Abendausgabe
Nr. 560 41. Jahrgang Ausgabe B Nr. 280
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Vorwärts
Berliner Volksblatt
5 Goldpfennig
Donnerstag
27. November 1924
Berlag und Anzetgenabteilung: Gefchäftszeit 9-5 Uhr
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Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
Gegen Anmaßung und Heuchelei.
Gewerkschaftsantwort an Unternehmerverbände.
Die Spizenorganisationen der Arbeitgeber versuchen seit der Reichstagsauflösung dem deutschen Bolt zu beweisen, daß de heut ge wirtschaftliche Lage die Abkehr von der seit Jahren in Deutschland eingeschlagenen sozialen Richtung bedingt.
In einer gemeinsamen Kundgebung suchen der Reichs verband der deutschen Industrie und die Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände eine Preis- und Lohnpolitik zu recht fertigen, die notwendigerwe se die
schwersten Wirtschaftskämpfe nach sich ziehen muß. Ausgehend von der Schilderung der durch den Krieg und die Nachkriegszeit verursachten Notlage unferes Bolles wendet sich die Kundgebung gegen die bisher ge Steuers, Berkehrs- und Sozialpolitik des Reiches und gegen jed: internationale Bindung auf dem Gebiete der Arbeitszeit. Man fordert durchgreifende Erleichterung der Die Unternehmungen unmittelbar treffenden Steuern und Verkehrstar fe, die restlose Wiederherstellung der Vorfr'egsarbeitszeit und Verhinderung jeder Lohnsteigerung Die Erfüllung dieser Forderungen machen die Arbeitgeber zur Voraussetzung für ihre Mitwirkung beim Preisabbau.
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Die Spitzenorgan fationen der Arbeitnehmer erheben gegen das Vorgehen der deutschen Arbeitgeber entschiedenen Protest. Industrie und Handel sind durch Wiederaufrichtung unferer Bollhoheit im Westen von erheblichen ausländischen Kon furrenzschwierigteiten in Fortfall gekommen und die Reparationsleistungen werden im laufenden Jahre durch die Mittel der Anleihe gedeckt.
sah dazu die Arbeitnehmer mit weiterer Verschlechterung ihrer Lage durch Verlängerung der Arbeitszeit und durch vermehrten Lohndrud. Mit Nachdruck wenden sich die Gewerkschaften gegen die Behauptung der Industrie, daß eine schematische Verkürzung der Arbeitszeit und ein hinauftreiben der Löhne an der Berteuerung der Produktion schuld seien. Das Gegenteil davon ist erwiesen. Die Arbeitszeit ist seit Jahresfrist schematisch verlängert worden, ohne jedes wirkliche Bedürfnis der Wirtschaft. Die Löhne find weit unter Friedensstand herabgeseht, ohne daß eine merkliche Senfung des Preisniveaus eingetreten wäre.
Die Gewerkschaften verlangen eine Arbeitszeit, die ohne dauernden Nachteil der Gesundheit
geleistet werden kann und Raum läßt für die Mitarbeit aller Arbeitsfähigen, und einen Lohn, der den deutschen Arbeiter nicht tief unter den Stand aller Breduktionsländer herabdrückt, sondern ausreichend ist für die Erneuerung der, förperlichen, geistigen und gesellschaft lichen Lebensbedingungen.
Insbesondere ist die Aufrechterhaltung der 3 wölfftunden schichten in der Schwerindustrie, in denen die Arbeiter unter hohen Temperaturen, Dünften, Dämpfen oder chemischen Einflüssen leiden, un verträglich mit den Vorbedingungen einer gefunden Wirtschaft, die nich zuletzt auf einer gefunden und arbeitsfreudigen
die Micum Berträge find freit, die Belastungen durch Arbeiterschaft beruhen.
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Alles dies ze gt, daß die deutsche
Industrie jeht unter erheblich günstigeren Verhältnissen arbeiten fann als vor Schaffung dieser Erleichterungen. Daß fie fich trot dem zu diefer Rundgebung verstanden hat, beweist. in welchem geringen Umfange bei ihr Verständnis für die gerechte Forderung der Arbeitnehmer auf gleichmäßige Berteilung der zu tragenden Lasten vorhanden ist.
Die Gewerkschaften steffen feft, daß alle bisherige steuerfiche Erleichterung, auch die Anfang Oktober vorgenommene her a b fegung der Umfassteuer von 2½ auf 2 Proz. und die Er mäßigung der Frachtfäße fich
bisher in feiner Weise preisfentend ausgewirkt haben. Die hierdurch gewonnenen Beträge sind allein den deutschen Unternehmern zugute gekommen.
Die deutschen Arbeitgeber haben sich während der Inflation, indem sie die Steuern in völlig entwertetem Gelde zahlten, der Steuerleistung entzogen. Den größten Teil der Steuern trugen die Arbeitnehmer infolge der einseitig belastenden
Lohnsteuer.
Die Arbeitgeber verstanden auch bei der Sanierung der Währung fich frühzeitig fchadlos zu halten, indem sie durch hohe Goldpreise den Konsum in der ungeheuerlichsten Weise belasteten, durch Maffenentlaffungen die Arbeiter und Angestellen der Arbeitslosigkeit überlieferten, die Arbeitszeit verlängerten und die Löhne herabsehen.
Dieses System muß zu schweren Wirtschaftsstörungen führen, da die Arbeiter dieser Betriebe fich nicht dauernd zu solcher mörde. rischen Arbeitsweise verftlaven lassen.
Die fofortige Einführung des Dreifchichtenbetrie. bes in diesen Industrien halten die Gewerkschaften auf das dringendste geboten. Im übrigen haben die deutschen Arbeiter ein
gefeßliches Recht auf den Achtstundentag.
Auch das Washingtoner Abkommen hat der Arbeiterschaft dieses Recht zuerkannt. Die deutschen Gewerkschaften verlangen baher, daß die Reichsregierung ihre wiederholt angefündigte Absicht, diefes Abkommen zu ra'ifizieren, ausführt.
Die Gewerkschaften find sich völlig einig, Deutschland wirtschaft. lich stark zu machen und so bald als möglich von den ihm auferlegten Lasten zu befreien. Der Weg zu diesem Ziel ist aber ein anderer cls der der Arbeitgeberschaft, die im Bougefühl ihrer wirtschaftlichen Macht die Arbeitnehmer durch ein Dittat zur alleinigen Tragung der Lasten zwingen will. Die Gewerkschaf'en müssen verlangen, daß die Arbeitgeber ihren Teil der Lasten auf die eigene Schulter nehmen, und daß das Höchstmaß an persönlicher Leistung, das von jedem erwartet werden muß durch eine nicht auf Raubbau eingestellte Arbeitszeit- und Lohnpoli'it gesichert
wird.
Die Arbeiter und Angestellten werden sich meder durch Versprechungen noch Drohungen in der Vertretung ihrer gewerkschaftlichen Grundfäße und Errungenschaften beirren Lassen Sie wissen, daß starte Gewerkschaften den besten Schutzwall
bilden gegen die wahrlich nicht auf papiernen Rundgebungen be
9llgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund. Allgemeiner freier Angestelltenbund.
Alle Lasten der Deflation wurden auf die Arbeitnehmer abgeschränkten arbeiterfeindlichen Absichten des Unternehmertums. wälzt, ohne daß dadurch eine Senfung des Pre sniveaus eintrat. Die Kaufkraft der Löhne und Gehälter hat sich beständig verringert. Während sich für die deutschen Arbeitgeber die Lage durch die Festigung der Mart geklärt und durch Seuererleichterungen gebeffert hat, fordern sie jetzt neue Vergünstigungen und bedrohen im Gegen
Diskrepanz!
Begriffsverwirrung im Lager des Bürgerblod. MTB. meldet aus Kassel :
Der Gattin des Generals vont Nathusius ist vom Reichsminister Stresemann folgendes Schreiben zugegangen: Wie nunmehr feststeht, hat sich die franzöfifche Regierung entfchloffen, dem General die Freiheit wiederzugeben und damit das ihm angetane Unrecht wieder gut zu machen.
Wenn auch das Gerichtsverfahren auf die Ehre des Generals feinen Schatten geworfen hat, ist es doch eine Genugtuung für uns alle, daß so rasch eine förmliche Rehabilitierung gefidert werden konnte. Ich hoffe, daß die Erinnerung an die forgenvollen Stunden, die Sie haben durchleben müssen, die Freude des bevor stehenden Wiedersehens nicht beeinträchtigen wird. is
Der Kyffhäuser- Bund nennt in einer Eingabe an die Reichsregierung die Begnadigung eine weitere Infamie". Der Außenminister Dr. Stresemann nennt sie eine förm liche Rehabilitierung". Damit solidarisiert sich der Außenminister des Deutschen Reiches mit einer Infamie. Dr. Stresemann ist also felbft in den Augen der Kriegervereinslerein infamer Geselle!
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Soweit haben wir es in Deutschland gebracht, dank der ,, vaterländischen" Hegmethoden. Die Begriffsverwirrung ist im Lager der Rechtsparteien soweit fortgeschritten, daß die einen für infam halten, was die anderen begrüßen.
Diese Distrepanz"- um für das gute deutsche Wort Mißverhältnis das Lieblingsfremdwort des Herrn Stresemann zu gebrauchen ift besonders start im Lager der Deutfchen Bolkspartei. Ihr Führer und„ bester Kopf" erblickt in der Frei Iaffung Naihusius-und mit Recht eine iedergut machung des angetanen Unrechtes" und eine förmliche Rehabilitierung", während ihr Zentralorgan, die Zeit",
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Gewerkschaftsring Deutscher Arbeiter-, Angestellten- und
Beamtenverbände.
Die alles andere überschattende Bedeutung der Rei tagswahlen, von deren Ausgang die Geschicke Deutschlands nicht nur für die nächsten vier Jahre, sondern vielleicht für Menschenalter abhängen und damit zugleich ein gutes Stüc der Zukunft Europas , hat das Interesse für die gleichzeitig stattfindenden Wahlen zum preußischen Landtag naturgemäß start in den Hintergrund gedrängt. Und doch hängt beides aufs engste zusammen. Wie einst die alten Konservativen auf dem Umwege über Preußen das Reich beherrschten, so wissen ihre Nachfahren von heute, die Deutschnationalen, sehr wohl, daß selbst ein durchschlagender Sieg im Reiche für sie nur ein halber Sieg wäre, wenn es ihnen nicht gleichzeitig gelänge, auch in der preußischen Regierung maßgebenden Einfluß au gewinnen. Weit wichtiger a's das Reichsminifterium des Innern, das heute schon in der Person des Herrn Jarres, ein Mann wenn nicht ihrer Bartei, so doch ihres Geiftes, inne hat, ist ihnen das preußische Ministerium des Innern. Durch dessen Befiz hoffen sie sich die Verfügung über den ganzen preußischen Verwaltungsapparat und über die preußische Bolizei wieder in die Hände zu spielen- das heißt die entscheidende Gewalt über Preußen und das Reich. Und so ist es nur folgerichtig, wenn in den Wahlreden und Flugschriften der Rechten der Kampf gegen das verhaßte System Severing " einen besonders breiten Raum einnimmt.
Damit ist aber auch für die entschieden republikanischen Parteien, insbesondere für die Sozialdemokratie, die Bedeutung des preußischen Wahlkampfes flar umrissen. Je wütender die Rechte gegen die Bastion Severing anrennt, um so mehr müssen wir unsererseits das Letzte an Kraft aufbieten, um diese Bastion für die Republit zu erhalten.
Das System Severing ! Was die Rechte einen schamlosen Mißbrauch des Innenministeriums für parteipolitische Zwede zu nennen beliebt, ist in Wahrheit nichts anderes a's der immer noch in seinen ersten Anfängen steckende Verfuch Seve rings, den schamlofen Mißbrauch, den das alte Regime viele Jahrzehnte hindurch für die parteipolitischen 3mede der Rechten mit der inneren Berwaltung Breußens getrieben hat, endlich wieder gutzumachen. Ift es denn wirklich schon vergeffen, daß im alten Breußen schlechterdings alle leitenden Beamtenposten den Männern der Rechten vorbehalten waren? Einmal ist( fieht man von den verzweifelten Experimenten im letzten Kriegsjahre ab, a's alles schon verloren war) unter Bilhelm II. ein dem äußersten rechten Flügel der Nationalliberalen angehörender Herr, der schwerindustrielle lange Möller, kurze Zeit Handelsminister gewesen. einmal hat es im alten Preußen einen nationalliberalen Oberpräsidenten gegeben Bennigsen und im letzten Kriegsjahre murde auch einmal ein Nationalliberaler Regierungspräsident; das war der heutige vollsparteiliche Landtagsabgeordnete v. Campe und seine Berufung an die Spike des Regierungsbezirts Minden erregte als ganz ungewöhnliche, Kon effion drei Ausnahmen abgesehen, die sich zudem über vier Jahran die Linke" damals allgemeines Aufsehen. Bon diesen zehnte verteilen, war in der preußischen Berwaltung schlechterdings alles fonservativ vom Minister angefangen bis zum letzten Landrat. Ein Blick in die lepie Borkriegsstatistik zeigt, daß von den zwölf preußischen Obernräsidenten neun und von den sechsunddreißig Regierungspräsidenten sechsundzwanzig adlig, alle achiundvierzig Herren aber streng konservativ waren. Bei den Landräten war es nicht anders gab Regierungsbezirke, in denen diese Herren samtlich
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es
gestern noch die Ueberschrift verwendete:" Richterwünschte nicht nur konservativ, sondern auch adlig waren. Ein forts
Gnade".
Diskrepanz! Diskrepanz!
Gegen die Versackungspolitik. Trier , 27. November. ( Eigener Drahtbericht.) Der zweite Borfißende der Ausgewiesenen von Rhein und Ruhr, Johann ma 3, schr ibt unferem Trierer Parteiorgan:
schrittlicher oder forialdemokratischer Landrat, Regierungspräsident, Oberpräsident oder gar Minister wäre im alten Preußen ganz undenkbar gewesen.
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Hat nun Severing dieses System etwa um gefehrt, worüber sich die Herren von der Rechten doch am allerwenigsten beklagen dürften? Keineswegs! Bon den preuBischen Oberpräsidenten sind heute vier, von den Regierungs3ur Zeit, als es den Ausgewiesenen und Berdrängten von präsidenten sind sechs, von den Landräten achiundfünfzig MitRhein und Ruhr während ihres Aufenthaltes im Gafiland finanziell glieder der Sozialdemokratischen Bartei, wozu in ganz Preußen am schlechtesten ging, wurde der Gedanke der Berfadungs noch elf sozialistische Polizeipräsidenten kommen. Das ist politit in die Debatte geworfen Im Auftrage des Reid, sver etwa mit Bayern verglichen- gewiß ein sehr erfreulicher Anbandes der Ausgewiesenen von Rhein und Ruhr hatte ich mit dem fang, den die Republik der Tatkraft des Genossen Severing dritten Borlizenden des Reichsverbandes gerade in diesen Tagen verdankt, aber es ist eben doch nur ein Anfang. wenn man eine Besprechung mit dem Preußischen Ministerpräsidenten, Herrn sich vergegenwärtigt, daß z. B. von den siebenunddreißig vorBraun, in der der Ministerpräsident mit aller Deutitchkeit mehr- handenen Landratsämtern in Ostpreußen sich nicht weniger mals die Unzertrennlich feit der Rheinlande von als zwanzig auch heute noch in den Händen ehemals., fönigPreußen betonte und den Ausgewiesenen für ihre Opfer zur Erlicher" Beamten befinden, denen nur vier sozialdemokratische Es gibt Regierungsbezirke, die haltung der Rheinlande bei Breußen besonders den Dank der preu. Landräte gegenüberstehen hifchen Regierung aussprach. Es ist nichts anderes, als eine ab auch heute noch feinen einzigen oder doch höchstens einen fichtliche Täuschung der deutschen Wähler, das Gegenteil zu be- fozialdemokratischen Landrat aufweisen, und zwar nicht nur im Often, sondern auch im industriereichen Westen und Südhaupten." westen Preußens. Ebenso fönnten manche Oberpräsidien und Bezirksregierungen genannt werden, unter deren sechs bis acht Dugend höheren Beamten sich auch heute noch kein einziger Sozialdemokrat und nur ganz vereinzelt einmal ein befindet, während alles Demokrat oder Rentrumsmann andere sich mehr oder weniger offen zur Rechten. oft zur äußersten Rechten, bekennt. Und in manchen Ministerien ift es nicht anders...
Kairo , 27. November. ( Reuter.) Die brifischen Militärbehörden verhafteten den früheren Unterstaatssekretär des Innern Abdel Rahman bei Fahmi, der im Jahre 1921 in Verbindung mit einer verschwörungsaffäre gefangen gefeht worden war und später, als Zeglul Pascha zur Macht gelangte, wieder freigelassen worden war. Verhaftet wurde ferner Matran Ebed, ein hervorragendes Mitglied der kopfischen Bewegung, der 3aglul Pascha fürzlich auf seiner Reise nach London begleitet hatte. Die Verhafteten wurden in ihren Betten überrascht. Wohin siz gebracht wurden, ist nicht bekannt,