich ihn gekauft hatte, und er lachte, bis ich dachte, der Schlag würde ihn sühren. Aber das Beste an der Geschichte ist, daß er selbst einen fertiggetauften Anzug trug, er selbst hat mir den Laden hier in Charing Croß Road empfohlen. Eine Menge von uns tut das jetzt."

Bertram lachte und erfreute sich so sehr an dem Spaß, wie es einem jungen Mann, der zwar noch nicht bis zu, ab­gelegten Sachen" gesunken ist, seinem Schneider aber un­angenehm viel Geld schuldet, nur möglich ist.

,, Die Zeiten werden immer schlechter," bemerkte er. Lord Ottery blieb mitten auf dem Trafalgar Square stehen und deutete mit seinem Stock nach dem Turm von Westminster.

,, Dort steckt das Malheur," sagte er. Diese Leute im Unterhaus haben sich dem Teufel verkauft. Denten nicht ans Baterland, sondern nur, wie sie ihre Stimmen und Aemter behalten fönnen. Versprechen dem Bolt alles mögliche den Kopf des Kaisers, deutsches Gold, Unterstützung für alle ohne Arbeit. Mir graut vor der Zukunft. Das Reich gerät in die Hände der Juden. Blicke nur nach Indien . Die Re­gierung schmeichelt dem Böbel. Dent an die Gewerkschaften! Whitehall wimmelt von Stellenjägern, und in England regiert eine forrupte Bureaukratie. Es find auch schon andere Reiche untergegangen. Wenn wir den Dingen nicht ins Auge schauen, mit fester Hand regieren, die Bestechlichkeit ausrotten, das Bolt wieder zur Arbeit zwingen und den revolutionären Geist in den Massen nicht niederstampfen, so verlieren wir unsern alten Play in der Welt. Ich werd's nicht erleben, Gott sei Danf! Aber du vielleicht!"

Bertram warf seinem Schwiegervater, der so fest neben ihm herging und ab und zu seinen schlecht gebürsteten Seiden­hut berührte, wenn ihn Borübergehende grüßten, einen ver­ftohlenen Blick zu. Er erschien ihm wie das leibhaftige Alt England, dessen Tage bald gezählt waren. Der Krieg hatte neue Männer an die Oberfläche geworfen, vielleicht liberaler von Ideen, geschmeidiger sich an neue Zustände anpassend, dafür aber nicht so tief in England verwurzelt, dem alten Ehr­begriff nicht so treu ergeben, nicht so fest und ehrlich in ihrem, wenn auch misverstandenen Pflichtgefühl. Die Alten hatten dem Vaterlande in früheren Zeiten gute Dienste geleistet. Mit ihm verglichen bin ich ein Schwächling, dachte Bertram. Ich bin zwischen alten Traditionen und neuen Idealen hin und hergeriffen und glaubte innerlich an beides nicht. Ich bin weder Fleisch noch Fisch. Er aber steht fest auf seinem Standpunkt und wird auch dabei bleiben, bis der Wall durchbrochen ist und er und seinesgleichen verschwinden. Wie lange wird das noch auf sich warten lassen?

Die Krise der Demokraten.

=

Die Auseinandersehungen innerhalb der Demokratischen Partei machen sich auch in der Berliner Organisation bemerkbar. Schon bei der letzten Kandidatenaufstellung vor den Maiwahlen gab es heftige Debatten. Die Mehrheit stellte damals Herrn v. Siemens auf, gegen den die Linke mit der Kandidatur des Prof. Bonn Sturm lief. Jetzt beginnen sich die Reihen der Stadtverordnetenfraktion zu lichten. Der frühere Stadtbaurat des Zwedverbandes Beuster hat tereits seinen Uebertritt zur Deutschen Volkspartei vollzogen. Der Direktor des Kalisyndikats Prenzel gehört zu den Unter­zeichnern des Gründungsaufrufs der Liberalen Vereinigung. Nur von dem Vorsitzenden der Berliner Demokratischen Organisation, dem sehr geschäßten Herrn Merten, ist gleiches noch nicht verlautbart

worden. Kundige Thebaner behaupten, es fäme nur daher, weil Herr Merten noch nicht wisse, ob er zur Boltspartei oder zu den Deutschnationalen gehen folle! Wenn wir unsere bescheidene Mei­mung dazu sagen dürfen, so würden wir vorschlagen, daß Herr Mer­ten zu den Deutschnationalen geht. Da gehört er hin!

Ottern schien auf diese Gedanken zu antworten. Unsere Zeit ist vorüber, ich meine die Zeit der alten Aristokratie in England. Ein kleiner Mann da im Unterhaus hat die Attacke eingeleitet, der Krieg und seine Kosten haben das übrige getan. Die alten Güter werden von Kriegsgewinnlern aufge­fauft, unfereiner fann sie nicht mehr halten. Sieh dir Holme Ottern an, ich geh' zugrunde, trotzdem ich alles zerfallen lasse." Er seufzte tief und wechselte das Thema. ,, Wie geht es Jonce?"

Bertram gab guten Bescheid darauf, verschwieg aber seine geheime Herzensangst. Sie hatte sich seltsam verändert, seit das Kind gestorben war, wehrte seine Liebkosungen ab, zeigte ein wahres Fieber nach Zerstreuungen, war feindselig gegen ihn gestimmt, und meist wegen dummer politischer Meinungs­verschiedenheiten, Irland zum Beispiel und das Recht der Är­beiter auf ausreichende Löhne. Auch ein Grund zu Zwistig­feiten zwischen Mann und Frau! Aber augenblicklich schien jeder Grund recht zu Streitigkeiten zwischen ihnen. Es war wohl ihr Zustand, die Arme, und sein ganzes eigenes zwerk­loses Leben.

Plöglich sprudelte er seinen Wunsch nach Beschäftigung irgendwelcher Art hervor.

Ich gehöre auch zu jenen Offizieren a. D., von denen Sie vorhin sprachen. Ich muß irgendeine anständige Beschäf­tigung haben, schon Jonces wegen. Können Sie mir nicht dazu verhelfen?"

Lord Ottery starrte ihn zerstreut an, als stände er wer weiß wie weit von ihm entfernt. Das war sein Blid, wenn er um irgendetwas angegangen wurde.

,, Wie? Ich soll dir zu etwas verhelfen? Warum trittst Schufte in die Hölle?" du nicht bei den Schwarz- Gelben ein und jagst die irischen

Außerdem wird's schlecht bezahlt. Lange nicht genug, um Bertram lachte verlegen. Ich habe den Krieg übersatt. Außerdem wird's schlecht bezahlt. Lange nicht genug, um mit Jonce ihr Haus in Holland Street zu halten. Ich möchte doch auch mein Teil beitragen."

Lord Ottern blieb vor dem Herrenhaus stehen und er­widerte das Salutieren des Schuhmanns, indem er an seinen Hut griff.

,, Warum trittst du nicht ins Geschäft ein?" fragte er, als ob das Geschäft nur so eine offene Türe wäre, die jeden einließ. Das tut man ja heutzutage, wie ich höre."

Er nickte Bertram zu und schob sich durch den Vorhof von Westminster. Höhere Beziehungen! dachte Bertram bitter. Der Alte würde feinen Finger für mich rühren. ( Fortsetzung folgt.)