Abendausgabe
Str. 558 41. Jahrgang Ausgabe B Nr. 279
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Vorwärts
Berliner Volksblatt
5 Goldpfenni
Mittwoch
26. November 192
Berlag und Angetgenabteilung.
Geschäftszeit 9-5 Uhr
Berleger: Borwärts- Berlag Gmb. Berlin SW. 68, Lindenstraße 3 Ferafprecher: Dönhoff 2506-2507
Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
Stresemanns Amt.
Schwanken zwischen ,, Tradition" und ,, Diskrepanz".
Bei einem Jubiläumsfesteffen des WIB. am Dienstag abend hielt Dr Stresemann eine Rede, in der er am Schluß auch auf außenpolitische Dinge zu sprechen fam. Da bei fagte er u. a.:
Wir haben wechselnde Minister, aber mir haben auch im Aus. wärtigen Amt eine Tradition, die nicht wechselt, sondern aufrecht erhält, was an Kenntniffen und Erfahrungen gesammelt ut.
Herr Stresemann ist zwar persönlich ein sehr wandelbarer Bolitiker, er ist aber zugleich ein glühender Anhänger der ,, Tradition". Als Burschenschaftler legte er einen Kranz mit schwarzrotgoldener Schleife am Grabe der Märzgefallenen nieder, als Führer der Deutschen Bolkspartei bekennt er sich zu schwarzweißrot. Somit verkörpert er in einer Berson fogar verschiedener Traditionen. Das nennt er dann: eine Brüde bauen zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Wenn sich die Tradition im Auswärtigen Amt nur auf die Aufrechterhaltung der Kennniffe und Erfahrungen beschränkt, dann könnte man sich damit durchaus einverstanden ertlären. Aber die Tradition im Auswärtigen Amt erstreckt sich leider bei einem großen Teil des diplomatischen Personals auch auf die Gesinnung. Und im Gegensatz zu Herrn Stresemann, der zweifellos auch diese Art von Tradition durchaus billigt und fördert, sind wir der Auffaffung, daß die Verwaltung im auswärtigen Dienst einer geistigen Erneuerung dringend bedarf. Unser Diplomatenpersonal retrutiert sich nach wie vor zum großen Teil aus den feudalften Studentenverbindungen und entstammt traditionsgemäß" vielfach entweder aus dem hocha del oder aus der Groß industrie. diesen beiden Edpfeilern der nationalliberalen Gesellschaftsordnung. Die Deutsche Republik wird aber Bert darauf legen müffen, diese Tradition zu durchbrechen. ebenso wie die Kliquenwirtschaft, die sich in der Wisheim straße allmählich herausgebildet hat und die danach strebt, Die neuen, vereinzelt in den diplomatischen Dienst getommenen Elemente hinaus uefeln, mie das bereits in einigen be tannten Fällen mit Erfolg geschehen ist.
Eine andere Stelle der Stresemannschen Ausführungen verdient gleichfalls hervorgehoben zu werden. Er sagte:
Es bleibt die Tragit ber deutschen Außenpolitik und damit voraussichtlich für lange Zeit auch noch die Tragik der deutschen
| Außenminister, daß stets zwischen der von ihnen verfoigten Bolitit und der Auffaffung des deutschen Bolles eine Diskrepanz bestehen The Rein wird. Das deutsche Volf wird stets erfüllt sein von dem stolzen Bewußtsein, das die große Bergangenheit ihm gibt, und wird felten Verständnis haben für die Außenpolitif, die die Be. grenztheit der Machtmittel und unsere gesamte Stellung jedem Minister aufzwingt.
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Herr Stresemann verwechselt da offenbar das deutsche Bolt mit der nationalistischen Wählerschaft. Das deutsche Bolt hat durchaus Verständnis für die reale Lage Deutschlands in der Welt nach dem verlorenen Kriege. aber die rechtsparteilichen Bolitifer sind seit sechs Jahren unablässig bemüht, diese Erkenntnis zu trüben und durch nationalistische Phrasen eine Lage vorzutäuschen, zu der die außenpolitischen Notwendigkeiten allerdings in einer starten Diskrepanz"( Mißverhältnis) stehen. Es ist in Wirf. lichkeit eine Beleidigung des deutschen Volles, wenn man behauptet, es sei nicht fähig, die einfachsten Schlußfolgerungen ous der Tatsache des Kriegsverlustes zu ziehen. Warum fehlt es den Wählermassen, die hinter der Sozialdemokratie, den Demokraten und dem Zentrum stehen, nicht an Verständnis für die bitteren Notwendigkeiten der Erfüllungspolitik? Warum ist dieses so seltene Verständnis" das Privilegium der Bürgerblodparteien? Warum verursacht diese Diskrepanz" gerade dem Außenminister Stresemann so heftige Bauchschmerzen? Die Antwort ist sehr einfach: Wer in den bitteren Jahren nach Kriegsende den Mut hatte, dem Bolk die Wahrheit zu sagen, dem fällt die Rechtfertigung der deutschen Außenzu sagen, dem fällt die Rechtfertigung der deutschen Außenpolitif nicht schwer. Wer aber das Volk mit vaterländischen" Redensarten und Schlagworten jahrelang systematisch auf gepeitscht hat, wer heute noch im Angelicht fremder Diplomaten und Staatsmänner als Außenminister anders handelt als er im Ang ficht seiner Barteifreunde ais Barteiführer rebel, der wird in der Tat die deutsche Außenpolitif befonders tragisch empfinden: aber in diesem Falle hondelt es sich nicht um die Gesamttragödie Deutschlands , sondern um die Einzeltragödie eines schlechten Gewissens.
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Zur leberwindung der von Herrn Stresemann geschilder ten Diskrepanz" benötigt man Mut, Konfequenz, Wahrheitsliebe lauter Eigenschaften. die allerdings nicht zu der nationalliberalen„ Tradition" gehören.
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Der befreite Nathusius.
Oder: Wie lügt man sich heraus?
Die Sozialdemokratie hat schon manchen Dolchstoß" in ben Rücken der deutschnationalen Kämpferfront ausgeführi. Aber daß sie die Befreiung des Generals v. Nathusius erreichte, das ist zweifellos die allerschlimmste Gemeinheit, die sie jemals gegen die gute Sache begangen hat. Man denke: Als die Deutschnationalen in der gräßlichsten Berzweiflung waren und vor Angst schon nicht mehr ein und aus wußten, da tat der liebe Gott für sie ein Wunder und bestimmte die französischen Militärrichter, denn General v. Nathusius zu einem Jahr Gefängnis zu verurteilen. Von dieser Tat ihrer französischen Gesinnungsgenossen erhofften die Deutschnationalen ihre Rettung aus allen Wahlnöten.
Ob der General saß oder nicht saß, was war für sie gleichgültiger als dies! Hauptsache war doch die WahlDas Parole gegen die Sozialdemokraten. Schmachurteil, das Schandurteil der französischen Bestien" zeigte, was es mit der Völkerverständigung auf sich hatte. Die Schleier waren gefallen, und jeder Mann und jede Frau wußten nun, daß sie deutschnational zu wählen hatten.
Inzwischen hatte die Sozialdemokratie thre Aftion für die Befreiung des unschuldig Verurteilten bereits eingeleitet Zunächst durch einen Artikel des Vorwärts". Es wurde hier gleich auf die ersten unvollständigen Berichte hin gesagt, daß der General ,, wahrscheinlich doch unschuldig sei" und daß es unmenschlich wäre, ihn seinen 70. Geburtstag im Gefängnis feiern zu lassen. Es wurde zugegeben, daß in Kriegszeiten die Eigentumsbegriffe schwankend geworden feien, es wurde aber zugleich darauf hingewiefen, wie unfinnig es sei, wegen eines verlorengegangenen Suppentopfes Strafprozesse zu führen Als einziger Weg zur Lösung des Konflikts wurde die Begnadigung empfoh'en. titel her und fanden die Empfehlung zur Begnadigung ,, unBerliner deutschnationale Blätter fielen über diesen Arwürdig". Noch toller trieb es die deutschnationale Provinz presse Die Bommersche Tagespoft" zum Beispiel schrieb einen Cegenarlife! mit der anmutigen Ueberschrift a= naillen", in dem behauptet wurde, bie Sozialdemofratie molle den armen Mathufius noch fester in die Hände seiner häscher bringen und sie beleidige das deutsche Offizierstorps.
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Man kann sich vorstellen, wie sich die Deutschnationalen fühlen müssen, nachdem die Befreiung des unschuldig Verurteilten unter hervorragender Beteiligung der deutschen und französischen Sozialisten tatsächlich geglückt ist. Erschossener fann man nicht sein! Und so darf man die Auslassungen der deutschnationalen Bresse über dieses Nationalunglück mit Humor genießen.
Die Deutsche Zeitung" ist zwar mit ihrer Berichterstattung etwas hinter der Weltgeschichte zurüd, doch ahnt ihr
Die Baldwin- Regierung muß Rede stehen. Die Erklärung der Regierung darüber. Sie hat das Vertrauen fchon Schlimmes. Sie baut vor:
Macdonald interpelliert.
Condon, 26. November. ( Eigener Drahtbericht.) Der Führer der Arbeiterpartei, Genosse James Ramjay Macdonald, hat eine Interpellation über die auswärtige Politik der Regierung eingebracht. Wenn die Oppofition die sofortige Eröffnung der Debatte beantragt, dürfte Außenminister Chamberlain feine Reise nach Rom aufgeben.
Eisenbahnattentate in Indien .
Kalfuffa, 26. November. ( WTB.) In den letzten drei Wochen find fünf Attentate gegen 3üge der Ost- Bengalischen Eisenbahn verübt worden.
Sturm in der Pariser Kammer. Herriots Gegenangriffe.
Der Borwärts" hat bereits heute, Mittwoch, früh gemeldet, daß die französische Kammer mit großer Mehrheit ein Vertrauensvotum für die Regierung Herriot angenommen hat. Dem ging votum für die Regierung Herriot angenommen hat. Dem ging
folgendes voraus:
Im Anschluß an eine von dem Poincaristen Taittinger eingebrachte Interpellation fam es zu ungewöhnlich scharfen Zwischenfällen. Taittinger , eine Hoffnung der jüngst von Millerand gegründeten Lina der flerifalen und nationalistischen Reaktion, hatte die machtvolle Kundgebung, zu der am Sonntag die le berführung Jaurès ins Pantheon Antak gegeben hatte, zum Regenstand einer Interpellation gemacht. Er hatte den traurigen Mut, sie als eine revolutionäre Straßenfundebung zu be zeichnen und der Regierung den Vorwurf au macher, fie habe Baris ben Kommunisten und den Agenten der Gorojets ausreliefert. Da er damit lediglich einen Heiterfeitserfolg erzielte, aing er zu direften Angriffen auf das Rabinett über, das er beschuldigte, das einzelne feiner Mitglieder aus dem Wahlfonds des Senators Billiet Unterstügungen entgegengenommen hätten. Diese Verleumdungen find um so unerhörter, als Billiet den Rampf gegen das Kartell der Linken finanziert hatte. Bon Herriot gedrängt, feine Beschuldigungen näher zu erläutern und Namen zu nennen, mußte Taittinger den Rückzug antreten.
zur Regierung, daß fie die republitanischen Einrich tungen und Traditionen wahrt, und stellt weiter feft, daß im Verlauf der Debatte die schwersten Anflagen gegen Mitalieder der Regierung vorgebracht wurden, ohne daß ihr Urheber trok wiederholter Aufforderung den kleinsten Beweis dafür beigebracht habe. Die Kanmmer brandmarkt dieses Mannöver und geht zur Tagesordnung über
Hervé als Schutzpatron. Laverrenz flüchtet sich unter seine Fittiche.
In„ dem" deutschnationalen Blatt Berlins werden zur Abnech'lung einmal fozialistische Patrioten gefeiert. Natürlich sind es Ausländer und ebenso natürlich Franzosen . Der eine ist Jaurès , von dem behauptet wird, daß Bülow ihn im Reichstag gelobt, die Sozialdemokratie ihn zerrissen" habe. De: andere aber ist Gustav Hervé ! Dieser ehemalige Antimilitarist, der auf dem internationalen Rongreß zu Stuttgart die feine besondere antimilitaristische Propaganda deutschen Sozialdemokraten als„ Spießbürger" beschimpfte, weil sie nicht mitmachen und feinen Kriegsstreit nicht beschließen helfen wollte.
Man muß im Brotokoll von jenem Kongreß nachlesen, wie die deutschen Sozialdemokraten Bebel und Vollmar mit den Bhantastereien Hervés umgesprungen sind. Erst dann fann man die ganze Größe des Urfinns ermeffen, daß ausgerechnet diefer Antimilitarist und„ Kriegsfireitheßer" zum Schuhpatron der„ National. poſt" des Herrn Laverenz erforen wird. In diesem Blatt wird über ihn gejagt:
Hervé wollte tein Baterland anerkennen und trat für bewaffneten Aufruhr im Falle eines Krieges gegen das einene Baterland ein, um den Krieg zu verhindern. Als es zum Ernst fall allerdiros 1914 tam, mar Hervé einer der ersten. der sich trok seiner 62 Jahre freiwillig zum jeeresdienst meldete. Das hat Crispien nicht getan und wird es auch nie fun.
Gegenüber den Reaktionären betonte Herriot , daß die Feier vom Sonntag vom Anfang bis zu Ende in eindrucksvoller und einwandfreier Weise verlaufen sei. Die franzöfifche Linke habe am Sonntag ein Werf der Gerechtigkeit vollbracht, indem sie das Verbrechen vom 31. Juli 1914 wieder gutmachte. Herriot wurden begeisterte Rundgebungen der Remmermehrheit beschimpfen pflegt. Allerdings meldete sich Hervé mit 62 Jahren reitet, als er mit der Versicherung ichlok. dak die Regierung fich start genug fühle, um die Ordnung und Freiheit zu sichern.
In den späten Abendstunden sprach die Rammer der Regie rung mit 318 gegen 196 Stimmen das Vertrauen aus. Das Ver. frauensvotum lautete:„ Die Kammer billigt bie Maßnahmen der Regierung für die Ueberführung von Jaurès ins Bantheon und
Nun weiß zwar jedes politische Kind, daß Hervé sich bald nach 1907 vom Sozialismus abgewandt hat und zu einem der übel sten nationalistischen Hezer Frankreichs entwickelt hatte, der feine früheren Parteigenossen genau so gehässig beschimpfte, wie etwa Emil Koth die deutschen Sozialdemokraten heute zu be freiwillig zum Kriensdierit, aber Emil Kot'h mit 50 Schren biteb daheim! Dafür tarf er fgt in der konservativen National post" Artikel über Patriotismus und nationale" Pflicht schreiben. Uebrigens: 2ub mig Frant, der Sozialdemokrat, ging frei. willig ins Geld und fand den Tod, Graf Westorp und Laverrenz aber blieben uns erhalten.
Ene Begnadigung hätte nur eine neue Beleidigung des Generais targestellt: Die Begnadigung bebeutete eine Anerkennunng des Lller Urteils durch das der General megen Diebstahls verurteilt morben ist. Nur die Aufhebung des Urbe is ermöglicht eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Es handelt sich legten End's nicht darum, daß der General auf Grund eines Gnodenaftes" feine Freihit wberg winnt, sondern um eine Frage der Ehre des deutschen Namens, der durch des Diller Urteil von nurm ge brandmarkt werden sollte.
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Also, daß man den Herrn v. Naihufius freiläßt, ist eine ,, Beleidigung" für ihn. Er muß fizzen bleiben, bis ein französisches Gericht ihn freispricht. Warum dann nicht auch alle übrigen deutschen Generä e, von Wilhelm II. angefangen, die drüben unter Anflage gestellt und zum Teil in ihrer Abwesenheit verurteilt worden sind, nach Frankreich gehen und für ihre Un schuld fämpfen müssen, das verschweigt die Deutsche Beitung". rung Na hufius' mit der Ueberschrift 3 wangsweise be Die ,, D. A. 3." versieht ihre Nachricht von der Amnestieneral v. Nathusius war vernünftigerweise mit seiner Begnagnadigt!" Das ift. wie unsere Leser wissen, falsch. Der Gedigung einverstanden und hat, um sie zu ermöglichen, sein Revisionsgesuch zurückgezogen.
Der Berliner Lofalanzeiger" glaubt den schmerzlichen Fall in folgender Weise bereinigen zu können:
Die französische Linkspresse hat jo laut genug auf die„ Gefahren“ hingewiesen, die der Urteilsspruch von Lille für die Linksparteien in Deutschland bedeute, nährend sie feine Spur von Ver ständnis dafür zeigte, daß diefes himmelschreiende Unrecht um feiner felb ft willen aus ber Welt gefchafft werden müßte. Die abgrundtiefe Niedertracht der Gesinnung, die sich in diesem Verhalten der französischen Deffentlichkeit cffenbarte, sie ist der bleibende Faktor, mit dem wir zu rechnen haben, so sehr auch der„ Borwärts" und ähnliche Blätter nun wieder bereit sein werden, das angeblich demokratische Frankreich in ihre Arme zu schließen, nur damit recht schnell wieder das nötige Gras über den fotalen Zwische fall nachfen möge. Sie fönnnen fich darauf verlassen: Das deutsche Bolt wird über den Fall Nathusius nicht zur Tagesordnung übergehen, nicht heute und nicht morgen, zumindest so lange nicht, nic die Listen der sogenannten Kriegsverbrecher in Frankreich noch in Straft bleiben. Diese Quelle des Haffes zwischen den beiden Nationen fann nur von Frankreich geschlossen werden. Herr Herriot ist nich Frankreich .
Damit ist das Wort der Situation glücklich heraus: Niedertracht!" Ja, es war eine Niedertracht, jezt gerade vor den Wahlen den Herrn v. Nathusius freizulassen; Die armen Deutschnationalen spüren es in allen Gliedern und ihnen ist speiübel. An was tann man sich überhaupt noch halten, wenn so etwas passieren tann!