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Nr. 538 41. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Berlin kauft in der Halle.

Um Berliner Markthallen ist kein Zauber der Romantik ge-| man muß sich viel Mühe geben, will man nicht über all dem, was goffen. Sie liegen nicht wie die berühmten Pariser Halles" an den Boden in Ueberfülle bedeckt, zum Ausrutschen tommen. Ist es einem der stattlichsten alten Pläge, gegenüber einem viel bewunder­etwas ruhiger geworden können sich Nichtbeteiligte freier bewegen, ten Bauwerk, und Berliner   Markthallenherrscherinne. befizen auch Berge von Gemüse- und Obstabfall werden durchsucht, was brauch dann beginnt die Jagd nach allem noch Verwertungsmöglichen. nicht das Sonderrecht, jedem Ehrengast der Stadt einen Kuß an­bieten oder aus ihrer Mitte die Karnevalskönigin wählen zu Obdach- und Arbeitslose zu finden, traurige beflagenswerte Ge­bar ist, wird eingesteckt. Kaninchenfutter-? Hier sind auch viel dürfe.1. Nein, dazu ist Berlin   viel zu nüchtern. Aber seine Markt- ftalten Wo Ueberaadrang an Arbeit ist, läßt sich auch eine kleine hallen sind trotz alledem anziehend durch den Ueberreichtum der Gelegenheitsarbeit erhaschen. Und wo man recht viel Lebensmittel­Waren und durch den förmlichen Ueberschwang an menschlicher Ar- ware vor sich sieht, da darf man auch hoffen, eine Reinigkeit für beitsregung und Willenskraft zur Arbeit, fesselnd aber auch für den beobachtenden Besucher durch das soziale Bild, das sich in ihrem Treiben entrollt.

Im Stadtbild felbst spielen sie nicht gut mit. Im Gegenteil, fie verschandeln es nach Herzenslust. Die schöne Charlottenstraße endet durch die häß iche Rückseite der Lindenmarkthalle in einem Chaos von Verbauung. Am Luisenufer wird die Bauflucht nicht angenehm durch eine Markthalle unterbrochen. Sie haben alle so ziemlich den gleichen Stil, der heute nicht mehr gefallen kann, scheinen auch aus gleicher Zeitperiode zu stammen. Die Zentral­markthalle ist direkt in einem Winkel um die Eisenbahn herum gebaut und die Enge der Etraßen wird oft zu Bedrängnis und Verhängnis. Etwas freundlicher läßt sich die Halle am Magde­ burger   Plaz an. Sie ist defür aber auch ganz bedeutend kleiner und fein eigentlicher Marttmittelpunft.

Zentralmarkthalle.

Man muß sehr früh, schen um fünf Uhr morgens, dort seta, will man ein richtiges Bild, aber auch einen starken Eindruck mit nach Hause nehmen. Hier ist das Zentrum der Berliner   Lebens­mittelversorgung. Hier ist Arbeitstreiben, das durch Behendigkeit und Energie bezwinge id wirkt. Hier ist aber auch Offenbarung fozialer Rot. Wagen an Wagen kommt, vielfach von Frauen gelenkt,

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Fleisch und Wuntwaren Richard Schwartz

die an Wortfecft of: Männern überlegen find. wenn sie nicht schnell durchkommen und feinen richtigen Standplag für das Fuhrwerf ge­minne. Berge von Körben häufen sich, wandeln, lassen ihre Träger verschwinden, gewaltige Mengen gefch achteter Tiere werden eilig von starten Schultern getragen. Man muß recht vorsichtig sein, um hier durchzukommen. Man wird gestoßen, getreten, vor allem aber,

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Der Mittelweg.

Bon Sir Philip Gibbs  .

Lady Oftery stand an ihrem Stuhle und hielt Cercle. Bertram bemerkte viele auffallend hübsche Mädchen und viele ung aublich häßliche alte Damen. Die letzteren intereffierten ihn am meisten. Gott  , waren sie häßlich! Die meisten trugen schwarze Seide mit bunten Perlen, wie es unter Königin Victoria Mode gewesen war. Andere waren nach der neuesten Mode gekleidet, mit fleinen, nedischen Hütchen, furzen Män­teln und tief ausgeschnittenen Taillen. Sie waren dick und alt und hart und faltig. Er kannte sie alle, meist Träge rinnen erlauchter Namen und Titel. Das alte Regime hatte sich hier versammelt.

Die Männer waren in der Minderheit, aber die da waren, hatten Rasse. Alte Herren, weißhaarig, fahl, mit Säcken unter den Augen, Backenbärten und Habichtsnafen; Männer in mittleren Jahren, die in zufünftigen Tagen genau das Abbild der alten Herren sein würden, jetzt aber hatten fie schlanke Figuren, furz geschorenes Haar und scharf be­obachtende Augen. Auch unter ihnen befanden sich Herzöge, Grafen   und Generäle, lettere in Zivil.

Ja, seine Schmiegermutter hatte ein gutes Haus" ver­sammelt. Die älteste Aristokratie war zugegen und eine ganz dünne Schicht der neuen Reichen. Es war doch etwas Im­posantes an den häßlichen alten Damen. Er fannte den Geist, der sie beherrschte, unbeugsam, hart gegen sich und gegen andere, fest entschlossen, wenn es sich um ihre Pflicht handelte. Das waren die Großmütter der modernen Jugend in Joyces Kreis. Dieser hübschen, lachenden, fesch aussehenden Mädchen. Der Herzog von Bramshaw führte Lady Ottery zu dem Vor­tragspult auf der Rednertribüne, fofort erhob sich lautes Händeklatschen, und jeder eilte an seinen Plaz.

Der Herzog von Bramshaw eröffnete den Vortrag mit einigen einleitenden Bemerkungen in seiner melancholischen Stimme. Dann begann Lady Ottery, fie las mit harter, flarer, durchdringender Stimme Seite auf Seite ihres manu­stripts vor. Sie sah auffallend schön aus, war völlig ruhig und unbefangen und absolut von der Wahrheit des Inhalts überzeugt. Bertram versuchte, nicht hinzuhören, aber ihre Worte bohrten sich ihm ins Gehirn, wie sie mit einer Art irr­finniger und schrecklicher Logik die Tatsachen in allen Ländern durch die verschiedenen Jahrhunderte zusammengetragen hatte, um zu gänzlich falschen Schlüffen zu gelangen.

Aber an allen menschlichen Impulsen war fie bei all

Fleish waren Gottlieb Kraus

Sort Scha

Choo

Freitag, 14. November 1924

daß man sich des heiteren Eindruds beinahe nicht erwehren möchte. Dicht unter einem feisten Ochsenviertel stehen drei Körbe Aepfel  , daneben hängen Gänse und zwischen Schmalz, Butter und Eiern auch der Lotentag und nun wissen wir, daß es Winter wird. Blumen des Spätherbstes und immer wieder Blumen. Es naht ja find es Frauen aus dem Volke, durch die Engpässe. Ihre Einkäufe Langsam und mit prüfender Vorsicht bewegen sich die Käufer, meist sind klein, aber sie brauchen lange, bis sie sich dazu entschlossen haben. Es muß gespart werden und man muß das nehmen, was das Billigste und Beste zugleich ist. Selten aber sieht man eine Frau, die nicht in ihrem fiemen, bescheidenen Körbchen wenigstens eine B'ume liegen hat. Also doch ein Stück Poesie und sogar echte Volksposte. Der Geschäftsgang ist schlecht. Es ist nicht zu be­merken, daß sich die Verkaufstöfige ouch nur eingermaßen leeren. Bollends unberührt scheinen die Geflügelstände zu sein und man wird schon angerufen, während man sich annähert, ob man nicht eine schöne Gans haben möchte, das Pfund zu einer Mart sechzig. Warum nicht? Alle möchten es gerne haben, aber bei allen ist auch ein Hinderungsgrund verhanden.

Halle im Westen.

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Wie ganz anders ist es in der Halle am Magdeburger Platz, viel kleiner, weil meniger Markthalle.imäßiges ist, mehr faufhaus­mäßiges und in der Umgebung ist nichts von Karren und Ab­fall zu sehen. Hier wird man wohl leichter in die Seele von Käufern und Käuferinnen bliden fönnen. Weit gefehlt. Die Unter­haltung wird fast im Flüstertone geführt, fein Käufer will sich in den Geldbeutel bliden lassen, aber jeder hat seine besonderen Obs Wünsche und Sorgen. Die Demen   taufen hier nicht persönlich ein, wohl aber Leute aus dem Mittelstand, denen nicht gerade über­triebene Lebenssucht aus den Augen blickt. Nur einen jungen ,, besseren" Mann sah ich. Dem war fein Stück beim Schlächter recht und als er endlich eins gefunden hatte, ließ er es noch bes sonders zurechthacen. Er meinte, das letzte Mal habe es doch so ,, wundervoll" geschmeckt. Glücklicher Genießer! Ueber dem hatten sich einige andere Anwärter angestellt, darunter eine große stattliche Frau und ein alter Herr mit Brille und langem Bart. Sehnsüchtig blickte er lange nach einer Speckseite. Dann steckte er der Frau einen Bettel zu, meinte, es werde ihr Glüd bringen und entfernte fich. Die Frau las. Es waren Tugendermahnungen aus Bibel­zitaten. Ausgerechnet mir, sagte fie und zerriß unter allgemeinem Gelächter den Zettel.

die eigene Lebenshaltung meist ist dies recht wenig zu er. langen. Alles in allem: ein startes, soziales Bild, eine Großstadt­lebenserscheinung. Lassen mir es bei den Eindrüden vom Treiben um die Halle bewenden und begeben wir uns nach der Lindenstraße, um dort das Innere einer Markthalle auf uns wirten zu lassen.

Lindenmarkthalle.

Auch hier herrscht ähnliches Morgentreiben, doch nicht annähernd im gleichen Umfang. Alte Mütterchen in warmem Mantel, die Hauben über den Kopf gezogen, stehen vor Handwagen oder han. tieren an ihnen. Andere, rüftiger noch, derber und weniger ver braucht. tommen mit Fuhrwerken herangefahren. Es ist ein harter Beruf der Frau, hervorgegangen aus schwerer Kriegsnotwendigkeit und nicht wieder aufgegeben. Im Innern der mächtigen, schlichten, aber nicht u.schönen Halle fann man sich nur vorsichtig bewegen, um nicht vom Hebel einer Wage oder anderem unzart erfaßt zu werden. Welche Buntheit, weld ein Reichtum in dieser Enge, die statt Verkaufsständen nur eine Art von Käfigen fennt! Da ist alles da, was den Sinn erfreuen fönnte, und es ist zusammengewürfeit,

ihrem Forscherfleiß blind vorübergegangen. Sie hatte nicht erkannt, daß die wilden Instinkte der hungernden Massen fich aufbäumen müssen, wenn sie sehen, wie andere schwelgen, fie verstand nicht die Leidenschaft für die Freiheit in nieder getretenen Völkern, nicht die Träume von einem leichteren Leben in den Gemütern der Darbenden und hoffnungslos Arbeitenden, nicht die göttliche Wut im Herzen eines Bolkes, das unter der Knute und der Brutalität einer Geheimpolizei schmachtet. Bertram mußte an all die Männer denken, die mit ihm in Frankreich   und Flandern   gekämpft hatten. Sie hatten Tag auf Tag, Jahr auf Jahr das Grauen des nahen Todes gespürt, aber sie waren nicht verzagt und hatten das Walten eines Geistes in sich gespürt, der sie inmitten aller Schrecken aufrecht erhalten hatte. Und solche Menschen sollten die Opfer eines ,, Geheimfultes" sein, der sie anstachelte, alle Zivilisation umzuwerfen? Die sollten in finsterer Berschwö­rung, getäuscht von deutschen   Juden, in diesem Lande Höllen und Satansanbetung treiben, in diesem Lande, das sie durch die Tapferkeit ihrer Seele gerettet hatten? Nein! Verbittert, friedlos, unzufrieden waren sie! Kein Wunder bei diesem Emporschnellen der Preise und Fallen der Löhne und der Angst vor der Arbeitslosigkeit, die in Millionen von fleinen Heimstätten wie eine dunkle Flut des Elends hereintroch. Joyce, ich halte es nicht mehr aus! Dies ist wahnsinnig und entseglich!" Sie beantwortete sein verzweifeltes Flüstern mit einem ärgerlichen: Sei doch still, Bertram!" Ihre Bewegun­gen und Jonces Antwort medten den alten Grafen   Ottern auf. Er lächelte Joyce schläfrig zu und sagte, ihre Mutter lei wirklich hervorragend.

Schließlich erhob sich Bertram und flüsterte Joyce zu: Tut mir leid, mein Kind, ich gehe. Ich kann hier nicht atmen."

Du bist unausstehlich, flüsterte Joyce zurück und schüt telte ärgerlich die kurzen Locken. Bertram schritt durch eine Zuhörerschaft hindurch, die ihm wegen seines Gehens zürnte. Draußen standen die Chauffeure in Gruppen zusammen, und vom Orford Circus her fam ein Zug Arbeitsloser mit feinen Bannern:

,, Wir wollen Arbeit!"

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Bertram setzte seine ganze Hoffnung auf sein Buch, trok Christys scherzhaftem Pardon, Pardon, Kamerad!" Es ging gut vorwärts, ausgezeichnet fogar; er selbst war erstaunt, wie ihm das Wort zufloß. Nach dem ersten schweren Ringen mit dem Stoff schrieb er leicht und schnell. Es war, als ob er nur hinschrieb, was ihm sein Unterbewußtsein diftierte. Es war merkwürdig, wie in dem kleinen Heim in der Holland Street

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Nun hatte man doch noch einen Schimmer Boltsleben erhascht. Man verläßt die Halle mit der forgenvollen Gewißheit, daß alles in Ueberfülle vorhanden ist und daß doch das Bolk herzlich wenig davon abbekommt, wenn es sich nicht selbst mehr um sein Schicksal fümmert. Der 7. Dezember bietet ihm die Möglichkeit dagu.

Eine 5- Millionen- Anleihe der Stadt Potsdam  . Der Magistrat von Potsdam   wird der Stadtverordnetenver­fammlung demnächst eine Vorlage zur Beschlußfassung unter­breiten, der wir folgende Ausführungen entnehmen: Um die Bes lebung unserer Wirtschaft durch die Wiederaufnahme der in den lezten Jahren vernachlässigten fommunalen Aufgaben zu ermög lichen, hat der Potsdamer Magistrat nach sorgfältigster Prüfung aller in Frage kommenden Bedürfnisse beschlossen, für die im Laufe ber Beit hervorgetretenen notwendigen Bedürfnisse eine 5%- Millioen Anleihe aufzunehmen. U. a. wird mit der An­leihe der Umbau des städtischen Krankenbauses, Erweiterung der Elektrizitätswerke und anderer Kommunalsachen inbegriffen sein. Die Bezirksversammlung Spandau   baut Dr. Herz ab.

Am Mittwoch abend hat sich die Spandauer Bezirksverfamm lung zum zweitenmal mit der Abbaufrage befaßt. Unbelehrbar, wie die bürgerliche Bezirksverordnetenversammlung mehrheit in Spandau   ist. hat sie beschlossen, es bei ihrem ersten Beschluß, der auf Abbau des ftellvertretenden Bürgermeisters, Genossen Dr. Herz und des Stadtbaurats Olbers   lautete, au belassen. Dieser Beichluß ist vollkommen gesegwidrig. Wir werden auf den Rechtsbruch der Spandauer   Bezirksveriammlung noch zurüdtommen, da er von allgemeiner Bedeutung ist.

die Erinnerung erwachte bei dem Lärm der Londoner   Straßen. Wenn Joyce aus war oder schlief und er in später Nacht allein in seinem Arbeitszimmer saß, trat das Bild des früheren Lebens so deutlich, mit solcher Kraft vor sein geistiges Auge, daß er beim Aufblicken ganz erstaunt war, sich nicht im Schüßengraben, sondern in seinem friedlichen Zimmer zu be= finden.

Hier, in diesen Manuskriptblättern vor ihm, hatte er berichtet, wie der Krieg wirklich ist. Die Männer, die ihn mitgemacht hatten, würden sagen müffen: So ists gewesen." Sein Buch würde doch vielleicht etwas nützen. Es war wert, geschrieben zu werden, ja, vielleicht war es wert, dafür gelebt zu haben.

Denn es war die Wahrheit in jeder Zeile, in jedem Wort. Und er hatte die Gabe des Wortes. Das war sein begrabenes, jegt offenbartes Talent.

Er hoffte, daß Joyce das Buch lieben würde. Wie schön wäre es, beim Vorlesen ihr Bravo!" zu hören. Sie würde wohl kritisieren, denn sie würde manches hassen von dem, was da geschrieben stand, weil es brutal die Wahrheit aussprach, aber das Buch würde doch etwas Großes werden, denn er sagte alles darin, überging nichts von all dem Entsetzen, Mut, Ueberdruß, Furcht, Schmutz, Lachen und Wahnsinn des Krie­ges. Sie würde es trotzdem lesen und ihn nachher besser ver­stehen und geduldiger mit ihm sein. Und schließlich würde sie sehen, daß auch er seinen Teil zum Lebensunterhalt beitragen und sich nicht nur auf sie verlassen würde. Vielleicht würden Jonce und er dann wieder einander näher gebracht, und die alten Bande der Liebe und trauten Kameradschaft lebten wieder auf zwischen ihnen.

Mit solchen Gedanken beschäftigt, nahm er ein paar Bücher zusammen und stieg in Jonces Zimmer hinauf. Es war am Morgen nach dem Vortrage und Joyce war noch im Bett. Bielleicht könnte er ihr jetzt ein paar Seiten vorlesen.

Er war, wie alle Autoren, geradezu lächerlich aufgeregt bei seinem Erstlingswert. Er hatte mit und in diesem Buche gelebt, alle seine Hoffnungen darauf gesetzt, es war sein erft­geborenes.

Joyce hatte die Zeitungen vor sich, als er mit herzlichem Gruße eintrat. Sie murmelte irgend einen Gegengruß und vertiefte sich wieder in die raschelnden Blätter der Morning Post".

Bertram wartete ein wenig, bis sie zu Ende gelesen hätte. Sie saß im Bette in einem japanischen Seidenmorgen­rod, ein Band um den Kopf gewunden und sah sehr jung und lieblich aus. Ihre Stirn war leicht gerunzelt. ( Fortsetzung folgt.)

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