Nr. 573 41. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Freitag, 5. Dezember 1924
Diener des Publikums.
Zur Psychologie des weihnachtlichen Ladentisches.
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Lauter Tag
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Stille Nacht".
Selbst wenn die Spezies der„ Mederer" nicht eriftierte, führen die Verkaufsangestellten fein beneidenswertes Dasein, jezt aber vor Weihnachten tatsächlich ein bedauernswertes. Der gewiß romantisch schöne Gedanke, wie wundervoll es doch ist, Bermittler freude stiftender Ueberraschungen zu sein, fann gar nicht zur Entfaltung
Das Zeitalter des Hochtapitalismus hat für den größten Teil| den wenigen Bedürfnissen, deren Befriedigung fie sich zur Aufgabe| direkte und indirekte Beschwerden, Zusammenstöße und Tränen, und unferer Zeitgenossen recht unfitliche Sitten zur Folge. Das ge- cemadt haben, auch volifommen gerecht werden zu tönnen. Solche es ist nur allzu verständlich, wenn dem Verkäufer jeder ber medert", Steigerte Lurusbedürfnis der Menschen zog eine ungeheure Steigerung Spezialgeschäfte sind beispielsweise Buchhandlungen, Handarbeits- wie es fachmännisch heißt, zunächst einmal unsympathisch ist. der Produktion nach sich und die daraus refultierende Notwendigkeit erweitern den Kreis der von ihnen geführten Warengattunger, be läden, Schuh- und Schirmgeschäfte ufw Die Bedarfsartikelgeschäfte schnellster Verbreitung der Waren schuf ein Verkaufssystem, das rein schänken sich aber dafür in der Auswahl. Sie genügen damit einer organisatorisch an sich bewundernswert, im Hinblick aber auf die ganzen Reihe von Bedürfnissen, die meistens in einem gewissen trotzdem herrschende Not der Massen grotest erscheinen muß. Diener inneren Zusammenhang stehen. Die erweiterte Form des Bedarfs: am Werk im Edelfinn des Wortes find nur wenige, die meisten sind artikelgeschäfts ist das Warenhaus. Nimm ein Warenhaus im Westen nur Bediener ihrer Wertherren. Troß Gewinnbeteiligung" und Berlins , im Zentrum, im Norden überall bietet fich dir im anderer illufionärer Werte wird dieser Zwiespalt, der hier noch wesentlichen dasselbe Bild. Schon beim Eintritt schlägt dem Bedeutlicher als überall in Erscheinung tritt, erst mit dem Sozialismus fucher ein betäubender Dunst von noch Rohem, bereits Berarbeitetem, von Unschönem und Edlem entgegen, eine Fülle von Eindrücken, die auf ihn einstürmen, tann er in seinem Gehirn nur mühfelig ordnen, und ein Meer von Licht blendet seine Augen. Schmer fällt es ihm in Zeiten regen Geschäftsbetriebs in den schier endlosen Gängen vorwärtszufommen, und wenn er das Haus verläßt, brummt ihm der Kopf, und er wundert sich, daß er denen, die ihr Beruf den ganzen Tag in den bunten Stapelbau zwängt, nichts maschinenmäßig dröhnt.
überwunden werden können.
Die„ wissenschaftliche Seite".
Der Berfäufer muß genau so ein Meister in seinem Fach sein, wie der Hersteller der Ware selbst. Diese theoretische Forderung ist praktisch nur selten erfüllt, denn wir wissen, daß die Berufswahl junger Menschen aus proletarischen Kreisen, und diele stellen hier vor allen Dingen das Hauptfontingent, nicht nur von der Frage der Eignung und der Liebe zur Tätigkeit, sondern auch von materiellen and anderen Erwägungen aus entschieden wird. Gewiß hat gerade in der Frage zielficherer Schulausbildung die Sozialdemokratie eine ganze Menge erreicht, aber niemand wird sich in der Illusion wiegen, daß das Bildungsmonopol der besigenden Klaffen bereits gebrochen wäre. Benn frühmorgens Tausende und aber Tausende sich in der Untergrund- und Stadtbahn drängen, wenn ebensoviele
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den Mut befizen, mit der Straßenbahn zu fahren, dann befinden sich in diesem Heer der Arbeit auch unendlich viel junge Leute", die ihre Tagesarbeit in den zahlreichen Spezial- und Bedarfsartikelgeschäften zu erledigen haben. Die Spezialgeschäfte führen nur wenige Warengattungen, halten diese aber in der reichsten Auswahl vorrätig, um
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Ueber O'Briens Schuld bestand fein Zweifel. Bertram fannte ja die Einzelheiten. Natürlich vom gewissen Stand punkt aus war er fein gemeiner Mörder, und wenn die Iren verlangten, daß solche Gefangene wie Kriegsgefangene behandelt werden müßten, so fönnte er, Lavington, als Soldat ihnen eigentlich nicht unrecht geben, das Ganze war ein schmutziges Geschäft. Scheußlich! Schlimmer als Krieg.
Er würde selbst den Vorsitzenden des Gerichtshofes anflingeln.
Bertram hörte auf die abgebrochenen Telephonantworten wie auf das Schicksal. Dort der Vorsitzende? Hier Oberst Lavington. Wegen des O'Brien, im muntjoy- Gefängnis, der morgen gehängt werden soll. Sein Schwager, Major Pollard, ist auch hier. Sie wissen schon. Telegramme von London ? Spezialbericht? Also glauben Sie nicht? Muß stattfinden? Aufschub unmöglich? O, bedaure, Sie gestört zu haben. Um 6 Uhr morgen früh? Ja, Ihre Teilnahme? Danke, Herr. Schluß.
"
,, Reine Hoffnung?"
" Nein, das haben Sie wohl leider schon aus meinen Antworten verstanden. Die Gerechtigkeit muß ihren Lauf nehmen und so weiter. Es tut mir Ihretwegen und Ihrer
Schwester wegen schrecklich leid."
Er war voll wunderbarer Höflichkeit und Teilnahme,
aber das fonnte D'Brien nichts nügen.
Die Hinrichtung findet um 6 Uhr statt? Im MuntjoyBefängnis? Ja. Es würden starke Wachen aufgestellt sein. Bertram dankte dem Oberst, gab ihm die Hand und ging. Sein Kommen war vergebens gewesen. Wo seine Schwester wohnte, ahnte er nicht. Und vielleicht war es besser so. Was konnte er ihr sagen? Wie sollte er fie trösten?
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In jener Nacht schlief er ein bißchen auf dem Stuhle feines Hotelzimmers. Zu Bette ging er nicht. Um 4 Uhr morgens wachte er steif und fröstelnd auf. Etwas trieb ihn dazu, nach dem Muntjon- Gefängnis zu fahren. Die Szenen, die an solchen Hinrichtungstagen um das Gefängnis vor sich gehen, sind haarsträubend," hatte Oberst Lavington gesagt. Was für Szenen? Er wollte sich überzeugen.
Acht Stunden stehen.
Sie haben es wirklich nicht leicht, die„ Ladentischler", wenn man fie so nennen darf, ach: Stunden, wenn nicht länger, müffen sie ihre seit im wesentlichen stehend, laufend, fletternd und fich buckend ver. bringen, unber fteter, häufig übertrieben mißtrauischer Kontrolle, mit fnapp bemeffener Mittagspause und sehr schlecht entlohnt. Wirkliche Berufsfreude ist deshalb gerade hier nur selten zu finden, aber es ist anzunehmen daß sie bereits dann in stärkerem Maße vorhanden wäre, wenn auf die fachliche Ausbildung des Verkaufspersonals, das übrigens in den großen Warenhäusern ungefähr zu vier Fünfteln aus Damen und nur zu einem Fünftel aus Herren besteht, mehr Wert gelegt werden würde. Die Unternehmer betrachten ihr Personal gewissermaßen als eine Maschinerie; fie ölen sie nur unzuläffig und wundern sich dann, wenn sie schnell genug läuft. herrscht Mangel an guten Verkaufskräften," flagte einer der Personal chefs, mit denen ich sprach, er sollte sich öfters mit denen, die er noch hat, unterhalten, dann würden ihm die Gründe flar werden. Gerade aus der persönlichen Unterhaltung gewinnt man hier den Eindruck großer Resigniertheit und fernerhin die Ueberzeugung, daß auch da, wo bei der Postenbelegung nach dem Grundsatz Freie Bahn- dem Tüchtigen!" oorgegangen wird, die freie Bahn eine sehr schmale Bahn ist, auf der sich nur sehr wenig Tüchtige vorwärts bewegen fönnen. Scheel angesehen von den Kollegen wird mit Recht der, der sich„ beim Alten" lieb Kind" macht, indem er andere„ verpeßt", um einmal im Jargon zu reden das ist die Verkäuferwelt von der Kehrseite.
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Verkäufer und Publikum.
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" Es
Verkäufer und Publikum das ist überhaupt ein Kapitel für fich, mandymal heiter, manchmal ernst, oft auch beides, immer jedoch lebenerfüllt, so daß es auch oft in Romanform erweiterte Ausgestaltung durch befannte Schriftsteller erfuhr. Bublifum heißt zu deutsch Deffentlichkeit, und der öffentliche Mensch", ein Typus, der im Gegensatz zur Persönlichkeit in erfahredendem Maße fich vermehrt, ist ebenso nervös wie diese felbst. Erst in den Wänden seiner Wohnung wird der öffentliche Mensch genießbar, tritt er in Schwärmen auf, fich dabei in ein Stüd Bublifum verwandelnd, so find seine Opfer zu bedauern. Hilflos ist der Berkäufer gegebenenfalls ihm preisgegeben, und der Ladentisch schützt vor Strafe nicht, falls der Schuh zu eng ist, das Kleid nicht pakt ober der Kaffee nichts taugt. Rommen da drei Jungens in die Abteilung Zuderwaren. 3d möcht' n Biertel Sahnbonbons." Die Bertäuferin flettert nach dem obersten Regal und macht das Berlangte fertig. Der zweite: " Id möchte ooch' n Biertel Sahnbonbons."" Du dasselbe?" fragt die Verkäuferin den dritten, indem sie den zweiten bedient. Nee, id nich," antwortet der dritte und fügt, nachdem alles erledigt ist, hinzu: Id möcht' n halbes Viertel Sahnbonbons." Uebrigens: Kinder als Käufer tut felten gut weder den Kindern, die für das Geld", falls fie es nicht unterwegs verloren haben, mit Borliebe das Vertehrte perlangen, noch dem Berkäufer, der dann bekanntlichsbets schuld" ist, noch den meist elterlichen Auftraggebern. Dann gibt es
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Er fand einen rumpelnden Wagen und gab dem Kutscher die Weisung, ihn zum Muntjon- Gefängnis zu fahren.
Heut' hängen sie Dennis O'Brien," sagte der Mann. ,, Gottes Fluch über sie!"
Um das ganze Gefängnis waren starte Truppen gezogen. Banzerwagen standen aufgefahren und ein Scheinwerfer war auf die dichte Menge von Wartenden gerichtet, welche die ganze Nacht dort ausgeharrt hatten. Es waren meistens Frauen und Mädchen mit Tüchern um den Kopf. Sie waren gekommen, von jeder Klaffe, jedem Alter, und zwischen ihnen bewegten sich Priester, welche die Litanei des Rosenkranzes anstimmten.
Wieder und wieder in endloser Wiederholung murmelte die auf den Steinen knieende Menge:
,, Heil, Dir, Maria voller Gnaden, Der Herr ist mit Dir.
Heilige Maria, Mutter Gottes, Bitt' für uns arme Sünder
Jezt und in der Stunde unseres Absterbens. Amen." Der unheimlichste, schrecklichste Laut aus Menschenmi nd, den Und zwischen jedem Laut erhob sich ein anderer Laut. Bertram je gehört hatte. Es war das Klagen der Frauen. Wie der Schrei der Banshee, des irischen Gespenstes, das er in seiner Kindheit so gefürchtet hatte, tlang es. Der Schrei schwoll an und fant in rhythmischem Stöhnen von all diesen Frauen, die zum Himmel Häupter und Hände hoben, wie ein griechischer Chor. Der Scheinwerfer suchte die Reihen der lichen Seelen erforschen. Zwischen den Bersen der Litanei und emporgewandten Gefichter ab, als wollte er ihre leidenschaftder Klage der Frauen erhoben sich einzelne Stimmen in
furzen Ausrufen und Gebeten:
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„ Heilige Mutter Gottes! Süßer Jefus, erbarme dich feiner! Chriftus, stehe ihm bei in der Todesstunde! heiliger Joseph, tröste ihn! Gott helfe ihm!" da. Ab und zu stieß einer jemanden aus der Menge scharf, Die Soldaten in Feldausrüstung standen bewegungslos aber ohne Brutalität mit dem Kolben zurüd. Bertram war in eine Gruppe von Frauen eingeteilt. Als sie niederknieten, fühlte er sich als einziger aufrechtstehender Mann zwischen ihnen so auffallend, daß er gleichfalls niederfniete. Er beugte den Kopf, als die Gebete wieder anstiegen für eine arme Seele, die in furzem von dem Stricke des Henters in die Emigteit geschleudert werden sollte. Schrecklicher Gedanke! Dennis O'Brien war sein Kriegskamerad gewesen, und noch
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tommen bei der Haft, in der gerade in dieser Zeit naturgemäß ge arbeitet werden muß. Romantit tann leicht nur der aufbringen, der sorgenfiei ist, der im Dienst des Kapitals ftehende Proletarier ift es indes felten. Eine Dame tauft für ihr fleines Töchterchen Puppen und andere Spielsachen in Hülle und Fülle, die Berkäuferin fragt fich dabei vielleicht forgend, ob fie für das Kind, das heute noch hie unterm Herzen trägt, wird die nötigste Wäsche kaufen tönnen. Keine Beit, feine Beit! Weiter, der Nächste! Sie münschen bitte?- Große Runden, fleine Runden, fie fragen, fie suchen, fie taufen, fie tauschen, Betrieb von morgens bis abends. Zwischendurch sollen auch noch hin und wieder die Bestände geordnet und neuantommende Wor verstaut werden, die Berkaufsgegenstände müssen mit Breifen au gezeichnet und die Fenster dekoriert werden, Sonderwünsche äußert der Chef, und wer sie nicht respektiert, der fliegt"- nach Neujahr.
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Gerade zu Weihnachten wird es ja ganz besonders deutlich, daß der Beruf des Verkäufers nicht nur proletarisch ist in seinen mate
vor ein paar furzen Wochen hatte er mit Susan in Bertrams Zimmer in Holland Street gesessen.
,, Heilige Maria, Mutter Gottes, Bitt' für uns arme Sünder
Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens! Amen."
Bum tausendsten Male stiegen diese Worte von der nieenden Menge auf. Eine Frau dicht neben Bertram fiel ohnmächtig auf die falten Steine. Andere beugten sich über sie, um ihr beizustehen. Ein Mädchen weinte laut, ein Junge, fast ein Kind noch, beendete sein Gebet mit dem Fluch:„ Zur Hölle mit England!"
Hier in der Menge war vielleicht auch Susan und weinte und etete für ihren Mann. Als der Scheinwerfer wieder aufleuchtete, suchte Bertram schnell in den Gesichtern, aber ihres war nicht darunter. Ueber den Gefängnismauern froch das Dämmerlicht in den Himmel. Plöglich durchbrach ein filberner Streif die schwarzen Wolfen. Die Menge fah es, und je näher die Stunde der Hinrichtung rückte, desto lauter und verzweifelter erhob sich die Klage der Frauen.
,, Christus, habe Erbarmen mit ihm! Herr erbarme dich seiner!"
Eine Glocke begann zu läuten. Ein Priester stellte sich auf irgendeine Erhöhung und sprach einige Worte zur Menge. Bertram aber konnte sie nicht verstehen. Irgendwo schrie eine Frau laut auf. Alle Köpfe waren gebeugt und eine tiefe hernieder, bevor das Murmeln der Gebete sich wieder erhob. Stille sentte sich, wie es Bertram dünkte, lange auf die Menge Die Dämmerung froch weiter, der Himmel war grau, und es
begann zu regnen.
schnitten. Er war schwach vor Hunger und fühlte sich elend, Bertram fühlte, wie die scharfen Steine in seine Knie falter Schweiß brach ihm auf der Stirn aus, er begann zu Susans Mann! zittern, feine Gedanken verwirrten sich. Dennis O'Brien,
Welches Jahr schrieb man denn? 1921? Nach dem großen Kriege! Zivilisation! Friede! Die Selbstbestimmung der Nationen! Freiheit! Was wohl Joyce jetzt tat? Was war dies ganze Trauerspiel, das Leben? Wo war Gott ? Wo war Susan hier in der Menge? O Jesus! Der filberne Streif nahm zu und die Spizen der Gefängnismauern hoben sich scharf gegen den Himmel ab.
( Fortsetzung folgt.)