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Nr. 20+42. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Die romantische Weltstadt.

Großstadtremanfit ift teine Bare, die auf öffentlichem Marti| felgeboten wird. Ber fie genießen mill, muß fie fuchen und zu finden miffen. Das Zeitalter der Romantif ist vorbei, dahin die Zeiten, wo die Romantit ber Mart Brandenburg durch die Tore der Etabt sich in dieser fortsegte und in Häusern und Schlössern, in Straßen, Blazen und Gäßchen zum Ausdrud tam. Das fapita­fiftische Zeitalter hat auch die gemütlich- romantische Lebensweise der Großstadtbewohner geändert, hat ihre Haushaltung ihre Sitten und Gebräuche, ihren Charafter umgefrempelt und fich gefügig und bienftbar gemacht. Mit der fortschreitenden Industriealisierung ist vor allem aber auch die Romantik des Handwerksburschen vorbei, ber früher bei der Auswahl einer Arbeitsstätte auch die Gegend berücksichtigte, in der sie lag. Ganz dahin ist das Bagabundentum, bas Dafein jener Eriftenzen, die durch angeborenen Leichtsinn und

hand.

Reporterphantasie.

widrige Berhältnisse aus der geordneten Bahn geworfen wurden, wie die Vögel unter dem Himmel nicht fragten, was werden mir effen, momit werden wir uns Meiden, sondern ohne zu säen und zu ernten fich vom himmlischen Bater" unter Zuhilfenahme ihrer In­telligenz ernähren ließen. Gewiß birgt auch heute noch die Groß­stadt Existenzen, die von feiner Boltszählung erfaßt werden, weil fie fein Heim, feinen festen Wohnsih heben. Sie haufen da, wo die Ratur oder ein gütiges Gesand ihnen Unterkunftsmöglichkeiten

bietet.

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Der Mittelweg.

Bon Sir Philip Gibbs .

Hier ist Mr. Pollard, Mutter," sagte das junge Mäd­hen, als sie den Borhang zurückhielt, um Bertram einzulaffen. Wie gut und freundlich, daß Sie gekommen find," sagte die Dame. Ich hätte damals auf dem Markt so gern mit Ihnen gesprochen, aber ich hatte Angst. Wir haben so Ent­jegliches durchgemacht, daß wir noch jetzt vor allem Uner­warteten zittern."

Bertram beugte sich über die Pritsche und füßte die zarie Hand. die ihm geboten wurde.

Bater," sagte das junge Mädchen, hier ist der Herr." Der alte Mann, der da von seinem Stuhl aus Riften auffiand, fah wahrlich nicht aus wie ein Fürst. Beim ersten Anblick erschien er mie ein fdymugiger, perfommener Kerl, der irgendwo draußen genächtigt hatte. Seine Hosen und sein Frack, denn er trug einen Frad, waren fledig und geflict und schlotterten um ihn herum. Aber er begrüßte Bertram mit einer Würde, die ihm die äußerste Armut nicht hatte rquben fönnen.

Es ist eine Freude, wieder einen Gentlemen zu sehen. Bor dem Kriege fannte ich Ihr Baterland gut. Entschuldigen Sie bitte unsere ärmliche Wohnung. Wir sind ruiniert, und ohne meine Frau und Tochter hätte ich den Mut zum Leben

Derloren."

"

Er hielt Bertrams Hand mit längerem Drude in der feinen und fah dann fardonisch lächelnd auf die eigenen Hände hernieder. Sie starrten vor Schmuß. Wir haben nicht ein Stüdchen Seife, und oft ist es schwer, etwas Baschwaffer zu belommen. Aber etwas Lee fönnen wir Ihnen doch kochen, wenn Sie uns das Bergnügen machen wollen, ihn mit uns zu trinken. Nadia, ist genug Lee für alle da?"

Ja, Bater, ich werde ihn fertig machen." Seit vier Jahren," sagte der alte Mann, leben mir von Brot und Tee, Brot und Tee, Brot und Tee. Bei folcher Nahrung ist es schwer, Mut zu behalten."

Aber jeßt, wo wir auf dem Markt etwas verfaufen tönnen, ist es beffer," sagte die Dame. Nicht wahr, Alegan­ber? Trotz der Ticheta haben wir nämlich ein paar Rostbar­feiten verftedt."

,, Aber meine Liebe! Man fann nie missen, wer horcht!" fagte der alte Mann und blidle nervös auf den Vorhang. ,, Es ist hier ganz sicher, wenn wir englisch sprechen," be­ruhigte ihn seine Frau.

Sie müffen Schredliches erbulbet haben," jagte Bertram mitleioig

Wo bleiben fie in der Nacht?

rigkeiten. Die polizeiliche Kontrolle war nachts verschärft, das Uebernachten auf den Bänken deshalb mit einigen Unannehmlich feiten verbunden. Burden die Bartbewohner erwischt, so winfte das Arbeitshaus in Rummelsburg . Davor hütete man sich. Die Sonnenbrüder fuchien deshalb Ruhestätten auf, die der Polizei niche ohne meiteres auffielen. Auf Hausböden, in Gebüschen, fofern es die Jahreszeit noch zufieß, in veritedten Nischen, auf Lagerplähen bezogen sie ihre Ruhestätten. Den Fröbel", wie in der Zunft Sprache das Ainl für Abdachlose hieß, benutzten nur die in der Um­dann aber auch die Kontrollen mancher Art, die dort ausgeübt wur­gegend Ansässigen. Der Weg zum hoben Norden schredte piele, den. Nicht selten fam es vor, daß die Befiher offener Fuhrhöfe, mie man sie noch heute in den mehr an der Peripherie gelegenen Stadtvierteln findet, es nicht ungern sahen, daß ein, zwei der Groß Stadtvagabunden in Möbelwagen oder sonst wo auf dem Fuhrhof schliefen. Die Fuhrherren tannten ihre Leute; fie mußten genau, mas fie ihnen zutrauen fonnten und ob das Eigentum vor ihnen ficher war. Hatten sich die nächtlichen Gäste erst mal bewährt, so räumte man ihnen auch wohl einen bequemeren Schlafplatz ein etma auf dem Heuboden, oder unter einem Strohschuppen. Der Fuhrherr fparte den Wächter für sein Grundstück, die Leute hatten ihr stördiges, warmes Quartier und sorgten unter sich dafür, daß niemand Ungehörigteiten beging, die den Berlust der Schlafstelle und vielleicht noch die polizenich Festnahme im Gefolge gehabt hätten. Gelegentlich baffen sie auch einmal beim Stalldienst oder beim Ber­laden. Dann fielen neben dem Effen auch ein tüchtiger Schnaps und ein paar Groschen Kleingeld ab. Meist ließ jedoch der geschwächte Körper schwerere oder ständige Arbeit nicht mehr zu. Sie wurden ganz automatisch zu sogenannten Arbeitsscheuen".

Der Aufenthali während der Nacht machie immer einige Schwie­

Berlogene Großstadtromantik.

Bor einiger Zeit wollte eine Berliner Morgenzeitung festgestelit haben, daß besonders unter den Spreebrüden fich allnächtlich ein leb­hofter Hotelbetrieb von Leuten zweifelhafter Couleur entwidele. Ab­gefchen davon, daß die meisten der Brüden schon infolge ihrer Kon fttuftion und Bauart für das Uebernachten ganz und gar nicht ge­eignet find, fehlt es gerade in Berfin an den Kaistraßen, die unter den Biüden hindurchführen und so ein bequemes Beziehen der Schlafgelegenheiten ermöglichen würden. Auf den beigegebenen Bildern in jener Zeitung hatten die Schlafgäfte in den Brüdenbögen angeblich einen regelrechten Wohnbetrieb eingerichtet, ja man jah fogor auf einer ausgezogenen Leine Wäsche zum Trodnen baumeln. Es fehlte in der Phantasie des Berfaffers wie auch des Zeichners nur noch der transportable Kachelofen. und die beschlagnahmefreie Semmerwohnung wäre fertig gewesen. Wir empfehlen dem Bericht erftatter jenes Blattes den Aufenthalt in der Eisenkonstruktion einer Brüde selbst zur Sommerzeit nicht. Es foll nicht gerade angenehm fein. auf einem Eisenrost von Trägern aller Art, vielleicht sogar noch über den Wellen" schwebend, in der faften Zugluft eines Brüden bogens zu nächtigen. In dieser unserer Auffassung bestärft uns auch die Auskunft der zuständigen Stelle des Bolizeipräsidiums. Die grüne Polizei, wie die Streifen der Kriminalverwaltung, die allnächtlich über 100 Beamte unterwegs hat, finden wohl ab und zu einen Looiergaft in den Sandkästen der Straßenreinigung oder auth in den Trinthallen und Geltermofferbuden. die mit Nadchlüffeln geöffnet werden Brüdengäfte find aber selbst vom Reichswaferschutz in Berlin noch nicht gefunden worden. Die Phantasie ist entweder mit dem Artikelschreiber durchgegangen oder er hat die Derhältnisse wir denken an Paris strupellos auf Berlin übertragen. , Sonnenbrüder".

anderer Städte

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Dienstag, 13. Januar 1925

fragen befaßte, als damit, in gemeinsamer Aussprache den richtigen Dreh für die Befriedigung der Levensbedürfnisse zu finden. Dazui gehörte auch eine gebörige Borton Mtohoi. Die benachbarten Budifer hielten für ihre Stammfunden befondere Mischungen bereit: Nordhäuser, Ram mit Ingwer aber Getreidetümmel waren hie

Nackte Wirklichkeit.

Thin

beliebten Darben. Die Hauptsache war, daß fie tuchfig in ber as gepichten Stehle brannten. Oft genug reidte die Zusammenjegung bes Budifers nicht mehr dazu aus; Dann wurde zum nächsten Rezep budifer, dem Apothefer, die Suffucht genommen, der für den er­bettelten Groschen ein zwar geringeres, dafür aber um fchärferes Quantum Hoffmannstropfen Heferte. Der Bartwächter und der Schuhmann belästigten die Sonnenbrüder nicht allzu viel. Es waren verhältnismäßig ungefährliche Elemente, die zufrieden waren, wen fie in der Sonne fit wärmen fonnten. Sie hatten nichts son Dem alten Bagabundengeift ihrer Sunftgenoffen von ehedem, waren in Grunde viel fonservativer, an die Sojolle gebundener als diele und verlegten ihren Sit" nur in dringenden Notfällen von der Büfen einer Partanlage nach einer andern. Meist hielten thre: mehrere zu einer treuen Rotgemeinschaft zufammen. Die Mitglieder ergänzten fich bei der Beschaffung ihrer Lebensbedarfs artifel: Während sich ber eine meifterhaft auf die Erbettelung vor Bargeld verstand, entwickelte der zweite wieder mehr Talent au Stiefel und Kleidung". Es gab( und gibt heute noch) Spezialisten auf Stullen, mit denen dann ein gutgebender Handel unter den Berufsgenoffen getrieben wurde. Zur Mittagszeit wurde auf ber befannten warmen Löffelstief" gefochten. Die älteren Sunk­genoffen, denen das Abklappern der einzelnen Häufer und Treppen schon emige Schwierigkeiten bereitete, suchten die Bollstüchen auf, wo fie fich entweder durch Abservieren ihre Borton verdienten, oder die stehengelaffenen Reste zufammentratzien.

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Berstärkte Polizeifontroffen und die Ungunft der Verhältniffe Die soziale Seite solcher Großstadtverbäiffe ift für aufgeficke Arbeiter und ihre Bresse das ausschlaggebende. Bir önnen in den lassen sie immer mehr verschwinden, die Benn- oder Sonnenbrüder. Wer kennt fie noch, die trostlosen, vom Leben ausgemergelten Be ftalten, die Bantbeamten, die tagsüber die Bänke ber Bartanlagen dunklen Eriftenzen einer Großstadt, wie fie geschildert wurden, bevölkerten und dort ihre Bofitif trieben, die fich weniger mit Staats. i nicht notorische Arbeitsscheme, vielleicht sogar Berbrecher aller Art

,, Es ist nicht in Worten auszudrücken," flagte der alte| tonnten wir uns weder waschen, noch die Wäsche wechseln. Es Mann. Ich wundere mich nur, daß ich nicht verrückt ge= worden bin.

Sie versuchten, Bertram eine Schilderung ihrer Leiden zu geben und überließen es ihm, sich das Schlimmste selbst auszumalen. Sie waren, wie alle anderen Aristokraten, mit Gemalt aus ihrem Balaste hinausgeworfen worden, ohne mur ein Stüd mitnehmen zu dürfen, und der Fürst tam sogleid) ins Gefängnis. Nadia war zur Zeit des Revolutionsaus bruchs in Paris , in voller Sicherheit, machte sich aber sofort auf den Weg nach Rußland , fehr unbesonnerermeise, wie ihr Bater sagte, in dieses Rußland , in welchem der rote Schrecken herrschte. Als Bauernmädchen verkleidet, war sie auf einem

Militärzug, der mit roten Soldaten vollgepfropft war, nach Moskau gefommen.

,, Aus Liebe zu uns," sagte die Mutter und streckte die Hand aus, um sie zu streicheln. Gott wird es ihr lohnen. Ohne sie wären wir gestorben."

,, Es war nur meine Pflicht, Mütterchen," sagte Nadia, als sie sich niederbeugte, um die Mutter auf die Stirn zu füffen. Reine Sefunde habe ich es noch bereut."

"

Dann wandte sie sich lächelnd zu Bertram. Meine Eltern nehmen mein Zurückkommen viel zu hoch auf. Ich märe auf alle Fälle wiedergekommen. Ich bin Russin, und hier ist mein Vaterland. Mit dem russischen Bolte will id) leiden, und wenn es sein muß, sterben.

Bertram mußte an die Gräfin Lydia und ihre Schwester denken, die, gleich so vielen anderen Geflüchteten, in aller Behaglichkeit im Auslande lebten. Er bewunderte dies junge Mädchen, die im Gegensatz zu ihren geflüchteten Lands leuten, die nichts für ihr eigenes Bolt taten, als ihm durch ihre Inirigen vielleicht noch mehr zu schaden, mutig mitten hinein in diefen Terror gekommen war.

Er schaute zu ihr hinüber, wie sie den Samowar heizte, in ihrem ärmlichen Kleid, mit Stiefeln, die jeder Bagabund verächtlich fortschleudern würde, und doch in feder Bewegung poll Eleganz und natürlicher Anmut. Ihre Jade und die Beizkappe hatte sie abgelegt. Ihr schwarzes Haar, das ihr in Bellen über die kleinen Ohren fiel, rahmte das weiße Be ficht ein wie eine Radierung von Hellen.

Sie hatte sehr flare Augen mit langen dunklen Wimpern und eine breite, weiße Stirn. Der Mund mar rot und fein gefchnitten. Sie mußte seinen Blid bemerfen und vielleicht die Bewunderung darin lesen, denn eine garie Röte tieg langiam unter der seinen Haut empor.

Wie lange waren Sie gefangen, Fürst?" fragte

Beriram.

3wei furchtbare lange Jahre. In der ganzen Zeit

war viel schlimmer als der Tod, eine Schmußhölle. Wenn die Tscheta mich verhörte, lächelte ich, und andere Gefangene weinten, wenn ich zum Berhör aus der Zelle geführt wurde. weil sie glaubten, ich würde zum Lode geführt. In jener Weit," sagte ich, brauche ich feine frische Wäsche mehr.

Ich glaube, fie hatten schließlich Mitleid mit meinem Gatten," sagte die Fürstin. Er war stets liberal denfent gemelen und sehr freigebig gegen die Armen."

Ich war ein Freund Tolstois," flagie der alte Mann. korrespondierte mit Krapotkin, ich war jogar felbft etwas von einem Revolutionär, den ich glaubte an die Notwendig feit der Freiheit für Rußland . Aber ach, die Revolution bat alle Freiheit getötet, die wir noch hatten, und die Tyrannei Lenins ist schlimmer als die Regierung Iwans des Schreck­lichen,"

Er sprach die legten Borfe flüfternd, nahe an Bertrams Ohr, und hielt dabei noch die hand vor den Mund. Nadia reichte Bertram eine Taffe Tee und jente fich dann auf einen hölzernen Schemel.

Einen Augenblid herrschte Schweigen, als schwere Tritte den steingepflasterten Gang entlangfamen. Blößlich wurde der Vorhang zurückgezogen. Ein junger Mann in der Uni­form der Roten Armee stand da.

Eine Sefunde war Bertram erschreckt zujammengefahren, denn ihm schoß der Gedanke durch den Kopf, daß vielleicht sein Besuch der unglücklichen Familie neue Leiden eingetragen hätte. Aber die Fürstin lächelte freudig. Mein Sohn!" Romm herein, Aleris. Wir haben einen englifchen Gaft."

Der junge Mann falutierte, schüttelte Bertram die Hand und sprach dann in ausgezeichnetem Englisch: Freut mid fehr, Sie kennenzulernen, mein Herr. Meine Eltern hatten mir schon gejagt, daß sie um die Ehre Ihres Befuches ge beten hatten."

Er setzte sich auf die Ecke des Schemeis zu seiner Schwester und legte zärtlich den Arm um site: Bie geht's Nadia?"

"

Die Fürstin schien in Bertrams Gedanken zu lesen: Sie find erstaunt, daß wir einen Sohn in der Roten Armee haben. nicht wahr? Für unsere jungen Männer gibt es feine Bab Entweder Rote Armee oder der Tod."

Der Jüngling, er mar jaft noch ein Knabe, fah lächelnd an feiner Uniform herunter. Ich trage diesen Rod nicht nur aus Todesfurcht. Ich bin Musse und beife unseren Grund und Boden vor jedem Eindringling zu schüßen. Erforder die Ehre und die richtige Baterlandsliebe das nicht, met: Herr?"

( Fortfehung folgt.)