Nr. 26+42. Jahrgang
alada 1. Beilage des Vorwärts
Fünfzig Jahre Taubstummenschule.
Sm Jahre 1778 gründete Samuel Heinide, vormals Kanior| in Eppendorf bei Hamburg , in Leipzig die erste deutsche Unterrichtsanstalt für Taubftumme. Zehn Jahre darauf errichtete fein Echwiegersohn Dr. Esch fe in Hohenschönhausen für Preußen eme gleiche Anstalt. Sie wurde später vom Staat übernommen und in die Linien- und Elsasser Straße 88 verlegt, wo heute das Gemertfchaftshaus der Metallarbeiter steht. Diese Anstalt war zunächst für taubstumme Kinder von preußischen Staatsbeamten bestimmt, doch wurden von jeher gegen Zahlung von Schulgeld auch Berliner Kin ber aufgenommen. Als indessen mit der zunehmenden Einwohner. zahl auch die Zahl der taubstummen Kinder wuchs, entschlossen sich 1874 die städtischen Körperschaften zur Errichtung einer eigenen Taubſtummenschule, die im Januar 1875 eröffnet, zuerst in der Waffectorstraße, dann in der Blumenstraße, 1885 aber in emem besonderen für sie erstellten Gebäude Markusstraße 49 untergebracht wurde. Erster Leiter der Schule war Direktor Berndt, ihm foigte 1897 Schulrat Gugmann, der sich auch durch seine Tätigkeit auf dem Gebiete der Sprachheilkunde verdient gemacht hat; seit 1911 leitet der Schreiber dieser Zeilen die Schule. Das Gebäude in der Markusstraße genügte für die Biermillionenstadt und die gefteigerten pädagogischen Anforderungen nicht mehr; daher wurde im £ ttober 1923 die Schule in das gerade freigewordene Grundstück
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Der Schulhof der taubstummen Kinder. Albrechtstr. 26/27 verlegt, das megen seiner zentralen Lage ( wenige Minuten vom Bahnhof Friedrichstraße) auch von den Außenbezirken leicht erreichbar ist. Das Taubstummienwesen untersteht der Wchlfahrtsdeputation, die es durch ihren Ausschuß für das Taubstummen mesen" verwalten läßt.
Die Zusammenfassung der Kinder. Durch das Beses vom 7. August 1911 ist für die taubftummen Kinder die Schulpflicht vom 7. bis zum 15. Lebensjahre festgelegt und Die Sorge für den Unterricht den Kommunalverbänden übertragen. Der Kommunalverband Berlin beschult zurzeit 346 ftaubstumme
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Der Mittelweg.
Bon Sir Philip Gibbs . Bertram war erstaunt. Janet Belford in Berlin ? Was wollte sie da? ,, Na, sich die Sache mal ansehen. Vielleicht das Milieu für ihren nächsten Roman dahin verlegen. Außerdem ist da noch ein Grund.. Und dann berichtete er, als ob er von jemand anderem spräche: Ich habe sie gebeten, mich dort zu treffen. Jegt, da meine Frau tot ist, besteht ja tein Grund, weshalb sie und ich nicht zusammen in den heiligen Stand der Ehe treten sollten. Nämlich, wenn sie will. Was noch zweifelhaft ist!"
Nein, ist das ein Glück!" rief Bertram herzlich und drückte Chrifty die Hand. Aber mit entrüftetem Erstaunen fühlte er, wie fich leise, aber deutlich in ihm der Neid regte. Er neidisch auf seinen besten Freund! Unbegreiflich, und doch nicht abzuleugnen. Aber Janet war sehr gut zu ihm gewesen, und es hatte einen Augenblid gegeben, wo sie fein Herz höher schlagen gemacht hatte. Er erinnerte sich noch an ihre Worte: ,, Schade, Sie treuer Ritter, daß Sie nicht mich geheiratet haben, statt Jonce! Ich verstehe Sie beffer. Und Sie waren der Brinz meiner Träume, in den Tagen, als Sie mich in den Gärten von Kensington füßten."
Er griff wieder nach Christys Hand und drückte sie warm. ,, Grüßen Sie Janet von ganzem Herzen. Sagen Sie ihr, daß ich das Mitleid mit mir selbst endlich totgeschlagen habe. Sie wird schon verstehen, was ich meine."
„ So! Ist das so, alter Junge? Nun dann kann ich Ihnen ja auch gleich eine Einlage geben, die mir Janet für Sie überfandt hat." Und zu seinem unendlichen Erstaunen erfannte Bertram die Handschrift von Jonce, die noch damals im Unterstand von Amiens alle alten Wunden wieder aufgeriffen hatte. Jetzt war es merkwürdig still in ihm, als er ihre langen dünnen Schriftzüge fah. Er nahm den Brief mechanisch aus Christys Hand und wandte sich seinem Wagen zu, denn alle waren schon eingestiegen. Bleiben Sie gesund, Bollard!" rief Christy ihm nach, und dann sehte sich der Zug Langfam in Bewegung. Bertram öffnete den Brief. Er lautete:
Kinder. Bon den Eltern find 129 Kaufleute, Handwerker und Ge werbetreibende, 96 Arbeiter und 50 Lehrer, Beamte u. a. Rach Angabe der Eltern find taub geboren 207, später ertaubt 139. Als Ursache der Ertranfung fommen in erster Linie Gehirnhautentzün dung( 20) Scharlach( 24), Masern( 14), Ohrenentzündung( 9) und Diphtherie( 6) in Betracht. Von den Bezirksämtern find erheblich beteiligt Friedrichshain ( 56), Wedding ( 38), Reukölln( 32), Prenz louer Berg( 29), Lichtenberg ( 28), Banfom( 22), Tempelhof ( 18), Mitte( 16), Tiergarten und Schöneberg ( je 15), während die übrigen Bezirksamter Ziffern von 14( Charlottenburg ) bis 2( Zehlendorf ) tcubitumme Kinder aufweisen.- Taubgeborene Kinder, die niemals die Sprachlaute ihrer Umgebung vernehmen, tönnen sie auch nicht stumm( taubstumm. Kinder, die in den ersten Lebensjahren das nachahmen, also auch unsere Sprache nicht eilernen; fie bleiben Gehör verlieren, verlernen die bereits erlernte Sprache sehr rasch wieder und werden stumm. Nun verlangt aber auch der Geist des taubstummen Kindes, der ja in seinen Geistesanlagen und in seinem Gehirn- und Nervenmechanismus völlig gefund ist, nach Ausdruck mie das hörende Kind, es bildet sich im Berein mit seiner Umgebung eine fitbare Sprache, die Gebärde. Sie ist zwar für die erste geistige Entwicklung des taut stummen Kindes von wesentlicher Bedeutung und für den ersten einfachen Verkehr init der engen Umwelt ziemlich ausreichend, darf aber nach Umfang und Form mit unserer Sprache, an arbeitet hat, in Vergleich gestellt werden. Wenn darum die Bädagogit deren Entwicklung das Bolt, seit es finnt und sehnt, bis heute ge ihre Aufgabe am Taubstummen erfüllen und ihn in die soziale und fulturelle Gemeinschaft der Gegenwartsmenschen hineinführen will, so muß fie ihm zunächst unsere Sprache geben. In mehr als hundertjähriger Arbeit haben die deutschen Taubstummenlehrer die Lautsprodmethode des Taubstummenunterrichts, die sich jetzt die ganze Welt erobert hat, ausgebaut. humaner und erfolgreicher gestaltet und wissenschaftlich begründet. Das ganze Problem ist sehr schwierig. Der Echüler hat zwei Gebrechen, die unterrichtlicher Einwirkung stärkste Widerstände bieten: er ist tanb, fann also die Sprache nicht auf natürlichem Wege auffassen, sondern muß angeleitet werden, sie aus den Bewegungen der Lippen und der benachbarten Organteile zu erraten, und er ist stumm. Zann also seine Gedanten nicht in der unter uns Hörenden üblich gewordenen Form ausdrüden; unter Inanspruch nahme von Gelicht und Getaft müssen die Sprachlaute mit ihnen entwidelt, muß Wort für Wort, Form für Form, muß der ganze Reidtum unserer Sprache ihnen übermittelt werden; in planvoller, müh famer, anstrengender Kleinarbeit muß dem taubstummen Kinde in ben erften Schuljahren erarbeitet werden, was das hörende Kind als fertiges, verwendungsbereites Gut mt zur Schule bringt.
Die Anbildung der Sprache.
Der Sprachunterricht ist das Herz- und Zentralgebiet der Taubftummenschule, die im übrigen jämtliche Fächer, natürlich mit Aus fchluß des Gefanges, Ichtt wie die Normalschule. Die unterrichtliche Orgonisation der Städtischen Taubstummenschule ist folgende: Der Kindergarten nimmt die Kinder schon mit 5 Jahren auf, die Schule felbst ist&- bis 9stufig aufgebaut. Da in jedem Jahre mehrere Klassen aufgenommen werden, it eine Trennung nach der geistigen und sprachlichen Befähigung möglich und daher eine möglichst individuelle Behandlung gemährleistet. Die normale Belegung einer Slaffe beträgt 10. Für die Anbildung der Sprache ist die Teilnahme der Eltern von großer Bedeutung; sie werden regelmäßig zu Eltern stunden eingeladen, tennen auch sonst dem Unterrichte beiwohnen, um die sprachlichen Fortschritte ihrer Kinder fennenzulernen. Die Kinder fommen aus allen Stadtteilen mit allen möglichen Berkehrs. gelegenheiten zur Schule und erlangen bald eine hohe Sicherheit im Stadtverkehr. Bedürftige Schüler erhalten Beihilfen zum Fahrgeld, die Stadt gibt im laufenden Jahre dafür 6500 M. aus. Für aus. märtige Schüler wird das Schulgeld der höheren Schulen erhoben. Der Lehrförper besteht aus dem Direktor und 24 ordentlichen Lehrern und Lehrerinnen.
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An die Taubstummenschule schließt sich die Berufsschule für Taube, in der die Jünglinge und Mädchen soweit wie mög lich beruflich gegliedert, in Lebens- und Berufskunde und Fachzeichnen, die Mädchen auch in den hauswirtschaftlichen Fächern unter richtet werden. An der Berufsschule für Taube find auch Wahlfurfe zur Erfernung des Absehens der Sprache vom Munde und zur Er
haltung der Sprache für Damen und Herren, die im späteren Leben taub oder hochgradig schwerhörig geworden find, ferner Rufe für Sprachleidende eingerichtet. Eine kleine Monats fchrift Infere Beli", die von Eltern, Lehrern und Schülern
,, Lieber Bertram! Nach unserer Unterredung in Plumoison, als du außer dir fortitürztest, habe ich oft versucht, an dich zu schreiben. Jezt erst fann ich es. Ich bitte dich um Berzeihung, daß ich dir als Vergeltung deiner Liebe nur Schmerz bereitet habe, und ich weiß jezt erft, warum ich nicht anders fonnte, Bertram, wir beide fonnten uns nicht verstehen, denn als ich dich heiratete, war ich ein törichtes Kind, das sich selbst nicht kannte. Der, den ich immer geliebt habe, wenn auch lange Zeit, ohne es zu wissen, ist gestorben, ohne daß ich ihn wiedergesehen habe. Ich kann aber feinem anderen angehören, auch dir nicht, Bertram, selbst wenn du es noch wolltest. Das einzige, was ich noch tun kann, ist, dir deine Freiheit zurückzugeben. Ich habe die Scheidungsklage eingeleitet. Da du längere Zeit von England abwesend bist, ohne deine Adresse oder Nachricht von dir zu geben, ist die Ursache gefunden.
Ich sende diesen Brief an deine Schwefter Dorothy und hoffe, daß sie ihn dir nachfenden kann. Vielleicht bist du schon ein freier Mann, wenn du diesen Brief liest.
Berzeih mir, Bertram! Ich wünsche aufrichtig, daß du glücklich wirft und mich vergißt. Deine Jonce". Lange faß Bertram da, während er langsam durch die schneebedeckte Ebene hinfuhr. Ein eigentümlich dumpfes Gefühl hatte von ihm Befig ergriffen. Nie hatte er gedacht, noch einmal von Jonce zu hören, und jetzt fah er sie wieder in ihrer berückenden, elfenzarten Schönheit vor sich. Aber wie war das nur? Es schmerzte wohl etwas, tief in feinem Bewußt fein, aber die tobende Berzweiflung von einst fühlte er nicht. Auch er war sehend geworden, und er wußte jegt: Niemals wäre ihm Jonce eine wirkliche Gefährtin geworden, nie! Sie lebten in zu verschiedenen Welten. Früher hatte er solche Gedanken als Untreue an Jonce zurückgewiesen, jetzt fonnte er sie ruhig zu Ende denken. Die Bunde brannte nicht mehr. Er war geheilt. Unwillkürlich stand er auf, dehnte die Arme und atmete tief. Er hatte seine Jugendliebe begraben. Sie felber hatte sich von ihm losgelöst. Ihr Bild erblich in seinem Erinnern. Sie gehörte einem anderen Zeitalter an, fie war sternenweit von ihm entfernt. Er fonnte ihrer ohne Schmerz, ohne Groll, ohne Eifersucht gedenken. Auch Kenneth Murles' früher Tod tat ihm leid. Es war schwer für Jonce, für dieses holde, verwöhnte Rind eines alten Geschlechts, welches jezt
Freitag, 16. Januar 1925
der Schule und der Fortbildungsschule herausgegeben wird, will das geistige Band sein, das die Angehörigen dieser Taubstummengemeinde umschlingt. Die Schule rüftet zur Feier ihres fünfzigjährigen Bestchens und bereitet gleichzeitig eine
Kabisch
Artikulationsübung: Laut A im Wort
Ausstellung von Arbeiten Gehörloser vor, deren erste Abteilung Schülerarbeiten, beren zweite Arbeiten der Berufsschüler und deren dritte Arbeiten ermachfener Gehörloser( Handwert, Kunstgewerbe, Kunst, foziale Betätigung, Frauenberufe, Sport) umfaßt. Der Ber feffer dieses Aufsatzes hat Das Taubstummenwesen der Stadt Berlin " in einer fleinen Schrift dargestellt, die mm Berlage der Städtischen Taubstummenschule erscheint.
E. Schorsch. Direttor der Stadt. Taubftummenschule.
Flugverkehr und Flugpreise.
Nach dem Flugplan vom Januar finden modjentags regelmäßige Flüge zwischen Berlin und Leipzig , Hannover , Dresden statt. Der Abflug von Berlin nach Leipzig und Hannover erfolgt 12,15 mittags, der Abflug nach Dresden 12,30 mittags. In der Gegenrichtung wird von Dresden 8,15, von Hannover 9,30 vormittags und von Leipzig 2 Uhr nachmittags abgeflogen. Die Flugzeit beträgt nad) und von Leipzig je 1% Stunde, nach, und von Hannover je 24 Stunden und nach und von Dresden je 1 Stunde 20 Minuten. auf 40 und nach Leipzig auf 35 Goldmart festgelegt. Die Autofahrt Die Flugpreise sind nach Dresden auf 45 M., nach Hannover in Dresden zwischen Flughafen und Bismarckplatz 2, sowie in Leipzig zwischen Flugplay und Hotel Astoria ist darin eingeschlossen. An Freigepäd find 10 Kilogramm zugelaffen.
mit anderen Geistern der Vergangenheit in Vergessenheit versant.
Wieder hielt der Zug an einer fleinen Station. Es war ein im Schnee begrabenes Dorf. Bauern schaufelten den Schnee beiseite und drängten sich in die Station, um den Zug anzustarren, wurden aber von zu großer Annäherung durch Soldaten der Roten Armee, die selbst erfroren und verhungert aussahen, zurückgehalten. In anderen Stationen standen Flüchtlingszüge ohne Lokomotiven. Schnee bedeckte sie bis an die Viehkojen hinauf, in welchen ganze Familien in fürchterlicher Enge aneinandergedrängt lagen, um nur etwas Wärme zu erhalten. Es sah aus, als würden sich diese Züge niemals weiterbewegen. Die, welche starben, wurden in Gruben in der Nähe der Gleise begraben.
Quer über die öden Schneefelder fah man Züge von Menschen entlangfriechen, wie Ameisen, auch sie fuchten, dem Hungertode zu entfliehen.
Bertram trat in den Korridor hinaus, mo Nadia am Fenster stand. Diese Leute sind ein Wunder im Ertragen von Qualen aller Art", sagte sie. In jedem Dorf, durch das fie fommen, geben ihnen die anderen Hungernden noch einen Teil ihres färglichen Brotes ab, und so fristen sie ihr Leben von Ort zu Ort. Die Kräftigen unter ihnen. Die anderen bleiben am Wege liegen und sterben."
Er sprach oft und lange mit Radia auf diefer fechstägigen Reise, entweder im Korridor, oder in ihrem Abteil mit Sen beiden anderen Damen, die, wie Nadia selbst, dem alten Regime angehörten. Sie waren Hofdamen der Kaiserin gewefen. Der Oberst der ARA. hatte für den Stab Konserven aller Art mitgegeben, welche Dr. Weefes und Bertram über einer Alkoholflamme heiß machten. Es war willkommener, als das ewige talte Essen, und diente als Zeitvertreib.
in
Abends stand er oft mit Nadia im dunklen Korridor, Hand Hand, wie zwei Kinder, die sich fürchten.
Sie fprachen von dem Geheimnis des Lebens und des Todes, der Hoffnung auf Weltfrieden, der Zukunft der Länder. Und doch schienen diese Gegenstände, selbst zwischen diesen beiden jungen Menschen, die fich liebten, auf dieser Reise durch das Rußland nach dem Kriege und nach der Revo lution die einzigen, die der Erwähnung wert waren.
( Fortsegung folgt.)