5. Heilage des Vorwärts
Sonntaa, 30. November 1924
Nr. 565 ♦ 41. Fahrgang
das kinö an Oer Ecke. Von Erich Gottgetreu. Es ist nun schon wieder einige Wochen her, wovon ich berichten will; aber das kleine Geschehen ist mir noch so in allen Einzelheiten lebendig, als wenn es mir heute begegnet wäre. Kann man denn das Ueberalltäglich« so schnell vergessen? An einer Straßenecke begegnete es mir, an einer Straßeneck« typischer Großstadtprägung, die— Gott, ste sind sich ja sämtlich gleich Für mich haben sie alle etwas Melancholisches an sich. Nicht wie die Stroßenzüge, die weisen alle irgendwie ins Freie, ins Endlos«— vielleicht auch ins Ungewiße: immerhin, es ist eine Wegrichtung da. Aber jedesmal, wenn man an eine Ecke kommt, könnt« man sich fürchten. Man befindet sich dann in den Krallen des gieren Molochs Stadt und weiß nicht, wie man sich dem grauligen Gesänge am ge- schicktesten entwinden soll. Vielleicht schreibt einmal jemand eine Philosophie der Straßenecke; ich würde jedenfalls über dem Thema wohnsinnig werden. Qualvolle Ding« kommen hinzu. Wenn es Visionen wären, die man schließlich oerscheuchen könnte! Aber es sind Realitäten, an deren Vorhandensein wir all« mitschuldig sind. Der Krüppel auf dem Pflaster, zwei Holzbein«, ein Leierkasten, ein verquetschtes Ge- sicht, kein Antlitz mehr wie Gott es wollte Ewig heiser die Zeitungs- frau. Packen Zeitungen unterm Arm, Lügen stehen drin, täglich giftet sich die Lüge neu im Leben: bist du fern aller Schuld? Auch eine Dirne wartet immer an derselben Stell«, immer an derselben Stelle, sie wußte wohl nie, was Liebe ist. Aber an jener besonderen Ecke, die stets mich bannt, an„meiner" Ecke, steht neulich ein junger Mensch, vier-, fünfundzwanzig Jahre alt, und verkaust automatische Tiere— oder wie man die Dinger nennt. Affen, Hunde, Pferde, die die seltsam« Fähigkeit haben, im Kreise über den Fahrdamm oder über den Fußweg zu laufen, zieht er von morgens bis abends auf, erzählt dem Publikum mancherlei von dem „reizendsten Spielzeug der Gegenwart" und oerkauft wohl quch bis- weilen ein Stück davon. Das glaubt man kaum, wie diese lächerlich bunten Blechsachen das bestialisch quälende Bild an der Eck«»er- ändern können. Fahren nicht die Autos langsamer, läuten nicht die Straßenbahnen wi« Domglocken?— es scheint mir wohl bloß so. Aber das sah ich: der Krüppel, die Zeitungsfrau, die Dirne, sie lächelten, sie freuten sich, sie dachten wohl auch an ihre Jugend zurück. Sicher haben sie sich das Ende ganz, ganz anders vorgestellt. Aber ich sah noch mehr— es war mir wie ein Traum, vielleicht war es dos Wunder. Ein schöner Knabe, vier Jahre alt etwa, kam mit seiner Mutter zur Eck«. Die Mutter blieb lang« am Schaufenster eines Konfektionsgeschäfts stehen, der Junge bei dem Mann« mit den Tieren. Ihr hättet ihn sehen müsien, den Buben, denn was von Gott kommt, das kann man nicht beschreiben. So schön und heilig ist ein Mensch nur, wenn er vom Bitterwasser des Lebens noch nichts gekostet hat. Solch silbergoldnes Haar sah sonst ich nirgends. Und die anblicksfrohen tiefschwarzen Augen strahlten die Jubelmusik einer übervollen Kindesseele. Mit der ganzen Hingabe seiner noch so vollkommen auf die Schau eingestellten Sinne sah der Junge dem lustig-geschäftlgen und doch ernst geschäftlichen Treiben des Ver- käufers zu, die winzigen Hände in den Hosentaschen eines frischroten Anzugs oerkramt. Dieser einfache Wollanzug, der weiße Kragen, der zierlichfeine Kopf— das war ja so selten, so schön, so sonnen-
täglich, daß nicht nur ich, nein, daß all« Leute stehen blieben in, in-- es paßt wohl wirklich nur das höchste Wort: Verzückung Der Krüppel vergaß den Mörder Krieg, die Zeitungsfrau mildert« beim Ausruf die Lügenüberschriften ihres Blattes, die Dirne bändigt« die Frivolität aufgepfropfter Unnatur. Und Leute kamen und gingen, immer mehr Leute, alte und jung«, gute und schlecht«, ste alle blieben stehen, bildeten in Ehrfurcht einen Kreis um das Kind, um das Wunder. Der Schieber stoppte in der Konstruktion neuer Pläne unreeller Geschäfte, der Privatdetektiv hielt ein m der eklen Verfolgung irgendeiner gleichgültigen Privatperson, der Schüler kam ab vom Gedanken niedriger Rache wegen der nun ein-
Montag, öen 1. Dezember, abenös 7 Uhr, im gr. Saal öes ehem. Herrenhauses, Leipziger Str. 3 Appell an öie jungen Wähler Referenten: Gen. Otto Bauer , Wien / Clara Lohm-Schuch Ohne Karlen kein Zutritt. Sozialistische Arbeiterjugend Groß- BerNn Zungsozialistische Vereinigung Groh-Serlin Sozialdemokratische Sludentenvereinigung.
mal naturechten Brutalität eines Kameraden, zwei Freundinnen, die sich stritten, versöhnten sich, der Taschendieb selbst vergaß im dichten Gedräng« seinen Erwerb. Bewölkt war der Himmel, düster, fast schwarz, aber«in Lichtmeer wogte am Eck. So hätte es sein können, so hätte es doch wohl sein müssen. So aber war es: der junge Mann führt« sein« Tiere vor, das Kind sah zu. Das beobachtete ich selbst. Aber ich beobachtet« auch, wi« der Mann dos arme Wurm barsch anwies weiterzugehen, denn es versperr« den anderen Zuschauern den Blick; ich stellte fest, wie der Krüppel, die Zeitungsfrau, die Dirne das Kind gar nicht be- achteten. Ich beobachtete serner, daß weder der Schieber stehen blieb, noch der Mann, den ich für«inen Detektiv hielt. Die zwei Freundinnen zankten sich weiter, nachdem ihre Neugier Beftiedigung gefunden hatte, und der Taschendieb, ich merkte es später an mir selbst, übersah durchaus nicht die günstige Gelegenheit. Und weiter: Ich hatte noch nicht lange gewartet, da kam ein Polizist und verlangte von dem Verkäufer«inen„Gewerbeschein" Ich verstehe nichts von diesen Dingen; aber ich glaube, das muß wohl so sein. Nun, der Mann mit den Tieren hatte keinen solchen Aus- weis, er mußte fort, und vielleicht hat er auch noch Straf« zu zahlen. Der klein« Bub im roten Anzug kam wieder nach einer Welle, dies- mal ohne seine Mutter; als er das Paradies verschwunden sah, war er sehr traurig, auch das habe ich deullich gesehen. Weint« er? Und auch sonst blieb alles wi« erst: Der Krüppel auf dem Pflaster, die ewig heiser« Zeitungsfrau, die Dirne. Kein Lichtmeer der Liebe wogte am Eck, an den Steinmauern abstumpfen die Seelen der Menschen, am Straßeneck zerschneiden sie sich— imm«» bleibt das so in unseren wüsten Städten. Ich aber und du, Bruder, wir all« suchen stets von neuem dos Kind an der Ecke. Das Kind, das Wunder, oft steht es da und wartet, aber selten kommt jemand, der es sieht.
Zilmsihau. Drei Amerikaner. -.Fließendes Gold"(Mozart- Saal) führt In ziemlich unerschlossene Gefilde, die der amerikanisch« Film freilich schon des öfteren benutzt hat. Man sollte meinen, die Freiheit und das ungebundene Leben lockten die Menschen in diese Gegenden, es ist aber nur der Hunger nach Geld, der sie dazu antreibt, die Eben« mit Bohrtürmen zu übersäen. Das Oel ist dort die Allmacht, es ist das fließende Gold, es läßt zwei Paare glücklich werden und tut dem Regisseur außerdem noch den Gefallen,(ich recht behaglich zu einer Sensation ausbeuten zu lassen. Ter Blitz schlägt nämlich in einen Bohrturm. Der junge Mann össnet im brennenden Turm das Ventil, damit das Oel nicht explodiert. Er wird von einem Balldn nahezu erschlagen, das junge Mädchen schleppt den Verletzten in eine Hütt«, diese wird vom Wasser weggeschwemmt, in das Wasser fließt brennendes Oel, das Liebespaar ist von Feuer umgeben, es rettet sich aber durch eine»
Sprung ans Ufer. Das ergibt natürlich«in« fabelhafte Sensation, die zwar daran krankt, viel zu lang und viel zu absichllich zu sein. Auch werden die amerikanischen Schauspieler ans die Dauer langweilig, sie haben alle ein glattrasiertes Gesicht und dasselbe Mienenspiel, bei dem Augen- zwinkern ein bedeutsames Argument ist. Das Marmorhaus spielt ebenfalls einen Amerlkancr, und zwar die Scnsationskomödie„Ter Held der Lüste". Ein Schriftsteller, der dir tollsten Luftabenteuer schildert, ist ein Angsthase sondergleichen, der nicht stiegen kann und keinen Ausstieg wagt. Um aber eine Sensation zuwege Zu bringen, niuß der Zagherzig« ein Konkurrenzsliegen mit einem be- rühmten Flieger unternehmen. Der Tapfere und der Frige sind nämlich Konkurrenten in der Liebe. Der Nichtflieger siegt natürlich, und im Film wird das Unmöglichste möglich. Dazu gebraucht man echt« Aufnahmen. Tricks und viel Kulissenhcrrlichkeit. Sobald die Amerikaner die Groteske verlassen, sind sie vollkommen hilflos. Sie tresfen weder Lustspiel- noch Komödienton. Ihre Kunst in Bildern zu sehen, verläßt sie, sie versteiseu sich aus unwirksame Bühnenregie. In zwei Grotesken sieht man Harald Lloyd, diesen vorzüglichen Akrobaten mit den tollen Regiceinsällen. „Verleumdet"<A l h a m b r a) ist ein siebenaktigcr Film, der eigentlich den Titel„Ich schwor ihn zu hassen" trägt. Folglich ist man von vorn- herein aus allerlei gesaßt. Bvonne ist die letzte aus einem stolzen Geschlecht,„denen die Ehre stets mehr als das Leben bedeutete". Aus einem Eissest wird sie von einem verheirateten Mann verfolgt, den sein« Gattin niederschießt, als er Bvonne gegen deren Willen in seinen Armen hält. Die Gerichtsverhandlung endete„mit der Verbrennung von Bvonnes gutem Rns auf dem Scheiterhausen der Verleumdung". Uvonne geht„in Gottes unendliche Wildnis", wo sie rin Besitztum hat. Sie wähnt es unbewohnt, findet aber dort einen Trapper vor. Man kann zu Recht sagen, um so besser, denn nun kann doch wenigstens jemand die fabelhaften Kostüme bewundern, die sie in der Wildnis trägt. Inzwischen stellt sich dann auch der Richter, von Gewissensbissen geplagt, in der Wildnis ein. Weil der Film aber sieben Akte hat, wird so nebenbei noch erst ein Mann(von seiner Frau) ermordet, den der Trapper im Schnee gefunden hatte. Der Trapper, der in Wirklichkeit ein von dem Richter unschuldig verurteilter Arzt ist, verwundet den Richter. Doch gesundet der Verletzte unter Bvonnes Pflege. Der Trapper, dessen Unschuld inzwischen erwiesen«st, fährt heim, und Bvonne und der Richter werden ein Paar. Einen solchen Inhalt wagen die Amerikaner uns vorzusetzen. Di« schöne Dorothy Philipps spielt dir Hauptrolle, was man sreudig und gerne konstatiert. Allen Solubars nicht schlechte Regie stützt sich vor allen Dingen auf erstklassige Aufnahmen von verschneiten und vereisten Gegenden. Di« Winterlandschasten sind die Sensation dieses Filmes. e.d.
„Komödianten des Lebens." Südliche Landschastsbilder sind«ÜvaS sehr schönes, Kämpfe zwischen Radio. Schmugglern und Grenzauflehern sind etwas Spannendes, ein geheimnisvoller Professor, der blind ist und zum Schluß als sehend und erpreßtes Mitglied der Schmuggler entlarvt wird, ist auch nicht übel, ein Detektiv, der harmlose Kinospieler für die Schmuggler hält, und allerlei Liebesabenteuer anzettelt, interessiert immer, und ein ideales Liebespärchen, das sich nach vielen Fährnissen bekommt, befriedigt stets die sentimentalen Gemüter— sagten sich die Veranstalter dieses Filmes und mischten alle diese Ingredienzien zu- sammen(Mozart-Saal). Automobilversolgungen auf stellen Gebirge-- siraßcn kommen auch noch dazu, so daß das Potpourri wirklich vollständig ist. Georg I a c o b y hatte die Ausgabe, daraus«wen unterhaltende» Spielsilm zu gestalten. Er hat die Fäden nickst strass genug gespannt, die verschiedenen Handlungen verwirren sich, aber an Sensationen wird Er- hebliches geboten. Tadellos ist die Photographie, die in Prachtbildern von den oberitalienischen Seen und Dalmatiens schwelgt. Von den Dar- stellern interessiert Georg Alexander als gefoppte, Detektiv, der aber die Lacher stets auf seiner Seite hat. Bruno K a st n« r macht als schneidiger Grenzossizier und Liebhaber mite Figur. E l g a Brink, Edich Melker und Lorra Schmidt teilen sich in die Damenrollen.>i.
Preußisch-Süddeutsche Klassenlotterie: 1924, bis abend, 6 Uhr, muß die Erneuerung der Lose zur 3. Klasse 24.(250 Lolteri« bei drm zuständigen Lotterteeinnehmer ersolqen Andernfalls verliert der Spiele« sein Anrecki auf da« Lo» 3. Klasse und rn Anbetracht des Mangels an Losen die Möglichkeit zum Weitersviel IN dieier Lotlcrie Di« Ziehung beginnt am ffreitag. de«, 12 Dezember 1924 Es kommen VV00 Gewinne im Scsamlbetrage von 1411000 Sold» mart zur Ausspielung. Der Hilchstgewinn beträgt 100000 Goidmaik.
pur den Weihnachtstisch Beste Fabrikate, groBc Auswahl. Herren-Anzugstoffe 11)— .Kammgarne ".... Meter 20.—, 18.—. TV» Loden-Manchester fc_ für Sportanzüge..... Meter 8.—, 6.—,*1» Marokaln, neue Farben, A_ Wolle mit Seide, 110 breit..... Meter Va Gestreifte und einfarbige Stoffe A SO für Kleider, 105 breit... Meter, 4.—, Me Koch& Seeland Gertraudtenstraße 20/21«eBCnfl£Ä..